# taz.de -- Pressefreiheit: Justiz vor dem Referendum
       
       > Die türkische Staatsanwaltschaft fordert lange Haftstrafen für die elf
       > inhaftierten Journalisten der Tageszeitung „Cumhuriyet“. Ihre Begründung
       > ist dünn.
       
 (IMG) Bild: Die 11 Cumhuriyet-Journalisten: Seit 153 in Haft
       
       In der Türkei erlebt das Justizsystem kurz vor dem Referendum eine der
       wichtigsten Brüche. Nachdem der bekannte Journalist Murat Aksoy und der
       Musiker und Kolumnist Atilla Taş in der vergangenen Woche von einem Gericht
       freigelassen wurden, wurde es zum Ziel der AKP-nahen Journalisten. Mit der
       Amtsentfernung der für die Entlassung zuständigen Richter*innen bezeugte
       die Judikative der Regierung ihre Verbundenheit. Dieser Probelauf zeigt
       jedenfalls, wie es nach dem Referendum um das Justizsystem bestellt ist.
       Für unsere 11 inhaftierten Kollegen und ihr Fall, der erst in fünf Monaten
       vor Gericht verhandelt wird, ist unklar, ob und wie der Druck auf die
       Gerichte sich auf das Verfahren auswirken wirkt.
       
       Fünf Monate nach ihrer Inhaftierung wurde für elf Journalisten der
       Tageszeitung Cumhuriyet, die sich derzeit unter harten Haftbedingungen in
       der Strafvollzugsanstalt in Silivri befinden, eine Anklageschrift erstellt.
       Die Staatsanwaltschaft fordert nun zwischen 15 und 43 Jahre Haft. Als
       Beweise werden Tweets und Berichte der Journalisten angeführt, dass sie der
       „Fethullahistischen Gülen-Terror-Organisation“ (FETÖ) und der PKK/KCK (Koma
       Civakên Kurdistan, Dachorganisation der PKK) nahestehen und in ihrem Namen
       agieren.
       
       Ein Vorwurf ist, über Umweltschutz Sympathie und Anerkennung für die PKK zu
       erzeugen: Cumhuriyet-Mitarbeiterin Ayşe Yıldırım veröffentlichte am 2. Juni
       2015 ihre Notizen zum Interview mit dem Kovorsitzenden der PKK/KCK, Cemil
       Bayık aus Kandil im Irak. Yıldırım schrieb, dass es in Kandil wichtig sei,
       „sich respektvoll in der Natur zu bewegen. In der freien Natur werden nicht
       einmal Zigarettenkippen auf den Boden geworfen. Den Dorfbewohnern im Tal
       ist es untersagt, Bäume nach Lust und Laune zu fällen.“
       
       ## Apps fungieren als Beweise
       
       Für die beiden Staatsanwält*innen Mehmet Akif Ekinci und Yasemin Baba ist
       das eine Sympathiebekundung für die Terrororganisation. Als Beweismittel
       für die Mitgliedschaft in der FETÖ werden verschlüsselte Messengerdienste
       wie ByLock und Eagle angeführt. Wenn einer der Angeklagten diese Apps nicht
       nutzte, wird ihnen vorgeworfen, sich mit Personen unterhalten zu haben, die
       ByLock benutzt haben. Offen gesagt: Wenn Sie jemanden anrufen würden,
       wüssten Sie, welche Apps er nutzt? Natürlich nicht.
       
       In der Anklageschrift steht,dass sich mit der Übernahme des
       Cumhuriyet-Chefredakteurspostens durch Can Dündar am 8. Februar 2015 die
       Redaktionslinie radikal geändert habe. Zudem wird angeführt, dass Dündars
       Berufung auf den Posten als Chefredakteur von „unparteiischen“ Beobachtern
       als „interessant“ angesehen werde. Dass die Staatsanwält*innen in diesem
       Falle den Journalisten und AKP-Aktivisten Cem Küçük als Zeugen anführen,
       zeugt ebenfalls von der alles andere als unparteiischen Ausrichtung der
       Gerichte: Cem Küçük war es, der am Tag der Entlassung von Murat Aksoy und
       Atilla Taş das entlassende Gericht via Twitter beschimpfte und bedrohte.
       
       ## Keine Verbindung zu FETÖ? Dann eben DHKP-C
       
       In der Anklageschrift befinden sich ebenfalls Anschuldigungen gegen den
       seit knapp 100 Tagen inhaftierten Cumhuriyet-Reporter Ahmet Şık. Dieser war
       2011 zusammen mit dem ehemaligen Generalstabschef İlker Başbuğ und weiteren
       Militäroberen, Journalist*innen und Akademiker*innen im Rahmen der
       „Ergenekon“- Ermittlungen über ein Jahr lang in Haft. Die Begründung
       lautete damals, er wolle die Regierung stürzen.
       
       Im Dezember 2016 wurde Şık mit dem Vorwurf inhaftiert, Propaganda für die
       Gülen-Bewegung betrieben zu haben, von der es heißt, dass sie damals
       mittels der Ergenekon-Ermittlungen eine Verschwörung gegen die Regierung
       plante. Trotzdem erwähnen die Staatsanwält*innen in der Anklage den Vorwurf
       von damals nicht. Stattdessen ist nun von „Propaganda für die
       DHKP-C“(marxistisch-leninistische Untergrundorganisation in der Türkei) die
       Rede, ein Vorwurf, der in der Anklage bis dahin mit keinem Satz erwähnt
       wurde.
       
       Nun liegt es am Gericht, ob es der Anklageschrift stattgibt. Dann kann es
       darüber entscheiden, ob die elf Cumhuriyet-Journalisten entlassen werden
       oder weiter in Haft bleiben müssen. Die Chancen für eine Entlassung stehen
       nicht gut: Die Richter, die vergangene Woche Murat Aksoy und Atilla Taş aus
       der Haft entließen, sind mittlerweile aus dem Amt entfernt worden.
       
       6 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Canan Coşkun
       
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