# taz.de -- Debütalbum von Acid Arab: Bedingungslose Liebe
       
       > „Musique de France“, das großartige Debütalbum der Pariser Produzenten
       > Acid Arab, verbindet elektronische Tanzmusik mit orientalischem Folk.
       
 (IMG) Bild: Die Masterminds von Acid Arab: Guido Minisky und Hervé Carvalho
       
       Als Guido Minisky zum verabredeten Interview ans Telefon geht, brettert er
       gerade über die Autobahn. Man hört hauptsächlich Rauschen. Aber wenn das
       okay sei, könne man trotzdem versuchen, sich zu unterhalten, fragt er
       freundlich. Er ist mit seiner Band auf dem Weg in die Schweiz, dort sind
       Acid Arab mit dem Künstlerkollektiv Supermafia verabredet, um an der
       Szenografie der bevorstehenden Tour zu arbeiten.
       
       Als das Projekt Acid Arab von Guido Minisky und Hervé Carvalho 2012 ins
       Leben gerufen wurde, waren sie noch keine Band. Der Name zierte damals ihre
       Partyreihe im kleinen Pariser Club „Chez Moune“, mitten im
       Vergnügungsviertel Pigalle. Es war eher ein Test: Die beiden Franzosen, die
       sich zehn Jahre zuvor im legendären Lesbenclub „Pulp“ kennengelernt hatten,
       wollten damit die Vermählung von elektronischer Tanzmusik mit
       nordafrikanischem und nahöstlichem Folk am DJ-Pult erforschen.
       
       Nun ist ihr Debütalbum „Musique de France“ erschienen und das Duo um drei
       zusätzliche Musiker zum Bandprojekt gewachsen: den Keyboarder Kenzi
       Bourras, der Minisky und Carvalho an den Maschinen auf der Bühne begleitet,
       sowie die im Schatten stehenden Studiotüftler Pierrot Casanova und Nicolas
       Borne.
       
       Aber der Reihe nach. Die ursprüngliche Idee zum Motto kam Minisky und
       Carvalho, als sie 2012 mit DJ Gilb’R (Gründer des House-Labels Versatile)
       nach Tunesien eingeladen waren: Sie legten beim Festival „Pop in Djerba“
       auf.
       
       Ein Jahr nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali
       hatte sich das von Kamel Salih gegründete Festival auf die Fahne
       geschrieben, anspruchsvollen Pop und Rock sowie Dancefloorsound aus aller
       Welt ins Land zu holen, um so auch einen Ort der Begegnung zu schaffen
       zwischen Tunesien und dem Westen. Ein Ort jenseits der üblichen
       Tourismusziele. Die Mischung hat gestimmt.
       
       ## Tanzcrowd in Trance
       
       „Ich hatte einige orientalisch klingende Stücke mitgebracht – und im
       Pingpong mit Hervé und Gilbert ergab sich dann die Offenbarung, wie gut
       elektronische und arabische Musik harmonieren“, erinnert sich Minisky –
       nicht zuletzt begeisterte ihn, wie komplexe Rhythmen die tunesische
       Tanzcrowd in Trance versetzt hatten.
       
       „Hervé und ich waren damals auf der Suche nach einem neuen Konzept für
       unsere Pariser Clubnächte – und das Festival gab die Initialzündung zu Acid
       Arab.“ Zurück in Paris durchsuchten sie zunächst ihre eigenen
       Musiksammlungen und forschten in Plattenläden nach Künstlern, die Ähnliches
       versucht hatten, „mit der Idee, sie musikalisch zusammenzubringen“.
       
       Am Telefon bei der Autofahrt klingt Minisky müde, fast monoton, während er
       die Erfolgsstationen des Projekts aufzählt. „Die Story musste ich in
       letzter Zeit aber auch sehr, sehr oft erzählen“, entschuldigt er sich.
       Klar, Acid Arab ist zu einem unüberhörbaren Phänomen der französischen
       Poplandschaft und für Minisky und Carvalho zum Fulltime-Job geworden. Über
       den Hype der letzten Zeit staunt er selbst am meisten.
       
       ## Pariser Clubgänger standen Schlange
       
       Denn prompt zum Start von Acid Arab standen die Pariser Clubgänger Schlange
       vor „Chez Moune“, um die beiden Produzenten bei ihrer Vermengung von
       „bekannten Rhythmen mit vertrauten Klängen zu neuen Sounds“ abzufeiern.
       Schon bald haben sie die klangliche Vielfalt von Folk-Perkussion in ihre
       Drumcomputer einprogrammiert.
       
       2013 erschien dann bei Versatile die viel beachtete Kompilation
       „Collections“, zu der Minisky und Carvalho Pariser Produzenten wie etwa
       Gilb’R, I:Cube oder Pilooski eingeladen hatten, um sich mit eigenen
       acidarabischen Kreationen zu beteiligen. Danach folgten etliche Einladungen
       auf Festivals rund ums Mittelmeer.
       
       Im Vergleich zu „Collections“ ist das Album „Musique de France“ deutlich
       Pop-affiner – schon allein wegen der vielen Gesangeinlagen. Mitgewirkt
       haben unter anderen der türkische Sänger und Saz-Spieler Cem Yıldız und das
       israelische Schwesterntrio A-WA, das traditionelle Musik aus dem Jemen mit
       Elektro- und HipHop-Beats mischt, und nicht zuletzt Rachid Taha, der die
       Franzosen bereits in den Achtzigern mit den algerischen Musikrichtungen Raï
       und Chaâbi bekannt machte.
       
       ## Es geht um Liebe
       
       Wenn auch Hervé Carvalho und Guido Minisky weder Arabisch noch Türkisch
       sprechen – ihre Vorfahren stammen aus Portugal und der Ukraine –, wissen
       sie doch über den Inhalt der Tracks Bescheid: „Es geht immer um Liebe.“ Das
       bestätigt der algerische Sänger Sofiane Saidi, der „La Hafla“ (Das Fest)
       gesanglich bestimmt, in einem weiteren Telefongespräch.
       
       Im Stück führt ein junger Mann einen Fantasie-Dialog mit einer Frau, die
       ihn kaum beachtet und um deren Freiheit er sie beneidet. Er leidet, liebt
       sie aber bedingungslos. „Die Energie der Musik, die mir Acid Arab
       vorlegten, erinnerte mich auf Anhieb an meine frühen Nachtausflüge in die
       algerischen Discos, und plötzlich hatte ich dieses Bild einer Frau mit
       langen dunklen Haaren, die leidenschaftlich tanzt.“
       
       Zum ersten Mal begegneten sich Acid Arab und Saidi auf La Réunion. „Ich war
       zufällig da und sah, dass sie einen Auftritt beim Festival Les
       Électropicales hatten. Da ich ihren neuen Sound schon eine Weile auf dem
       Radar hatte, habe ich sie einfach besucht.“
       
       Anfang der Achtziger, erklärt der Musiker, als der Raï-Sound erstmals
       Frankreich eroberte, begeisterte er sowohl die maghrebinische Diaspora als
       auch die Pariser Clubszene. Mit Künstlern wie Cheb Khaled erreichte er dann
       sogar das breite Publikum. „Das war zunächst sehr spannend, doch schon bald
       wurde es zu kommerziell und lieblos vermarktet: Unter dem Prädikat Raï
       wurde am Ende sogar türkische Musik verkauft.“
       
       ## Geschichte neu schreiben
       
       Nach einer langen Durststrecke komme die Musik nun endlich durch Künstler
       wieder, die noch nicht mal im Maghreb geboren wurden. Acid Arab würde dabei
       alles richtig machen: „Die Jungs sind vernarrt in die Musik, sie gehen
       respektvoll mit ihr um und sind bedacht auf jedes kleinste Detail.“ Dabei
       würden sie einen relativ naiven Hang zum Vintage pflegen, was er persönlich
       beruhigend finde. „Und trotzdem habe ich den Eindruck, inmitten einer Zeit
       zu leben, in der Geschichte noch einmal neu geschrieben wird.“
       
       Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Europa und im Nahost – Rassismus,
       Hass, Terror – kommt solch eine positive Einschätzung ziemlich unerwartet.
       „Je enger zugeschnürt wird, desto kräftiger blüht die Kreativität auf“,
       weiß Saidi.
       
       Genauso wie Saidi ignoriert auch Minisky die düsteren Seiten der Gegenwart
       nicht. „Wir alle sind nicht unpolitisch. Aber wir stehen jenseits, drüber.
       Wichtiger als alles andere ist uns der kreative Prozess“ – Brücken zwischen
       den Kulturen zu bauen und über die aktuellen Herausforderungen
       hinauszuwachsen. „Musique de France“, der Albumtitel, klingt fast schon wie
       ein Statement. „Das Album ist das Erzeugnis des Alltags im gegenwärtigen
       Frankreich“, meint Minisky. „Es ist ein Querschnitt der Musikstile, die man
       hier hört, wenn man ein offenes Ohr hat. Der Sound einer Geschichte, die
       eng mit der Historie der arabischen und afrikanischen Welt verbunden ist.“
       
       28 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Elise Graton
       
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