# taz.de -- Jüdischer Friedhof Altona soll Weltkulturerbe werden: Comics auf den Gräbern
       
       > Der jüdische Friedhof Altona birgt portugiesische und
       > osteuropäisch-deutsche Grabsteine. Die erzählen viel über Flucht, Streit
       > und Freizügigkeit.
       
 (IMG) Bild: Aschkenasische „Rabbinerreihe“: Einstige Streithähne liegen auf dem Friedhof nebeneinander.
       
       HAMBURG taz | Er wusste alles über die Pest. Schrieb über Musiktherapie und
       Medizinethik, war versiert im Kaiserschnitt: Extrem gefragt war der 1592
       aus Portugal nach Hamburg geflohene jüdische Arzt Rodrigo de Castro, der
       später sogar Leibarzt des dänischen Königs wurde. Er starb 1627 und
       „bewohnt“ eins von etlichen de Castro-Gräbern auf dem jüdischen Friedhof
       Altona, den Hamburg am 1. Februar 2017 auf die internationale
       Vorschlagsliste fürs Unesco-Welterbe setzt.
       
       Auch Rodrigo de Castros Sohn Benedictus wurde renommierter Mediziner und
       Leibarzt der Königin Christina von Schweden. Rund 400 Jahre lang brachte
       die Familie Ärzte hervor, profitierend von jenem Mix aus ibero-arabischer
       und jüdischer Medizin, die die portugiesischen Juden auf der einst
       maurischen, religiös toleranten iberischen Halbinsel kennengelernt hatten.
       
       Ihre Methoden waren für Hamburg revolutionär. In den Genuss dieses
       Innovationsschubs kamen die Hanseaten durch einen zynischen Zufall der
       Weltgeschichte: Als Opfer rassistischer Verfolgung kamen die de Castros,
       Teixeiras, Curiels, Fidanques und weitere portugiesische, sephardische
       Juden im 16. und 17. Jahrhundert nach Hamburg.
       
       Sie flohen vor der Inquisition, die erst Spanien, dann das spanisch
       besetzte Portugal erreichte. Dort waren zwar viele Familien schon vor
       Generationen, seit man sie im 14. Jahrhundert für den Ausbruch der Pest
       verantwortlich gemacht hatte, zu Christen konvertiert oder wurden
       zwangsgetauft. Dennoch blieben sie der Mehrheitsgesellschaft, den
       Kardinälen und Königen suspekt, und seit 1478 brannten Scheiterhaufen in
       Spanien, später auch in Portugal. Brutal tobte die Inquisition – auch gegen
       getaufte Juden, die Conversos bzw. Maranos. „Diese Inquisition war eine
       rassistische“, sagt Michael Studemund-Halévy vom Hamburger Institut für die
       Geschichte der deutschen Juden. Er erforscht den jüdischen Friedhof Altona
       seit 30 Jahren und hat dessen Aufnahme in die Liste zum Welterbe
       systematisch mit vorbereitet.
       
       Die portugiesischen Flüchtlinge, mit denen alles anfing, hatten Glück im
       Unglück, denn sie waren für die Kaufmannsstadt Hamburg und ihren Handel mit
       der Neuen Welt attraktiv: Neben Ärzten kamen Großkaufleute und Gelehrte.
       Und was intellektuell-finanzieller Aderlass für Spanien und Portugal war,
       geriet Hamburg zum Vorteil. Nur zu willig nahm der Senat – die Kirche
       anfangs weniger, man arrangierte sich aber dann – die Neuankömmlinge auf,
       bot ihnen Aufenthaltsrecht, weitgehende Handelsfreiheit, profitierte von
       ihren internationalen Kontakten.
       
       Allerdings – eins erlaubte Hamburg ihnen nicht: den Erwerb eines
       Grundstücks auf Ewigkeit für einen Friedhof. Darauf bestanden die
       portugiesischen Juden. Denn diese Zwangsgetauften waren zwar erst auf der
       Flucht nach Amsterdam und Hamburg wieder jüdisch geworden. Aber daran, dass
       die Gebeine bis zur Auferstehung unberührt im Grab bleiben mussten,
       glaubten sie rückhaltlos. So wichen sie zwecks Friedhofskaufs also ins
       tolerantere, damals von Kopenhagen aus verwaltete Altona aus.
       
       Drei Kaufleute erwarben dort 1611 ein Stück Land „auf Ewigkeit“ auf dem
       Heuberg, der heutigen Königstraße. Die Begräbnisse der Portugiesen mussten
       aber gesang- und geräuschlos stattfinden, damit sich die antijüdische
       lutheranische Orthodoxie nicht gestört fühlte. Bald danach wurde der
       Friedhof zu klein, die Gemeinde kaufte mehrfach neuen Grund dazu. Wenig
       später zogen Aschkenasen – vor Pogromen geflohene deutsche und
       osteuropäische Juden – nach, richteten das Nachbargrundstück als Friedhof
       her.
       
       Obwohl anfangs durch Mauer und Bäume getrennt, war und ist diese
       Konstellation selten. Denn Aschkenasen und Sepharden waren sich nicht grün:
       wohlhabend, gebildet, assimiliert, weltoffen und sich über die Aschkenasen
       erhebend die Sepharden; orthodox und meist prekär lebend die Aschkenasen.
       
       Als Signal einer „Ökumene“ war der Grundstückskauf auch gar nicht gedacht;
       es war eher eine zufällige, pragmatische Lösung, diese Versöhnung über
       Gräbern, die den Friedhof zu etwas Besonderem macht. Denn beide Fraktion
       vereint, das gibt es fast nirgends auf der Welt, das ist – neben dem guten
       Zustand der Gräber – ein weiterer Grund, das Areal als Welterbe zu ehren.
       
       Außerdem ist dieser älteste Portugiesen-Friedhof Nordeuropas bei näherem
       Hinsehen gar nicht tot. Eloquent erzählt er von jüdischer Mentalitäts-,
       Religions- und Kulturgeschichte. Besonders auffällig: die Sarkophag-artigen
       Zelt- bzw. Pyramidalgräber auf dem 1.600 Gräber großen Portugiesen-Areal.
       Solche Steine gibt es sonst nur in Amsterdam, Venedig, der Karibik und im
       einstigen osmanisch-nordafrikanischen Raum – vielleicht ein Relikt der
       maurischen Zeit in Spanien.
       
       Und was die Steine alles abbilden: Nicht nur Blumenranken, Viten und
       Bibelzitate auf Hebräisch, Spanisch und Portugiesisch. Auch zu Vornamen
       schuf man gemeißelte Comics biblischer Anekdoten. Da sitzt Daniel
       unbehelligt in der Löwengrube, träumt Jakob von der Himmelsleiter, und
       Schäferin Rahel wartet am Brunnen. Denn gerade die frisch zurück
       konvertierten „Neujuden“ wollten einen biblischen Stammbaum, versuchten
       sich über den Namen mit den Stammesvätern und -müttern zu verbinden.
       
       Einige ließen sogar – und das gibt es weltweit nur in Altona – Stammbäume
       mit den Namen ihrer Kinder auf die Steine meißeln. Andererseits
       verleugneten sie weder ihren modischen Geschmack noch ihre Freizügigkeit.
       Dabei erlaubt das orthodoxe Judentum eigentlich gar keine Bilder. Und schon
       gar nicht so freizügige Dekolletees wie das der Rahel auf dem Stein einer
       Rahel da Fonseca. „So leicht bekleidet wird die biblische Rahel nicht in
       der Wüste herumgelaufen sein“, sagt Studemund-Halévy. Aber das verspielte
       Rokoko war Mode. Und so stellten sich die Wohlhabenden, in antiker
       Literatur gut bewandert, eine Schäferszene eben vor.
       
       Man findet auch weniger „anrüchige“ Sephardengräber: das des 1691
       verstorbenen Rabbis Semuel Abbas zum Beispiel. Seinen Grabstein ziert ein
       aufgeschlagenes Buch, Zeichen seiner Gelehrsamkeit und Hinweis auf seine
       über 1.200 Stücke fassende Büchersammlung, die damals größte sephardische
       Rabbinerbibliothek Europas. „80 Prozent davon waren nicht-religiöse
       Literatur“, sagt Studemund-Halévy. „Für einen Rabbiner ist das überraschend
       und zeugt vom breit gefächerten Interesse vieler Sepharden.“
       
       Das Buch ist so ziemlich das einzige naturalistische Motiv, das die
       Aschkenasen übernahmen, die sich streng ans jüdische Bilderverbot hielten.
       Menschendarstellungen gibt es gar nicht auf ihren 6.000 erhaltenen Gräbern,
       von einer skandalös freizügigen Rahel ganz zu schweigen.
       
       Überhaupt kreisen die Aschkenasengräber viel enger um Ämter in der
       Gemeinde: zwei Hände für den Cohen – den Priester. Eine Weihwasserkanne für
       den Leviten – des Priesters Gehilfen. Dazu sehr konkrete Namenssymbole:
       eine Traube für Herrn Traube, der Hirsch für Familie Hirsch. Ansonsten ist
       da nur Schrift. Hebräische Buchstaben, die erst im 19. Jahrhundert – nach
       zähen Debatten darüber, ob das zu profan sei – durch deutsche Texte ergänzt
       wurden.
       
       Außerdem: Die Aschkenasen-Grabsteine liegen nicht, wie die sephardischen,
       sondern stehen. Und sie bestehen nicht aus teurem Marmor, sondern aus
       Sandstein – ein weiteres Indiz für das Wohlstandsgefälle.
       
       Abgesehen davon lesen sich auch die aschkenasischen Gräber wie ein Who’s
       who: Fromet, 1812 gestorbene Ehefrau des Philosophen und Aufklärers Moses
       Mendelssohn, liegt in einem eigenwilligen Wannengrab, dessen Bedeutung
       niemand kennt; die romantische Autorin und Übersetzerin Dorothea Schlegel
       war ihre Tochter; die Komponistengeschwister Felix und Fanny Mendelssohn
       Bartholdy ihre Enkel.
       
       Heinrich Heines Vater Samson wurde hier 1828 bestattet, nach den
       Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs fand man sein Grab erst vor wenigen
       Jahren wieder. Oder Wolff Zalman Warburg, der 1805 das Altonaer Bankhaus
       W.S. Warburg gründete. Zur Hamburger Linie zählten der Banker Max Warburg
       sowie der Büchersammler und Kunsttheoretiker Aby Warburg.
       
       Von heißen Debatten zeugt indes die aschkenasische „Rabbinerreihe“ voller
       einstiger Streithähne. Da liegt der 1764 gestorbene Jonathan Eibeschütz,
       ein gefeierter Tora-Gelehrter. Ob er, wie vom Konkurrenz-Rabbi Jakob Emden
       unterstellt, wirklich dem Pseudo-Messias Shabtai Zvi anhing, der Mitte der
       1660er-Jahre eine messianische Bewegung, den Sabbatanismus, auslöste, ist
       unklar. Rabbi Emden agitierte damals vehement gegen Eibeschütz. Heute liegt
       er friedlich neben ihm. Rabbi Jecheskel Katzenellenbogen, links neben
       Eibeschütz begraben, erließ gar einen Bann gegen die Fans des falschen
       Messias. Dass der Pseudo-Messias 1666 zum Islam konvertiert war, ging da
       völlig unter.
       
       Von diesen Fehden ahnt der Besucher nichts, wenn er zwischen die Grabsteine
       tritt. Die stehen meist klaustrophobisch dicht. Andere Steine liegen
       verstreut herum, weil man nach Vandalismus und den Bomben des Zweiten
       Weltkriegs oft nicht mehr wusste, wo die zugehörigen Gräber waren.
       
       Ein klein wenig Orientierung brachten da Fotos, die ab 1943 im Auftrag der
       Nazis gemacht wurden. Die wollten anhand der Grabsteininschriften
       nachweisen können, ob jemand jüdisch war. Außerdem planten sie
       rassistisch-genetische Forschungen an den Gebeinen –eine grausige
       Motivation, aber Forscher Studemund-Halévy sieht das gelassen. Er ist froh,
       dass es diese Fotos des 1869 geschlossenen, seit 1960 denkmalgeschützten
       Friedhofs gibt. „Das hilft uns bei der Rekonstruktion des einstigen
       Zustands“, sagt er. Halévy, der jeden portugiesischen Grabstein
       dokumentierte und die Aufnahme ins Welterbe seit Jahren vorantreibt, geht
       sogar noch weiter: „Und wenn sich die internationale Kommission 2018 gegen
       uns entscheidet – so what? Wo ist das Drama?“
       
       24 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
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