# taz.de -- Verlorene Jugend in Italien: „Ich fühle mich verraten“
       
       > Ein 30-Jähriger nimmt sich in Italien das Leben, sein Abschiedsbrief wird
       > öffentlich. Aus einer privaten Tragödie wird die eines Landes.
       
 (IMG) Bild: Jung in Italien: Da geht der Blick gerne abwärts
       
       ROM taz | Ein 30-Jähriger, der sich das Leben nimmt: Eigentlich wäre das
       keine Nachricht für Italiens überregionale Zeitungen oder die
       TV-Nachrichtensendungen. Doch Michele rüttelte mit seiner Tat das ganze
       Land wach, denn statt eines Abschiedsbriefs hinterließ er eine wütende,
       verbitterte, verzweifelte Abrechnung – eine Abrechnung, in der sich
       Hunderttausende, wenn nicht Millionen junger Italiener wiederfinden.
       
       „Ich habe 30 Jahre (schlecht) gelebt“, beginnt das Schreiben, das seine
       Mutter nach Micheles Tod dem kleinen Regionalblatt Messaggero Veneto zur
       Veröffentlichung gegeben hatte. „Ich habe es satt, mich anzustrengen, ohne
       Resultate zu erreichen, ich habe die nutzlosen Vorstellungsgespräche als
       Grafiker satt, ich habe es satt, den Erwartungen aller zu genügen, ohne je
       meine Erwartungen erfüllt zu sehen, satt, gute Miene zu einem miserablen
       Spiel zu machen.“
       
       Nie hatte Michele, der im nordostitalienischen Friaul lebte, nach seiner
       Ausbildung zum Grafiker eine feste Beschäftigung gefunden. Ihm ging es wie
       so vielen seiner Generation: etwa 800.000 junge Arbeitslose zählt die
       Statistik, über 40 Prozent beträgt der Anteil derer, die keinen Job haben.
       Und wer in Arbeit ist, muss sich oft genug mit miserabel bezahlten
       Honorarverträgen ohne Festanstellung durchschlagen.
       
       Michele empfand diese Situation als hoffnungslos. „Ich kann mein Leben
       nicht damit verbringen, bloß um mein Überleben zu kämpfen“, schreibt er,
       „die Zukunft wird ein Desaster sein, dem ich nicht beiwohnen, an dem ich
       auch nicht teilhaben möchte“.
       
       Und Michele setzt nach: „Ich habe nicht verraten, ich fühle mich verraten,
       von einer Epoche, die es sich erlaubt, mich beiseitezustellen.“
       
       ## Die Hoffnung ist verpufft
       
       Eine Generation, der ihre Zukunft geraubt wurde – so fühlen sich zahllose
       junge Italienerinnen und Italiener, die ohne jedes Einkommen oder bloß mit
       Minimalverdiensten leben, die notgedrungen auch mit 30 oder 35 Jahren noch
       bei ihren Eltern wohnen, die nur von der Familie durchgezogen werden.
       
       Gerade ihnen hatte der jung-dynamische Matteo Renzi die Wende versprochen,
       als er vor genau drei Jahren, im Februar 2014, die Regierung übernahm.
       Renzi gab sich als Sprecher ihrer Generation, als einer, der – bei der
       Politik angefangen – endlich die „Alten“ ins Abseits stellen, den Jungen
       die Tore öffnen wollte. Und bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014
       dankten es ihm gerade auch die Jungwähler mit massivem Zuspruch.
       
       Doch die Hoffnung ist verpufft. Zwar hat Italien wieder ein – wenn auch
       sehr bescheidenes – Wachstum vorzuweisen. Zwar geriet auch der Arbeitsmarkt
       in Bewegung. Doch neue Jobs entstanden vor allem für die über 50-Jährigen,
       die Jugendlichen dagegen gingen leer aus. Auf die Regierung kommt Michele
       ganz am Ende seines Briefs zu sprechen: „P.S., Komplimente an Minister
       Poletti. Er ist einer, der uns als Arschlöchern gebührenden Wert
       zubilligt.“
       
       ## Abwanderung Zehntausender meist junger Menschen
       
       Giuliano Poletti, Arbeitsminister im Kabinett des im Dezember 2016
       zurückgetretenen Regierungschefs Renzi, behielt seinen Job auch in der
       neuen Regierung unter Paolo Gentiloni. Ausgerechnet Poletti hatte im
       Dezember letzten Jahres die Abwanderung Zehntausender meist junger Menschen
       – allein im Jahr 2015 verließen 107.000 Italiener ihr Heimatland – mit der
       herablassenden Bemerkung kommentiert, bei einigen dieser Auswanderer sei es
       „besser, dass sie uns nicht mehr hier auf die Nerven gehen“.
       
       Dabei kann der Arbeitsminister auf der Habenseite verbuchen, dass er
       wenigstens einem jungen Mann zu einem festen Job verholfen hat: dem eigenen
       Sohn. Den Filius hatte der Minister, früher Präsident des Zentralverbands
       der Genossenschaften Legacoop, bei einer Genossenschaftszeitung als
       Chefredakteur untergebracht.
       
       So viel Glück hatte Michele nicht, ihm blieb nur festzuhalten: „Diese
       Generation rächt sich für einen Diebstahl, den Diebstahl des Glücks“, bevor
       er seinem Leben ein Ende machte.
       
       9 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Braun
       
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