# taz.de -- Unabhängiger Buchhandel: Die Welt hinter den Buchstaben
       
       > Kleine unabhängige Buchhandlungen dürfte es nach den Marktgesetzen nicht
       > mehr geben. Doch es gibt Händler, die behaupten sich trotzdem.
       
 (IMG) Bild: „Eine Buchhandlung ist ein Gesamtkunstwerk“: Hildegard George aus Hannover
       
       BERLIN/CELLE/HANNOVER taz | Hildegard George setzt sich langsam auf einen
       Holzstuhl, schlägt das eine Bein über das andere, faltet ihre Hände
       ineinander, sucht den Blick ihres Gegenübers, jetzt ist sie so weit, um zu
       sagen: „Eine Buchhandlung ist ein Gesamtkunstwerk.“ George ist
       Buchhändlerin, bald feiert sie ihren siebzigsten Geburtstag. Die grauen
       Haare trägt sie millimeterkurz, den Rock lang und schwarz. „Litera“ heißt
       ihr kleines Eckgeschäft in der Oststadt von Hannover, in wuchtigen
       Holzregalen stehen Belletristik, geisteswissenschaftliche Schriften,
       Kunstbände. In diesen Tagen schließt der Laden.
       
       Wenn sie spricht, neigt Hildegard George ihren Oberkörper weit nach vorne,
       als wollte sie, dass das Gesagte auch wirklich ankommt. „Früher definierte
       man sich über das, was man gelesen hat. Daraus bezog man seinen Selbstwert,
       das schuf Identität.“ Heute, glaubt George, ist Bildung inflationär
       geworden. Die Masse von Informationen führt weg von der ausführlichen
       Beschäftigung mit geisteswissenschaftlichen Themen. Die hatten es schon
       immer schwer in einer Technikstadt wie Hannover, selbst in den goldenen
       Jahren des Buchhandels – und heute sowieso.
       
       Der Umsatz buchhändlerischer Betriebe in Deutschland hatte sich in den
       Jahren 1979 bis 1998 etwa verdreifacht: von knapp über drei auf neun
       Milliarden Euro. Dann begannen die Verkaufszahlen zu stagnieren, der
       Buchhandel durchlief einen Konzentrationsprozess. Heute machen rund zehn
       Prozent der Unternehmen mehr als zwei Drittel des Gesamtumsatzes, Ketten
       wie Thalia, Hugendubel, Osiander. Zuerst machten die Riesen es den kleinen
       Händlern wie Hildegard George schwer, dann rollten das Internet und Amazon
       den Markt neu auf, warfen die Frage auf: Wer will denn noch Bücher aus
       Papier?
       
       ## Ein Ort für „Mackiges“
       
       Die Geschichte von Hildegard George und ihren Büchern ist eine Geschichte
       über Liebe. 1983 begann sie zum ersten Mal, in einem Buchladen zu arbeiten,
       bei diesem linken Intellektuellen, der zunächst für seine Störrischkeit und
       später für seine Schwerhörigkeit bekannt war. Es war eine gute Liebe. Doch
       nach 1989 wurde links out, meint George, Bildung, Wissen als Statussymbol
       entwertet. Hildegard George und ihr intellektueller Freund trennten sich.
       Sie eröffnete Litera, nur einen Katzensprung von der alten Buchhandlung
       entfernt.
       
       „Litera war ein Ort für Besonderes, ein Ort für Mackiges und Störendes“,
       sagt George. Er sollte eine Kampfansage sein, gegen neue Medien, die vielen
       Veränderungen, die auch diesen Laden irgendwann erreichten, als sie eine
       Website einrichtete. „Ich wollte immer den Mainstream vermeiden. Das habe
       ich geschafft.“ Hildegard George sucht nach einem Nachfolger, der den Laden
       übernimmt, seit fünf Jahren schon. „Es gab mehrfach Interessenten“, sagte
       sie. „Letztendlich wirkten die betriebswirtschaftlichen Zahlen aber
       abschreckend.“
       
       Im Berliner Ortsteil Charlottenburg, in den S-Bahn-Bögen am Savignyplatz,
       donnern Züge über die darin eingelassenen Läden hinweg. Aus dem hinteren
       Raum der „autorenbuchhandlung“ dringen vereinzelt Gesprächsfetzen herüber.
       Das Zischen des Milchschäumers mischt sich rhythmisch ein. Ältere Herren in
       wie maßgeschneidert sitzenden Jacketts stöbern in kontemplativer Haltung
       auf Büchertischen und in Regalen.
       
       ## Flucht nach vorn
       
       Die Anfänge der autorenbuchhandlung reichen bis in die 1970er Jahre zurück;
       die Crème de la crème der BRD-Schriftsteller stritt hier über Politik,
       Literatur und Engagement und versuchte mit insgesamt drei Läden in Berlin
       und Westdeutschland, ein Zeichen gegen den Trend zu Großbuchhandlungen und
       Ramschstapeln zu setzen. Die Berliner Filiale gibt es, in anderer
       Besetzung, noch heute.
       
       „Wenn du stehen bleibst, wirst du überholt“, sagt Christian Dunker
       überzeugt. Das Gesicht des kahlköpfigen Mannes in grasgrünem Pullover trägt
       kantige Züge. Es wahrt intellektuelle Distanz. Wenn er lacht, kommt ein
       kleines Stück Nähe zustande. Sorgt er sich infolge von Digitalisierung und
       Internethandel um die autorenbuchhandlung? – „Gar nicht.“
       
       Der Neurologe David Lewis von der Universität Sussex hat untersucht, welche
       Tätigkeiten Stress am ehesten reduzieren helfen. Es ist das Lesen. Besser
       als Tee trinken, nützlicher als ein Spaziergang. Dabei ist es egal, welches
       Buch man liest. Klar, das macht die Ablenkung, könnte man entgegnen. Doch
       es ist mehr noch: Die aktive Ankurbelung der Imagination stimuliert die
       Kreativität und läutet eine Veränderung des Bewusstseins ein. Das wirkt auf
       den Körper. Die Herzfrequenz sinkt, die Muskeln erschlaffen.
       
       ## Die Suche nach Entschleunigung
       
       Wer in die autorenbuchhandlung kommt, glaubt Dunker, sucht Entschleunigung.
       Der Buchladen, die Antithese zu einer rasanten Welt. Ein Sehnsuchtsort.
       Aber das ist nur die halbe Wahrheit. „Wir sind natürlich an das
       Tolino-System angeschlossen“, sagt Dunker. Die Tolino-Allianz wurde 2013
       von der Buchhandelskette Thalia zusammen mit Hugendubel, Weltbild, Club
       Bertelsmann und der Deutschen Telekom ins Leben gerufen – gemeinsam
       vermarkten sie E-Books. Sie wollen sich damit dem Internethändler Amazon
       entgegenstellen, der ein eigenes E-Book-Format verkauft, das nur auf dem
       konzerneigenen E-Reader Kindle läuft. Am Umsatz gemessen, hat Tolino den
       Kindle beim E-Book-Verkauf mittlerweile überholt. 2015 stand es erstmals 45
       zu 39 Prozent. Ein kleiner Triumph über den Konkurrenten Amazon.
       
       „Als Buchhändler kannst du nur mit eigener Meinung überzeugen“, sagt
       Dunker. Auf ihrer Website rezensiert die autorenbuchhandlung Bücher und
       schlägt Lieblingswerke vor. Die Expertise, sonst nur im Laden zu finden,
       überträgt sich in den virtuellen Raum. Dunker hofft, dass sie Kunden
       wiederum zurück ins Geschäft führt. Im Café der Buchhandlung klirren
       tagsüber die Porzellantassen, abends kommen Literaten und
       Kulturinteressierte zusammen. Die Veranstaltungen werden auf Facebook
       angekündigt. So halten sie Schritt mit der Schnelllebigkeit, der sie
       eigentlich entkommen wollten. Doch was passiert mit jenen, die entschieden
       haben, sich den technologischen Trends der Zeit zu verschließen?
       
       ## Der persönliche Rückzug
       
       Celle, eine historische Kleinstadt in Niedersachsen. Die Eingangstür der
       Buchhandlung Sternkopf & Hübel schiebt sich schwerfällig über den
       ausgelegten Teppichboden. Es läutet, eine Kundin kommt in kleinen Schritten
       in den Laden. „Haben Sie das Weihnachtsgeschäft gut überstanden?“, fragt
       sie. Dann erzählt sie von der Gans an Heiligabend, von der Enkelin, die
       jetzt vegetarisch isst und sich weigerte, mit am Tisch zu sitzen.
       
       Grit Hübel hört zu, nickt, das ist der Grund für den Erfolg, seit Jahren.
       Sie und Renate Sternkopf sind schon einmal Opfer des Branchenwandels
       geworden. Sie arbeiteten in einer Buchhandlung, mehrere Jahre, die
       Geschäfte liefen immer schlechter, schließlich entließ das Unternehmen
       Mitarbeiter. Die zwei Frauen wagen das Wahnsinnige: Sie eröffnen ihr
       eigenes Geschäft.
       
       Die alte Buchhandlung war zu groß, zu beliebig das Angebot, so sehen sie
       es. „Das Kleine hingegen kann man gut bespielen“, sagt Frau Hübel. Aus dem
       alten Laden haben sie viele Kunden mit in den neuen genommen, selbst Amazon
       machen sie auf ihre Weise Konkurrenz. „Manche Kunden kommen mit
       ausgedruckten Zetteln von Amazon zu uns und bestellen die Bücher hier“,
       sagt Grit Hübel.
       
       ## Der Weihnachtsmann winkt
       
       Einmal, ein paar Jahre ist es her, da hatte der Winter die Stadt weiß
       gemalt. Den Monat davor haben Sternkopf und Hübel Lose an ihre Kunden
       verteilt. An einem der Weihnachtstage stellen sie Säcke mit Geschenken vor
       die Buchhandlung. Nach und nach füllt sich der Platz. Kinder in
       Schneeanzügen springen im Schnee wie auf einem Trampolin. Eine Kutsche
       kommt um die Ecke gefahren. Darin sitzt der Weihnachtsmann. Wenn der in den
       Laden geht, dann folgen, noch Jahre danach, die Kinder. Unternehmerisches
       Kalkül? Im Gegenteil. „Buchhandlungen sind Orte der Begegnung. Die braucht
       man. Besonders in einer Zeit, in der die Familien immer kleiner und die
       Menschen immer älter werden.“, sagt Frau Hübel.
       
       Für die ältere Kundschaft: Regale mit theologischen Werken. Bücher über
       Trauerverarbeitung und Neuanfänge. Ein kleiner Holzengel thront davor.
       Celle ist eine alte Stadt, und alt sind auch ihre Einwohner. Gerade für sie
       braucht es diese Läden. Es sind kleine Mulden, mit Versickerungspotenzial.
       Auffangnetze. Sie tragen Ausgeschlossene mit, Alte, Einsame, Zugezogene.
       
       Neulich kam einer der Stammkunden in das Geschäft von Sternkopf und Hübel.
       Weihnachtszeit, Hauptumsatzzeit. Nicht abebbende Bestellungen. Gehetzte
       Kunden. Ein älterer Herr will nichts Geringeres als das: „Frau Sternkopf!
       Ich hätte gern das neuste Buch von meinem Lieblingsautor!“ Kratzt sich am
       Kopf. Ratlosigkeit. „Mir ist nur gerade der Name entfallen.“ Renate
       Sternkopf hievt ein Paket ins Regal. Sie dreht sich um zu ihm: „Sie meinen
       Max Goldt?“ Er war’s.
       
       22 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Kücking
       
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