# taz.de -- Europäische Flüchtlingspolitik: Das Calais-Syndrom
       
       > Gibt es in Calais nur xenophobe Wutbürger? Nicht alle Einwohner sind
       > einverstanden mit dem Bild, das von ihnen gezeichnet wird.
       
 (IMG) Bild: Calais lieben heißt den „Jungle“ schließen? Protest in der nordfranzösischen Hafenstadt
       
       CALAIS taz | Am 5. September hatte Calais genug. Gemeinsam mit Lkw-Fahrern,
       deren Job immer heikler wird durch die Hindernisse, die verzweifelte
       Flüchtlinge auf die Straßen legen, blockierten Bewohner der Stadt die
       Zufahrt zum Hafen. Erst wenn der „Jungle“, das inoffizielle Flüchtlingscamp
       in den Dünen, geräumt sei, wollten sie die Blockade aufgeben. Genau dies
       haben inzwischen die führenden Politiker in Frankreich zugesagt. Und durch
       das große Medienaufgebot hat die Welt derweil die Calaiser als xenophobe
       Wutbürger kennengelernt. Wieder einmal.
       
       Viele Menschen hier haben es satt, dass ihre Stadt zur permanenten Kulisse
       eines so unmenschlichen wie gefährlichen Flüchtlingsdramas geworden ist.
       Großbritannien, das vermeintlich gelobte Land, dessen Küste an manchen
       Tagen mit bloßem Auge erkennbar ist, wird immer unerreichbarer, jedes Jahr
       sterben Migranten beim Versuch unerkannt per Fähre oder durch den
       Kanaltunnel trotzdem dorthin zu gelangen.
       
       Dass der Jungle dabei stetig wächst, macht vielen Bewohnern von Calais
       Sorgen, so wie der Marktfrau, die an diesem Samstagmorgen auf der
       Placed’Armes im Zentrum ihr Obst anbietet und anonym bleiben will. Das
       Thema ist beladen in Calais, nachdem die Stadt in den Fokus der Identitären
       rückte und sich vor Ort zwei migrantenfeindliche Gruppen bildeten: die
       rechtsextremen Sauvons Calais (Retten wir Calais) und die selbsterklärt
       „apolitischen“ Calaisiens en Colère (Wütende Calaiser), deren gelegentliche
       Demonstrationen an Pegida erinnern.
       
       Die Marktfrau ist keine wütende Calaiserin, erst recht keine Identitäre.
       Sie ist eine Mutter, die sich Sorgen macht, wenn sie Geschichten aus dem
       Jungle hört: dass es dort Kämpfe gab zwischen Bewohnern, dass Migranten
       Lkws durch nächtliche Autobahnblockaden zu stoppen versuchen. Passiert sei
       ihr zwar noch nie etwas, doch die Stadt habe sich sehr verändert. Wobei:
       „Das Ganze ist auch übertrieben durch die Medien. Calais hier, Calais da,
       das ist eine Psychose!“
       
       Die Art, wie sich das Flüchtlingsthema in der Stadt bemerkbar macht, hat
       sich durchaus gewandelt. Jahrelang war es in der Stadt nicht zu übersehen,
       etwa wenn Migranten in einem Hof zwischen Hafen und Leuchtturm zur
       Essensausgabe gingen, sich in leer stehenden Fabriken und Gebäuden
       niederließen, die irgendwann geräumt wurden, oder wenn sie in Ermangelung
       anderer Unterkünfte auf einer Grünfläche wild kampierten.
       
       ## In der Stadt: kaum noch Flüchtlinge
       
       Seit 2015 konzentrieren die Autoritäten alle Migranten im Jungle am Rand
       eines Industriegebiets, dessen chemischer Geruchscocktail berüchtigt ist.
       In der Stadt sieht man seither kaum noch einen Flüchtling. Dafür ist Calais
       vor dem Hintergrund der europäischen Flüchtlingskrise zum symbolischen Ort
       mit rasch steigendem Bedeutungsradius geworden.
       
       Wenn vor einem Jahr die Calaisiens en Colère die „Marseillaise“ brüllend
       durch die Hauptstraße liefen und skandierten, dass Calais den Calaisern
       gehöre und die Grenze geschlossen werden müssten, dann war das
       erschreckend, blieb aber lokal begrenzt. Inzwischen überbieten sich
       französische Politiker mit Versprechen, den Jungle zu räumen und das
       Migrantendrama am Kanal zu beenden.
       
       Was natürlich Unsinn ist. Denn just dies hat man schon öfter probiert in
       den letzten Jahren, worauf sich die Szenerie kurzfristig an andere Häfen
       verlagerte, nur um wenig später nach Calais zurückzukehren. Da die
       Grenzkontrollen dank der bilateralen Verträge zwischen Paris und London auf
       französischem Boden stattfinden, wurden folglich mit britischer
       Unterstützung die Kontrollen verschärft, die Zäune hochgezogen. Zur Zeit
       wird eine vier Meter hohe Mauer gebaut. In der Stadt weiß man trotzdem:
       Solange Calais der Großbritannien am nächsten gelegene Punkt des
       europäischen Festlands ist, werden Migranten von hier aus nach England zu
       gelangen versuchen.
       
       Kein Wunder: Schon wer am Bahnhof ankommt, sieht gleich hinter den Gleisen
       den Giebel eines früheren Hotels mit der Reklameaufschrift English Spoken.
       Etwa stündlich verlässt eine Fähre den Hafen, hinüber in das Land, das man
       in Anspielung auf eine alte Feindschaft augenzwinkernd noch immer la
       perfide albion nennt. In Calais selbst kann man sich auf anglophilen Pfaden
       durch die Stadt essen und trinken, vom BistroL’Hovercraft über Le Liverpool
       hin zu Le Pub. Und in Cocquelles, einem Dorf beim Eingang zum Euro-Tunnel,
       laden Engländer den billigeren Wein des Kontinents palettenweise in die
       Kofferräume ihrer Autos.
       
       ## Plötzlich politisch
       
       Die neue symbolische Bedeutung ihrer Stadt stößt längst nicht nur auf
       Gegenliebe. „Ich finde absolut, dass Politiker wie Hollande oder Sarkozy
       unsere Stadt für ihren Wahlkampf missbrauchen“, sagt Céline Koche Roger.
       Sie ist in Calais aufgewachsen und lebt seit über 30 Jahren hier. Wie die
       Marktfrau ist auch sie eine zweifache Mutter, und besorgt – wenn auch in
       ganz anderem Sinn. „Als ich die Seite von Sauvons Calais auf Facebook sah,
       wachte ich auf. Vorher kümmerte ich mich nicht um Politik. Aber damals
       dachte ich, ich müsste etwas für meine Kinder tun, damit das nicht so
       weitergeht.“
       
       Nach der Straßenblockade im September war der Zeitpunkt gekommen. Céline
       Koche Roger und einige Freunde ärgerten sich, dass wieder das Bild des
       xenophoben Calais in die Welt transportiert würde. Weil „alle Medien“ die
       „Wir sind es satt“- Parolen wiederholten. Also verfassten sie ihren eigenen
       Facebook-Appell an die Presse und posteten ihn mit dem pittoresken Foto
       eines Sonnenuntergangs am Strand.
       
       „Liebe Medien“, heißt es dort, „Calais geht es gut, danke.“ Es folgt ein
       Aufruf, die Stadt und ihre Bewohner endlich nuancierter zu sehen. „In den
       Zeitungen bekommen wir den Eindruck, dass dies ein Kriegsgebiet sei. Manche
       Bewohner schreien immer lauter, und es gibt rassistische Äußerungen in
       sozialen Netzwerken. Ja, es gibt Probleme. Aber aus Calais eine Festung zu
       machen, ist keine Lösung.“
       
       Simples Calaisiens nennt sich die kleine Gruppe, mit der Céline Koche Roger
       zum Gegenangriff bläst. „Wir sind nicht viele, aber wir denken, das Calais
       so nicht ist. Es ist keine großartige Stadt, aber eine gute.“ Sie noch
       besser zu machen, ist Céline Koche Roger ein Anliegen. Darum arbeitet sie
       mit Bekannten an einem Konzept für ein Gemeinschaftszentrum mit Café und
       Kochgelegenheit, Kultur- und Informationsveranstaltungen, in dem alle
       willkommen sind.
       
       ## „Es ist ein Problem der Welt oder Europas“
       
       Auch das Café La Timbale ist von diesem Geist gezeichnet. Und auch dort hat
       man einen etwas weiteren Blick auf das Thema Transit-Migration: „Ich glaube
       nicht, dass es sich um ein Problem von Calais handelt“, sagt Victor Lay,
       der Barkeeper. „Es ist ein Problem der Welt oder Europas. Nur ist es eben
       so, dass Calais einfach nah an England liegt.“ Victor Lay ist 23 Jahre alt
       und hat sein ganzes bisheriges Leben in Calais verbracht. Mehr als die
       Hälfte davon haben die Transit-Migranten den Diskurs in der Stadt geprägt
       und das Bild nach außen. „Die französischen Medien transportieren das
       Klischee von den rassistischenCalaisiens“,sagt Victor. „Aber das ist nicht
       alles.“
       
       Als Kind seiner Stadt weiß der Barkeeper auch um den Kontext, in dem bei
       manchen seiner Mitbürger Xenophobie gedeiht. Die einst legendäre
       Spitzenindustrie ging den Bach herunter, die Fabriken schlossen, viele
       Menschen verloren ihre Arbeit. Die eigene Armut begünstigt das Gefühl der
       Benachteiligung; das sich gleichwohl nur so lange hält, bis man die
       Verhältnisse im Jungle mit eigenen Augen gesehen hat. Genau das aber haben
       die meisten Menschen in Calais noch nie.
       
       Victor Lay ist eine Ausnahme. Als Bassist des Calaiser Jazz-Trios De
       Saturne ist er dort sogar schon aufgetreten: „Wir haben dieses Jahr auf dem
       Festival in Glastonbury gespielt. Aber das Konzert im Jungle war unser
       Bestes jemals. Diese Gesichter im Publikum!“
       
       21 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Müller
       
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