# taz.de -- Mai-Feiern in Istanbul: Hayır, hayır, hayır!
       
       > Trotz Ausnahmezustand wird in Istanbul demonstriert, aber nicht auf dem
       > zentralen Taksim-Platz. Der 1. Mai verläuft im Schatten des Referendums.
       
 (IMG) Bild: Ein Mann wird nach der Festnahme gegen eine Scheibe gepresst. Einige versuchten trotz Verbot zum Taksim-Platz zu kommen
       
       ISTANBUL taz | Der zentrale Taksim-Platz in Istanbul ist Verbotszone für
       Demonstrationen, der Grund hierfür scheint klar: OHAL, also die Ausrufung
       des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016. Die
       Gewerkschaften DISK und KESK, die bisher immer darauf bestanden, die
       1.-Mai-Kundgebung am Taksim-Platz abzuhalten, gaben in diesem Jahr klein
       bei. Sie wichen auf das historisch unbedeutende- und 18 km entfernte –
       Bakırköy aus.
       
       Am frühen Montagmorgen legten unter hohen Sicherheitsvorkehrungen
       Gewerkschaftsvertreter Gedenkkränze am Taksim-Platz nieder. Gegen
       Istanbuler*innen, die zum Taksim-Platz wollten, gingen Polizisten mit
       Plastikgeschossen und Tränengas hart vor. Über 200 Menschen wurden in
       Polizeigewahrsam genommen. Gruppen von Anwält*innen errichteten angesichts
       der Übergriffe, Folter und der Festnahmen eiligst einen Krisenstab. Die
       Anwält*innen betonen, dass die Staatsanwälte die Einsprüche gegen
       unrechtmäßige Verhaftungen (im türkischen Gewahrsam) nicht einmal annehmen
       würden.
       
       Der 1. Mai wurde in der Türkei zum ersten Mal 1912 gefeiert, 1923 dann, im
       Jahr der Ausrufung der türkischen Republik zum „Feiertag des Arbeiters“
       erklärt. Jahrelang beging man den 1. Mai in Salons und Sälen. 1977, ein
       Jahr nachdem Hunderttausende von Arbeiter*innen in Massen auf die Straßen
       strömten, um zu demonstrieren, wurden 34 Menschen, die friedlich tanzten,
       erschossen. Der Feiertag endete mit einem Massaker. Und ging als „Kanlı 1
       Mayıs“, Blutiger 1. Mai, in die Geschichte der Türkei ein.
       
       1980, im Jahr des Militärputsches, wurde der 1. Mai den Arbeiter*innen als
       Feiertag aberkannt. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Generalstab, den
       Taksim-Platz für Demonstrationen gesperrt. Jahre später, im Zuge der
       gemäßigteren Politik der AKP-Regierung, wurde der 1. Mai erneut durch das
       türkische Parlament zum Feiertag erklärt. 2010, als der Taksim-Platz für
       die Kundgebungen der Arbeiter*innen wieder zugänglich gemacht wurde, trafen
       sich über eine Million Menschen auf dem Platz. Dieses Bild war vor allem
       für die jüngere Generation magisch, allerdings hielt dieser Umstand nicht
       lange an. Nach 2012 wurde der Taksim-Platz erneut „aus Sicherheitsgründen“
       gesperrt.
       
       ## Leere Straßen
       
       In den frühen Morgenstunden am diesjährigen 1. Mai, waren die Straßen vom
       Zentralbezirk Beşiktaş, wo die offiziellen Kundgebungen stattfinden
       sollten, in Richtung Bakırköy menschenleer. Genau wie die Metrobusse, die
       sonst zu dieser Zeit voller Menschen sind, die sich beim Einsteigen fast
       gegenseitig zerquetschen. Eine Vielzahl an Straßen war gesperrt. Ein
       Textilarbeiter, gerade aus der Nachtschicht entlassen, versuchte die
       Autorin davon abzuhalten, sich den Feierlichkeiten zum 1. Mai zu nähern.
       „Mann Schwester,“, sagte er erschrocken, „halt dich bloß fern von den
       Massen, du weißt doch, dass heute bestimmt etwas passiert!“. Die
       überraschte Autorin fragte ihn, warum er sich dessen so sicher sei: „Wie
       kannst Du Dir da nicht sicher sein?“, fragte er nur zurück.
       
       In Bakırköy führten etliche Polizeibeamte einen Demonstranten ab. Auf den
       Protest der Anwohner hin, so wurde es beschrieben, feuerten die Polizisten
       drei Schüsse in die Luft ab. Die Anspannung hatte sich gelöst. Am
       Sicherheitszugang zum Demonstrationsort führten die Polizeibeamten stärkere
       Sicherheitskontrollen als bislang aus. Die Polizeibeamten fotografierten
       jede Fahne und jedes Banner einzeln und sendeten es ihren Vorgesetzten zu.
       Ließen die das Banner zu, wurden die Demonstrant*innen auf den Platz
       gelassen. Banner und Schriftzüge, die nicht auf der Kundgebung erlaubt
       waren, trugen die Abkürzungen OHAL für Ausnahmezustand und KHK für
       Notstandsdekret.
       
       Die linke Fangruppe eines der größten Fußballvereine, Fenerbahçe, sang
       einen Marsch für den Studenten Ali Ismail Korkmaz, der bei den
       Gezi-Protesten von Regierungsbefürwortern zu Tode geprügelt worden war und
       löste damit melancholische Momente bei den Anwesenden aus. Anschließend
       skandierten die Demonstrierenden gemeinsam: „Dieses Land gehört nicht den
       Diktatorfans und auch nicht den Religionsbetrügern, dieses Land gehört nur
       uns!“
       
       Allen voran die „Haziran Hareketi“ (die Juni-Bewegung) und andere
       Initiativen, die im Vorfeld des Referendums aktiv waren, haben die
       diesjährigen 1.-Mai-Proteste dominiert. Anders als in den Vorjahren ging es
       an dem diesjährigen Tag mit Transparenten wie „Nein, es ist noch nicht
       vorbei. Wir fangen erst gerade an“ nicht nur um klassische Botschaften im
       Kontext des 1. Mai, sondern auch um den Widerstand gegen das
       Präsidialsystem. Auf den öffentlichen Plätzen waren nicht nur die
       Mitglieder der Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften
       DISK, sondern auch Mitglieder der LBGTQ-Community, sowie die Juni-Bewegung
       und das feministische Netzwerk Kampus Cadilari (zu deutsch Campus Hexen).
       Augenfällig waren bei den Demonstrationen auch viele Frauen mit
       Kopftüchern.
       
       ## Präsidialsystem in aller Munde
       
       Die Verantwortlichen der feministischen Dachorganisation „Mor Çatı Kadın
       Dayanışma Derneği“, erklärten, dass in den vergangenen 15 Jahren der
       AKP-Regierungszeit die Anzahl der Frauenmorde sich um ein Tausendfaches
       erhöht und Kindesmisshandlungen sich verdreifacht haben. Die Verein der
       Bauarbeiter erklärte, die Anzahl der Arbeitsunfälle auf Baustellen habe
       sich versechsfacht, so seien seit 2002 von ihnen gezählt 20.000 Bauarbeiter
       tödlich verunglückt. Bei aller Diversität der Gesprächsthemen endeten aber
       alle Unterhaltungen mit Demonstrierenden bei dem Thema Präsidialsystem. Als
       ob sie sich alle Teilnehmenden abgesprochen hätten, machten sie deutlich,
       dass sie trotz des kürzlich abgehaltenen Referendums Erdoğan nicht zum
       Präsidenten machen wollen.
       
       Die diesjährigen Demonstrationen starteten mit einer Schweigeminute für
       alle im Widerstand gestorbenen Menschen und gingen mit Arbeiterliedern aus
       dem Chor der Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften DISK
       weiter, die von der Menge der Demonstrierenden lauthals mitgesungen wurden.
       Dabei wurden die Textzeilen des 1.-Mai-Marsches, angelehnt an das Mailied
       von Berthold Brecht, in türkischer und kurdischer Sprache vorgetragen.
       
       So hieß es bei den Kundgebungen weiter „Jene, die Tag und Nacht gearbeitet
       und überall im Norden, Osten, Süden und Westen das Nein verbreitet haben“,
       sie hätten gewonnen. Ganz im Sinne des Arbeitertages wurden auch sichere
       Arbeitsbedingungen und ein regulärer Achtstundentag gefordert. Besonders
       eindringlich war die Ansprache des DISK Vorsitzenden Kani Beko, der eine
       klare Botschaft gegen das Präsidialsystem formulierte.
       
       „Die Türkei braucht dringend und lebensnotwendig ein freiheitliches,
       laizistisches und soziale Grundgesetz, dass alle Menschen gleichberechtigt.
       Allerdings verschließen die Regierenden in diesem Land die Augen vor dieser
       Wahrheit. Sie zwingen der Türkei ein Ein-Mann-Regime auf. In einem Land, in
       dem mindestens die Hälfte der Bevölkerung gegen einen derartigen
       Regimewechsel gestimmt hat, ist der 1. Mai 2017 umso wichtiger im Kampf
       gegen die Legalisierung der Wahlmanipulationen geworden. Wir als
       Arbeitergewerkschaften – und Vereine verkünden, dass wir die Zusammenkünfte
       in allen Teilen der Türkei an diesem Tag umso gemeinschaftlicher
       zelebrieren werden“, so Beko auf der Kundgebung.
       
       Mit dem Auftritt der Musikgruppe Kardeş Türküler, die Lieder für Frieden
       und geschwisterliches Zusammenleben vortrugen, neigte sich – hoffnungsvoll,
       aber auch etwas melancholisch – ein weiterer 1. Mai dem Ende. Denn neben
       den aktuellen politischen Ereignissen, ist da noch das Wissen um die
       Tatsachen, dass die Täter vom Taksim-Massaker vor 40 Jahren nie gefasst
       wurden.
       
       1 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Meltem Yilmaz
       
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