# taz.de -- Entzug des Sorgerechts verdreifacht: Mehr Kinder weggenommen
       
       > Die Zahl der Eltern, die ihr Sorgerecht verlieren, hat sich seit 2011
       > verdreifacht. Die Linke fordert Armutsbekämpfung, aber der Antrag
       > scheitert.
       
 (IMG) Bild: Lange Zeit im Heim: Kinder aus Hamburger Problemfamilien kommen selten zu Pflegeeltern
       
       HAMBURG taz | Hamburgs Jugendämter greifen „immer stärker in die Rechte von
       Kindern und Eltern ein“, das kritisiert jetzt die Linksfraktion auf Basis
       der Daten einer schriftlichen Anfrage. So haben sich die Eingriffe in das
       Sorgerecht der Eltern in den letzten fünf Jahren fast verdreifacht – von
       190 in 2011 auf 536 in 2016.
       
       Es gebe eine „erheblich gewachsene Bereitschaft“, Eltern bei Überforderung
       nicht nur zu helfen, sondern gleich auch „das Sorgerecht ganz oder
       teilweise zu entziehen“, erläutert die Jugendpolitikerin Sabine
       Boeddingshaus (Die Linke). Sie führt dies auf „politischen Druck“ zurück,
       der in den Bezirken Mitte und Harburg besonders ausgeprägt sei, weil dort
       die Steigerung am höchsten war.
       
       Insgesamt sei die Praxis auf keinem guten Weg, die Jugendämter befänden
       sich „auf Abwegen“, so die Linke. Besonders gestiegen ist die Herausnahme
       von kleinen Kindern aus Familien. Bei den unter Dreijährigen geschah dies
       2011 bei 101 Fällen, 2016 waren es 159 Kinder. Und oft dauerte dies auch zu
       lange. Denn diese „Inobhutnahmen“ sind laut Gesetz nur eine Notmaßnahme.
       Binnen 14 Tagen sollen die Ämter klären, ob ein Kind zurück zu den Eltern
       kann – zum Beispiel mit Unterstützung einer Familienhelferin – oder ob es
       fremd untergebracht wird.
       
       Wurden 2011 noch zwei Drittel der damaligen 1.890 Inobhutnahmen in der
       Zweiwochenfrist beendet, waren es 2016 nur noch ein Drittel bei 2.140
       Fällen. „Das ist Ausdruck einer Jugendhilfepraxis, die um jeden Preis
       versucht, Fehler zu vermeiden“, ergänzt Mehmet Yildiz, Kinderpolitiker der
       Linken. Hier schütze man das System, aber nicht die Kinder. „Gerade kleinen
       Kinder tut die lange Trennung von Eltern und das Leben in einer
       Übergangseinrichtung oft nicht gut.“
       
       ## System „aus den Fugen geraten“
       
       Doch auch danach geht es problematisch weiter. So verweilen Hamburgs
       fremdplatzierte Kinder im Schnitt nur 23 Monate bei Pflegeeltern, aber mit
       40 Monaten fast doppelt so lange in Heimen. Im Bundesvergleich ist es
       anders herum, dort werden Kinder eher in Pflegefamilien als in Heimen groß.
       Für Sabine Boeddinghaus ist das ein Indiz dafür, dass die Stadt den
       Pflegekinderbereich vernachlässige und „vorrangig auf Heimerziehung
       setzt“.
       
       Gefragt, warum sich Inobhutnahmen in die Länge ziehen, antwortet der für
       Jugendhilfe federführende zuständige Bezirk Wandsbek, es gebe keine
       rechtliche Grundlage dafür, dass Inobhutnahmen zwingend nach zwei Wochen
       beendet sein müssen. Und wenn Eltern der Inobhutnahme widersprechen,
       müssten die Gerichte angerufen werden. „Sorgerechtliche Entscheidungen
       können in der Regel nicht binnen zwei Wochen abgeschlossen sein“, so eine
       Sprecherin. Oft sei es von Vorteil, wenn eine Inobhutnahme länger dauere.
       
       Boeddinghaus dagegen sagt, das System sei „aus den Fugen geraten“. Denn ein
       Ausnahmefall sei zur Regel geworden. Die Linke will nun mit einer neuen
       Anfrage nachhaken, wo die Kinder sind, die länger als 14 Tage den Familien
       fern bleiben, und wie viele Inobhutnahmen in den Kinderschutzhäusern über
       mehrere Monate dauern.
       
       Zudem sieht die Linke einen Zusammenhang zur Kinderarmut. „In welchen
       Stadtteilen die Kinder entzogen werden, dass hat auch mit den dortigen
       Lebenslagen zu tun“, sagt Yildiz. Es fehle an vorbeugenden Hilfen.
       
       Wie das aussehen kann, skizzierte die Linke in einem Antrag zur Bekämpfung
       von Kinderarmut. Der Bezirk Mitte zum Beispiel brauche weitere
       Erziehungsberatungsstellen. Nötig sei auch ein Ausbau der Kinder- und
       Familienzentren, wo Eltern und Kinder nachbarschaftlich zusammenkommen und
       selbst aktiv werden können. Der Antrag wurde am Mittwoch von SPD und Grünen
       abgelehnt. Beendet ist die Diskussion damit aber nicht, da sich die
       Enquetekommission „Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärker“ damit
       beschäftigen wird.
       
       15 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kaija Kutter
       
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