# taz.de -- Zwangsrückführung ohne gültige Papiere: Die Zukunft der Abschiebungen
       
       > Beliebige Papiere nach Bedarf: Immer öfter schiebt die EU
       > Ausreiseverpflichtete aus Afrika in ein anderes als ihr Herkunftsland ab.
       
 (IMG) Bild: Wohin der Flug geht, entscheidet im Zweifel die Laune eines Beamten
       
       BERLIN/FREETOWN taz | Sie klopften um drei Uhr früh an seiner Tür, es war
       ein Dienstag im Oktober 2013. Mit zwei Mannschaftswagen waren die
       Polizisten zur Wohnung von Joseph Koroma in der Heilbronner Straße 2 in
       Waldheim gekommen. Er werde nun nach Nigeria abgeschoben, sagte einer der
       Beamten. Er möge seinen Koffer packen. Seit 2006 lebt der abgelehnte
       Asylsuchende in Deutschland. In Nigeria war er noch nie.
       
       Er geriet in Panik, „Ich war außer mir“, sagt er über den Tag. Er solle
       sich beruhigen, sagen die Polizisten. Die Sachen packen, die er am
       dringendsten brauche. „Ich kann nicht nach Nigeria. Ich komme aus Sierra
       Leone,“ sagte Koroma. Sie hätten ihre Anweisungen, sagten die Beamten.
       Koroma muss alles zurücklassen, was nicht in seinen Rucksack passt, die
       Polizisten bringen ihn zur Ausländerbehörde. Drei Stunden wird er dort
       festgehalten, seine deutschen Papiere beschlagnahmt. Sein Anwalt geht nicht
       ans Telefon.
       
       Koroma sieht vom Rücksitz eines Streifenwagens, wie die Sonne aufgeht. Um
       neun Uhr kommt er am Frankfurter Großflughafen an. Als sein Anwalt
       schließlich das Telefon abhebt, sagt er ihm, dass die Botschaft von Nigeria
       für Koroma, der keinen Pass besitzt, ein Reisepapier ausgestellt hatte.
       
       Diese Geschichte handelt von den Mitteln, zu denen Behörden bisweilen
       greifen. Sie handelt von zwei Männern, bei denen sie nicht hinnehmen
       wollten, dass sie sie nicht aus dem Land entfernen konnten. Sie handelt von
       der Vergangenheit und von der Zukunft der Abschiebung.
       
       ## Aus dem Bürgerkrieg gekommen
       
       Koroma war einer von 33.003 Menschen, die das Bundesinnenministerium 2012
       bundesweit als „unmittelbar ausreisepflichtig“ registriert hatte. Doch nur
       rund jeder Sechste von ihnen konnte in jenen Jahren tatsächlich abgeschoben
       werden. Das beklagte die „AG Rück“, eine mit Abschiebungen befasste
       Arbeitsgruppe von Bund und Ländern. Sie listete 25 Gründe auf, warum
       Abschiebungen so schwierig waren. Auf Platz eins der Liste:
       „Pass(ersatzpapier)beschaffung“. Auf Platz zwei: „Kooperationsverhalten der
       Herkunftsstaaten“. So, wie bei Joseph Koroma.
       
       Im Mai 2006 erreicht er Deutschland, 42 Jahre ist er da alt. Von 1991 bis
       2002 herrschte in Sierra Leone Bürgerkrieg. Bis zu 300.000 Menschen sollen
       getötet worden sein, 2,6 Millionen vertrieben. Doch als Koroma in
       Deutschland ankommt, ist der Krieg vorbei. Nach nur fünf Monaten wird sein
       Asylantrag abgelehnt, 2008 wird die Entscheidung rechtskräftig. Das
       Regierungspräsidium Karlsruhe, Abteilung acht – Ausländer – weist ihn aus.
       Aber Joseph Koroma hat keinen Pass.
       
       2006 wurde bekannt, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sich
       wütend bei mehreren Diplomaten beklagt hatte, weil 29 Botschaften, die
       Steinmeiers Ministerium auf einer geheimen „Problemstaatenliste“ führte,
       bei Abschiebungen Schwierigkeiten machten. Auf dieser Liste: Sierra Leone.
       
       ## Integriert
       
       Joseph Koromas Leidenschaft ist Tischtennis. Als kleiner Junge fing er
       damit an, als junger Mann war er ein „Star“, sagt Koroma, der heute im
       erste Stock eines Hauses in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone lebt.
       Wände und Boden sind unverputzt, staubig, das Dach mit Hölzern abgestützt,
       das Zimmer dunkel, auf dem Boden steht ein großer Topf auf glimmenden
       Holzscheiten.
       
       In Sierra Leones aufstrebender Tischtennis-Szene, später wurde er gar
       Nationaltrainer. In Kornwestheim suchte Koroma im Internet nach einem Club
       und fand den „SV Salamander Kornwestheim 1894 e.V.“ . Das habe „sein Leben
       stärker verändert, als ich auszudrücken vermag“, sagt Koroma. Er ist ein
       hochgewachsener Mann mit Glatze, ruhige Stimme, sein Englisch stark
       westafrikanisch gefärbt.
       
       Die Stuttgarter Zeitung schreibt Artikel darüber, wie er seine Mannschaft
       gegen Spieler aus Steinheim, Kleinsachsenheim und Bietigheim-Bissingen in
       Führung brachte. „Sie waren meine besten Freunde, es war mir eine Ehre,
       dass ich mich mit ihnen messen durfte.“ Koroma holt ein gerahmtes Foto
       seiner Mannschaft, er zeigt es, betrachtet es selbst, legt es in seinen
       Schoß, bevor er weiterspricht. „Wenn du Asyl suchst, erlauben sie dir
       nicht, zu arbeiten, aber der Sponsor dieses Clubs“, die
       Salamander-Schuhfabrik, „ging sogar zur Ausländerbehörde, um zu fragen, ob
       er mich beschäftigen dürfte.“ Die Behörde lehnte allerdings ab. Der Club
       bezahlte die Schulgebühren für Koromas Sohn in Freetown. „Wenn ich ein
       Problem hatte, halfen sie mir ohne jedes Zögern.“ Sechs Saisons lang
       spielte Josef für den Verein.
       
       ## Bockige Botschaften
       
       Das Regierungspräsidium Karlsruhe lässt ihn 2011 bei der Botschaft von
       Sierra Leone vorführen. Einen Pass wollte er nicht und er bekam ihn auch
       nicht. Die AG Rück hat eine Liste gemacht, warum Abschiebungen so oft an
       den Botschaften scheitern. Manche geben die Pässe nur her, wenn der
       Betreffende einwilligt. Koromo wollte nicht. Sie würden ihre Bürger vor den
       deutschen Behörde schützen, schreibt die AG Rück, dazu komme Korruption,
       Willkür, ein fehlendes „politisches Interesse an Rückführungen“, manche
       Länder wollten Deutschland gar Zugeständnisse oder Geld abpressen.
       
       Um die bockigen Botschaften zu umgehen, war die Bundespolizei in den Jahren
       zuvor mehrfach auf die Idee gekommen, Beamte aus westafrikanischen Staaten
       extra einfliegen zu lassen. 2008 etwa kamen solche Beamte aus Freetown nach
       Hamburg. Die Süddeutsche Zeitung fand später heraus, dass diese 250 Euro
       pro Abschiebepapier, eine „Tagespauschale“ von 200 Euro plus Spesen
       bekamen; die Bundespolizei lud sie zum HSV-Spiel ein und ließ sogar für
       63,50 Euro bei einem Schlüsseldienst den sierra-leonischen Dienststempel
       der Beamten anfertigen, die ohne das Hoheitszeichen angereist waren.
       
       Anders als die Botschaft stellte diese „Delegation“ zwei Dritteln aller
       abgelehnten Asylbewerber, die die Bundespolizei ihnen vorführte, ein
       Abschiebepapier aus. Für Ausländerbehörde und Bundespolizei ein
       Bombenerfolg, auf einen Schlag konnten sie dutzende Altfälle abschieben. In
       den Medien und vor Gericht machte sich die Sache hingegen gar nicht gut. Es
       roch zu sehr nach Korruption. Nach einer Weile stellte die Bundespolizei
       die Praxis ein.
       
       ## Afrika ist groß
       
       Auch das Regierungspräsidium in Karlsruhe konnte den „unmittelbar
       ausreisepflichtigen“ Joseph Koroma nicht abschieben, weil es keinen Pass
       für ihn hatte. Aber die Beamten lassen sich nicht entmutigen. Koroma kommt
       aus Afrika. Und das ist schließlich groß. Es besteht nicht nur aus Sierra
       Leone.
       
       Am Morgen des 10. April 2012 holen sie Joseph Koroma in seiner Wohnung ab
       und bringen ihn nach Karlsruhe. Dort wartet eine so genannte Delegation der
       nigerianischen Botschaft in Berlin. Sie soll prüfen, ob es nicht möglich
       sei, dass Joseph Koroma aus Nigeria stamme. Koroma sagte, er werde klagen,
       wenn er zum Nigerianer gemacht würde. Die Botschaftsleute schickte ihn und
       die Beamten weg. Die Ausländerbehörde aber ließ sich nicht beirren. Am 25.
       Juni 2013 holte sie Koroma erneut in seiner Wohnung ab, brachte ihn wieder
       nach Karlsruhe. Dieselbe „Delegation“ der Botschaft aus Berlin war da.
       Dieses Mal befanden sie: Koroma sei Nigerianer.
       
       So sitzt er fünf Monate später bei der Bundespolizei am Flughafen
       Frankfurt/Main und wartet auf den Einstieg ins Abschiebeflugzeug. Sein
       Telefon darf er behalten. „Mein Anwalt sagte, er würde jetzt Briefe an das
       Gericht und die Ausländerbehörde schreiben“, sagt Koroma. „Das war das
       letzte Mal, dass wir sprachen.“ Um 11:10 Uhr startete der Lufthansa Flug LH
       568 nach Lagos/Nigeria. An Bord: Joseph Koroma.
       
       ## Reisegeld von Freunden in Deutschland
       
       In Lagos bringen Polizisten ihn zu Beamten der Einwanderungsbehörde NIS.
       Koroma sagt ihnen, dass er kein Nigerianer sei, niemanden im Land kannte
       und nicht wisse, wohin. Bald darauf meldet sich bei den Beamten ein Mann
       aus Togo, der in einem Vorort von Lagos lebt. Er wolle Koroma abholen. Es
       ist der Bruder eines Freundes von Koroma aus Kornwestheim. Dort hatte sich
       im Laufe des Tages herumgesprochen, was geschehen war. Der Freund hatte
       seinen Bruder gebeten, Koroma bei sich aufzunehmen.
       
       Einen Monat bleibt Koroma bei dem Mann, die Wohnung verlässt er kaum. Die
       meiste Zeit sitzt er vor dem Computer, schreibt Mails, telefoniert, mit
       seiner Familie in Sierra Leone, mit seinen Tischtennis-Kumpeln in
       Kornwestheim. Nach Freetown sind es von Lagos 2.500 Kilometer, der Bus
       fährt durch das Gebiet von Rebellenarmeen. Der Flug aber kostet mehrere
       hundert Euro und Koroma hat nichts. Einen Monat später kommt für ihn Geld
       bei Western Union an. Seine Freunde in Kornwestheim hatten es gesammelt.
       
       „Joseph ist kein nigerianischer Mann oder ein böser Mann. Aber wir haben
       uns sehr geschämt, was mit ihm geschehen ist“, sagte Mariama, seine Frau.
       Als Koroma im November 2013 in Freetown aus dem Flugzeug steigt, ist er
       seinen Freunden in Deutschland dankbar, dass sie ihn zu seiner Familie
       kommen ließen. Aber es war nicht mehr das Land, das er sieben Jahre zuvor
       verlassen hatte. Damals arbeitete Joseph in einem kleinen Bergwerk im Osten
       des Landes. Was er sparen konnte, investierte die Familie in seine Reise
       nach Europa. Nun suchte er nach fester Arbeit, doch er fand keine. Bald
       darauf bricht die Ebola-Seuche aus. Von der Epidemie bleibt seine Familie
       verschont, von der anschließenden Wirtschaftskrise nicht. Das Geld, das
       seine Freunde gesammelt hatten, reicht nicht lang für die kleine Wohnung.
       
       ## Tischtennis und Lebenshilfe
       
       Das Verhältnis zur Verwandtschaft habe sich „völlig verändert“, nachdem er
       zurückgekehrt war, sagt Mariama. „Wenn du draußen in der Welt warst und
       abgeschoben wirst, dann ist das eine Schande. Sie verachten dich, statt dir
       eine helfende Hand zu reichen.“ Die Leute würden sagen: „‚Dieser Mann hat
       sich keine Mühe gegeben, als er in Europa war.‘ Aber sie verstehen nicht,
       wie die Dinge dort funktionieren.“
       
       Koromo ist arbeitslos, der Familie droht die Räumung Ihr Sohn Emmanuel ist
       17 Jahre alt. „Es ist ein Geschenk Gottes, dass er klug genug ist, um im
       nächsten Jahr an die Universität zu gehen“, sagt Mariama. Aber daraus wird
       wohl nichts. Die Aufnahmeprüfung kostet fast 200 Dollar, in Sierra Leone
       liegt Durchschnittslohn bei unter zwei Dollar pro Tag. Es gibt niemanden,
       der den Koromas helfen würde.
       
       So verbringt der Sohn die Zeit genauso wie sein Vater: Mit Tischtennis.
       Josef verdient sich etwas Geld damit, Jugend- und Nationalmannschaft zu
       trainieren. Bald will er mit seinem Sohn ein Trainingslager für Jugendliche
       veranstalten. Sie sollen Möglichkeiten haben, die er selbst nicht hatte.
       „Wenn meine Freunde in Deutschland mich etwas lehrten, dann dass man den
       Menschen immer helfen soll, wenn man kann“, sagte Joseph. „So funktioniert
       die Welt besser.“
       
       ## Geld für Abschiebepapiere
       
       Ein Mann, den Deutschland in ein Land abschiebt, aus dem er nicht kommt.
       Joseph Koroma ist nicht der einzige Fall dieser Art. Aber es ist einer der
       wenigen, die dokumentiert sind. Dafür sorgte der aus Nigeria stammende
       Aktivist Rex Osa aus Stuttgart. Er reiste Koroma kurz nach dessen
       Abschiebung bis nach Sierra Leone hinterher, sammelte seine Aussage und die
       ähnlicher Fälle, in denen abgeschobene Flüchtlinge plötzlich zu Nigerianern
       wurden.
       
       Die Botschaft von Nigeria in Berlin hatte offizielle Gebühren festgelegt:
       250 Euro sollten Ausländerbehörden pro Anhörung seit 2005 bezahlen. Doch es
       stand der Verdacht im Raum, dass mit den Abschiebepapieren ein Geschäft
       gemacht wird. Die Kritik wuchs, auch hier roch es nach Korruption. 2011
       schafft die Botschaft die Gebühren deshalb offiziell ab. Der Aktivist Osa
       aber ist sicher: Die Botschaftsmitarbeiter haben die Hand aufgehalten, und
       zwar im Fall von Koroma doppelt. Deswegen hätten sie sich auch zweimal nach
       Karlsruhe einladen lassen. „Das ist ein absolut korruptes System. Die
       machen ein Geschäft mit den Abschiebungen.“
       
       2015 fragte der Berliner Journalist Daniel Mützel bei der für die
       Abschiebung von Koromoa zuständigen Bundespolizei nach, ob das wahr sein
       kann. Ob die Bundespolizei „Anreize“ geboten habe, damit Koroma und andere
       zum Nigerianer gemacht wurden, um sie abschieben zu können. Die Antwort der
       Bundespolizeidirektion in Potsdam: „Seitens der Bundespolizei werden keine
       Anreize geboten. Hinsichtlich der Motivation der Botschaft kann von hier
       keine Aussage getroffen werden.“
       
       ## Eine Tortur
       
       Hat Koroma nun die Wahrheit gesagt? Stammt er tatsächlich aus Sierra Leone?
       Es sieht so aus. Die Behörden in Freetown jedenfalls stellen ihm am 6.
       November 2013, kurz nach seiner Ankunft, einen Pass mit der Nummer E0143344
       aus, er liegt der taz vor. Darin steht, dass er am 7. Dezember 1964 in
       Freetown geboren wurde, wie er es bei den Behörden in Deutschland angab.
       Als der Aktivist Osa ihn 2014 in Freetown besuchte, trifft er ihn bei
       seiner Familie an, ebenso wie die taz im November 2016.
       
       Dass Koroma und eine Reihe weiterer Abgeschobener in Nigeria landeten, dazu
       ist es gekommen, weil viele Konsulate nicht mit den deutschen
       Ausländerbehörden zusammenarbeiten und ein anderes dafür schon. Warum auch
       immer. Es ist eine zweifelhafte Vorgehensweise, teuer, mühsam, langwierig.
       Für den Betroffenen eine Tortur.
       
       Das war die Vergangenheit. Denn wie es aussieht, sind die Ausländerbehörden
       auf solche Zusammenarbeit bald nicht mehr angewiesen. Die Zukunft der
       Abschiebung könnte eine andere sein.
       
       Sie könnten es bald alle so machen wie Arne Sahlstedt, Inspektor bei der
       Polizei in Gävle, Mittelschweden, 70.000 Einwohner, zwei Autostunden
       nördlich von Stockholm. Auch Sahlstedt musste einen Mann abschieben, der
       keinen Pass hatte. Sein Name ist Fulani Camara, 29 Jahre alt, aus Mali,
       Waise.
       
       ## Zugewiesene Nationalität
       
       Die Ausländerbehörde von Gävle hatte Camara ausgewiesen, nachdem dessen
       Asylantrag abgelehnt worden war. So wie es in Schwaben mit Joseph Koroma
       geschah. Auch Camara reiste nicht aus, auch die Botschaft von Mali in
       Stockholm stellte keinen Pass für ihn aus. Warum nicht, das will die
       Polizei in Gävle auf taz-Anfrage nicht sagen. „Datenschutz“, heißt es.
       Wahrscheinlich steht auch Mali auf der „Problemstaatenliste“.
       
       Was Menschen wie Sahlstedt in solchen Fällen tun sollen, dafür gibt es seit
       zwei Jahren in Schweden einen Erlass. Er trägt die Bezeichnung RPSFS 2014:8
       FAP 638-1 und darin steht, dass Sahlstedt auch selbst ein Reisepapier
       ausstellen kann, wenn die Botschaft das nicht tut. Es ist ein einfaches
       DIN-A4-Blatt, oben ist die Flagge der EU gedruckt, Sahlstedt muss nur den
       Namen, die Körpergröße, die schwedische Registernummer, das Geburtsdatum
       und die „vermutete Nationalität“ eintragen. Im Fall von Camara trug
       Sahlstedt „Mali“ sein. Am 24. Oktober diesen Jahres stempelte und
       unterschrieb Sahlstedt das Papier. Drei Tage später saß Fulani Camara im
       Flugzeug.
       
       An diesem Tag klingelte in Malis Hauptstadt Bamako das Handy von Ousmane
       Diarra. Er ist Aktivist der Malischen Vereinigung der Abgeschobenen (AME).
       Seit Jahren fährt er zum Flughafen, wenn um 19:55 Uhr der einzige
       Direktflug aus Paris ankommt und darin Menschen sitzen, die am Morgen des
       Tages irgendwo in Europa von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt wurden,
       weil sie ihr Bleiberecht verloren hatten. Die meisten wissen nicht wohin,
       die wenigsten haben Geld, und so sind die Leute am Flughafen froh, wenn die
       AME sich kümmert. Deshalb rufen sie ihn an, wenn wieder Abgeschobene aus
       dem Flugzeug steigen.
       
       Diarra wartet dann vor dem Büro der Flughafenpolizei, dann nimmt er sie mit
       in das Büro der AME. Ein Platz zum Schlafen für die erste Nacht, ein Essen,
       viel mehr kann Diarra den Leuten nicht bieten. Jedes Mal aber befragt er
       sie über die Umstände der Abschiebung. Tausende solcher Geschichten dürfte
       Diarra mittlerweile gehört haben. Aber Camaras Fall war besonders.
       
       Denn das Blatt Papier mit der EU-Fahne, dass der schwedische
       Polizeiinspektor Sahlstedt unterschrieben hatte – offiziell erkennen
       malische Behörden es gar nicht an. Schon 1994 hatte die EU eine
       „Empfehlung“ für die Verwendung eines solchen Abschiebepapiers
       ausgesprochen. Das Problem der unkooperativen Botschaften ist alt. Doch
       bislang weigerten sich – mit Ausnahme des Inselstaates Kap Verden –
       sämtliche Staaten Afrikas, offiziell diese Papiere zu akzeptieren. Zum
       einen würde dies innenpolitisch wie Verrat am eigenen Volk aufgefasst. Zum
       anderen verlieren die Botschaften so, je nach Lesart, die Möglichkeit zu
       prüfen, ob jemand tatsächlich Bürger des jeweiligen Landes ist – oder auch
       die Hand aufzuhalten, um mit den Abschiebungen etwas nebenher zu verdienen.
       Inoffiziell aber gab es in der Vergangenheit Einzelfälle, in denen diese
       „EU Laissez Passers“ zur Anwendung kamen.
       
       ## Migration als Gewinn
       
       Diarra bat Fulani Camara, einige Tage zu bleiben. Am 5. November diesen
       Jahres feierte die AME ihren 20. Geburtstag. Sie hatte für diesen Tag das
       Nationalmuseum von Bamako, zwischen dem Fußballstadion und dem Rathaus
       gemietet, es war für sie ein wichtiger Tag. Mali ist ein Land dessen
       Bewohner traditionell zum Arbeiten anderswo hin gehen, die meisten in
       andere Staaten Westafrikas, manche nach Europa. Seit langem hat das Land
       deshalb ein eigenes Ministerium für die Malier im Ausland. Und seit es das
       gibt, steht es unter Druck: Vor allem Frankreich will viele Malier
       abschieben. Die Regierung hält davon nicht viel.
       
       In einem internen Strategiepapier hat die EU-Kommission im Januar 2016 die
       Lage so beschrieben: Die Ansichten zur Migration zwischen der EU und Mali
       „fallen nicht zusammen“. Migration gelte dort „kulturell als
       Erfolgsmodell“, die „wirtschaftliche Bedeutung von Überweisungen ist
       berücksichtigen“. Malis Regierung betrachte sogar die irreguläre Migration
       als „Ressource“. Und sei deshalb gegen ein Rückübernahmeabkommen mit der
       EU.
       
       Zum ihrem Geburtstag hatte die AME den hohen Beamten Broulaye Keïta
       eingeladen, er trägt den Titel „Berater des Ministers“. Sie wollte mit ihm
       darüber sprechen, wie die Regierung mit dem wachsenden Druck aus Europa
       umgehe. Sie wollten wissen, wie sie zu den Abschiebeabkommen stehe, für die
       die EU Staaten wie Mali gerade Hunderte Millionen Euro anbietet. Und in
       denen stehen soll, dass Europa künftig selbst Abschiebepapiere ausstellen
       kann.
       
       Bei der Feier anwesend war der Filmemacher Hans-Georg Eberl aus Wien. Er
       berichtet, dass Keïta sagte, dass die Regierung an ihrer Linie festhalte.
       Ohne malischen Pass keine Abschiebung nach Mai. Anderes werde es nicht
       geben. Diarra hatte Camaras Zettel extra gescannt, nun warf er das Bild des
       Zettels von den schwedischen Behörden vor den versammelten Gästen mit einem
       Projektor an die Leinwand. Er wisse davon nichts, sagte Keïta. Das „Haute
       Conseil“, der Hohe Rat seines Ministeriums, werde eine Untersuchung in der
       Sache einleiten.
       
       ## Einen Stimmungswandel kaufen
       
       Keïta dürfte die Unwahrheit gesagt haben. Nur drei Tage nach der Feier
       landet eine Delegation der EU in Bamako: Italiens Außenminister und
       künftiger Regierungschef Paolo Gentolini, der Staatsekretär Dominico
       Manzione und der EU-Kommissionsvertreter Franc Lucani. Sie trafen den
       Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita. „Der Austausch konzentrierte sich in
       erster Linie auf Fragen der Migration“, heißt es bei der EU.
       
       2004 wurden 5.495 Malier aufgefordert, die EU zu verlassen, 610 wurden
       abgeschoben – eine Rate von 11,1 Prozent. Seit dem Gipfel von Afrikanischer
       Union und EU im November 2015 in Valletta hat die Steigerung dieser Quote
       für die EU höchste Priorität. Allein Mali bot sie für's erste 145 Millionen
       Euro und für die nächsten Jahre wohl noch mehr – wenn es „konkrete und
       messbare Ergebnisse bei der zügigen operativen Rückführung irregulärer
       Migranten“ gebe, wie es in einem Ratspapier heißt.
       
       Auch mit Senegal, Nigeria, Niger und Äthiopien verhandelt die EU seit
       Monaten über solche Abkommen. Es wäre das Ende der Sorgen der AG Rück. Was
       mit Joseph Koroma geschah, kann dann jedem Afrikaner blühen. Länder wie
       Deutschland oder Schweden sind nicht mehr auf die unkalkulierbaren, teils
       korrupten Botschaften angewiesen. Sie können im Prinzip jeden Flüchtling
       dahin abschieben, wo die Papiere anerkannt werden – egal, woher die Person
       tatsächlich stammt.
       
       Welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein solches Papier ausgestellt
       werden kann, das verrät der zuständige Europäische Auswärtige Dienst der
       EU-Kommission auf Anfrage nicht. Die Behörden dürften recht freie Hand
       haben. So könnte es noch viele Menschen wie Joseph Koroma geben, bei denen
       die Polizei an der Tür klopft, um sie in ein fremdes Land zu bringen.
       
       Mitarbeit: Daniel Mützel (Berlin), Reinhard Wolff (Stockholm), Hans-Georg
       Eberl (Bamako)
       
       15 Dec 2016
       
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 (DIR) EU-Gipfel zu Flüchtlingen: Mauer fürs Mittelmeer
       
       Die EU-Staatschefs beraten über Wege, Flüchtlinge schon in Afrika
       abzuwehren. Legale Alternativen stehen nicht auf der Agenda.
       
 (DIR) Straffällige Afghanen sollen gehen: Abschiebungen spalten Rot und Grün
       
       Seit Wochen sucht die Rot-Grün in Hamburg nach einer Haltung zur
       Abschiebung afghanischer Flüchtlinge. Jetzt scheint ein Kompromiss in
       Sicht.
       
 (DIR) Aus der EU abgeschobene Asylbewerber: Mali lehnt Rückführungen ab
       
       EU-Staaten versuchen, abgelehnte Asylbewerber auch ohne gültige Papiere
       abzuschieben. Mali hat nun zwei Menschen direkt zurück nach Frankreich
       geschickt.
       
 (DIR) Arbeitsplätze für Flüchtlinge: Es dauert
       
       Hunderttausende Flüchtlinge schaffen es hierzulande nicht, einen Fuß in den
       Arbeitsmarkt zu kriegen. Dafür haben viele Deutsche einen neuen Job durch
       Flüchtlinge.
       
 (DIR) Europas Grenzen in Afrika: Über den Zaun hinaus
       
       Die EU baut Frontex zu einer Full-Service-Agentur um. Dabei arbeitet sie
       mit zwielichtigen Regierungen zusammen.
       
 (DIR) Europäische Migrationspolitik in Afrika: Stillgestanden, Flüchtling! Kehrt um!
       
       Europa will mit mehr Hilfe in Afrika „Fluchtursachen bekämpfen“. Ein
       zynisches Spiel: Es wird bezahlt, wenn Menschen festgehalten werden.
       
 (DIR) Kommentar Fluchtgründe in Afrika: Die Hoffnung stirbt zuletzt
       
       Unser Autor stammt aus Äthiopien. Seit Jahren lebt er im Exil. Er glaubt,
       dass die Repression Menschen außer Landes treibt.
       
 (DIR) ECOWAS-Beamter über EU und Migration: „Man kriminalisiert Migration“
       
       Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft bleibt bei Verhandlungen
       zwischen EU und regionalen Staaten zur Migrationskontrolle außen vor,
       beklagt Sanoh N’Fally.