# taz.de -- Debatte Repräsentative Demokratie: Würfeln statt wählen
       
       > Unsere Demokratie hat ein Problem mit Gewaltenteilung und Repräsentation.
       > Da hilft nur eins: Der Rückblick in die Antike.
       
 (IMG) Bild: Er fand es demokratischer, Abgeordnete per Los zu bestimmen: Aristoteles
       
       Angela Merkel ist ein Glücksfall für die Demokratie. Indem sie populäre
       Themen vereinnahmt, statt selbst welche zu setzen, vertritt sie das
       Mehrheitsinteresse. Ihr Näschen für Trends, ihr Machtinstinkt und ihr
       Opportunismus sind in Summe das präziseste Konsens-Werkzeug in der
       Geschichte der Bundesrepublik. Aber ist das Am-liebsten-alle-Vertreten
       überhaupt Teil des Jobprofils einer Bundeskanzlerin? Erwarten wir von einer
       Regierungschefin nicht eher, dass sie Zukunft gestaltet und Visionen
       umsetzt, statt immer nur clever zu reagieren?
       
       Merkel ist also auch deshalb ein Glücksfall für die Demokratie, weil anhand
       ihres Stils besonders deutlich wird, dass unsere repräsentative Ordnung
       Systemfehler hat. In der Schule lernen wir, dass Exekutive (die
       vollziehende), Legislative (die gesetzgebende) und Judikative (also die
       richtende Gewalt) sich gegenseitig kontrollieren und so staatliche Macht
       begrenzen. In der Bundesrepublik wird das durch Regierung, Bundestag und
       die Gerichte realisiert. So steht es auch auf bundestag.de, der offiziellen
       Webseite unseres Parlaments.
       
       Nun verschafft unser Wahlsystem aber bekanntlich der Regierung mit der
       Kanzlerin an der Spitze gleichzeitig eine Mehrheit im Bundestag. In der
       Praxis – Stichwort Fraktionsdisziplin – stimmt sie also über ihre eigenen
       Vorschläge ab. Gewaltenteilung sieht anders aus. Eigentlich weiß es jeder,
       aber kaum einer spricht davon. Grund zur Revolution ist das trotzdem nicht.
       Unsere politische Kultur kennt andere Korrektive, die die wechselseitige
       Kontrolle bedingt ersetzen: Opposition, Ausschussarbeit, Vernunftehen bei
       der Koalitionsbildung und den Druck der öffentlichen Meinung. Damit sind
       wir bisher gut gefahren, die deutsche gilt als eine der handlungsfähigsten
       und gleichzeitig stabilsten Demokratien der Welt. Bisher.
       
       Unsere repräsentative Demokratie hat aber auch ein Repräsentationsproblem.
       Eine Partei mit einstelligem Wahlergebnis kann mehrere Minister stellen.
       Eigentlich sollen die Wahlen garantieren, dass diese wenigen die
       geeignetsten sind. Von der Wirksamkeit der Methode sind aber immer weniger
       überzeugt. Politiker-Verdruss hat Politikverdrossenheit abgelöst. Der
       Befund ist von rechts, von links und aus der Mitte zu hören. Die
       BürgerInnen interessieren sich sehr wohl für Inhalte, aber das
       Machterhaltungssystem Bundestag weckt Argwohn, nicht nur bei den
       sogenannten „Abgehängten“.
       
       Diesen Argwohn sollten Demokraten, gerade linksliberale, ernst nehmen. Denn
       das Repräsentationsproblem äußert sich ganz direkt als Klassenproblem. Die
       Juristen und Lehrer im Bundestag sind zwar – überwiegend – kluge
       Spezialisten, aber keine Volksvertreter.Die Unzufriedenheit machen sich
       allerorten Demokratiefeinde zunutze: Die Putins und Erdogans, die Orbáns
       und Kaczyńskis – demokratisch legitimierte Antidemokraten – basteln sich
       Autokratien zurecht; die AfD macht mit der Forderung nach mehr Demokratie
       Wahlkampf; und das Gefühl, bei der Wahl keine echte Wahl zu haben, kennt
       man bis in die bildungsbürgerlichen Eliten hinein.
       
       ## Wählen ist oligarchisch, losen demokratisch
       
       Es wäre also durchaus Zeit, über grundlegende System-Updates nachzudenken.
       Der eleganteste Vorschlag dafür ist 2.500 Jahre alt: „So gilt es, will ich
       sagen, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter per Los erfolgt, und
       für oligarchisch, dass sie durch Wahl geschieht“, schrieb Aristoteles.
       Genau! Lasst uns würfeln! Sechshundert politische Laien, fachkundig per Los
       bestimmt, würden unsere Gesellschaft um ein Vielfaches besser abbilden, als
       es der Bundestag momentan tut.
       
       Warum nicht einer traditionell gewählten Regierung, gern aus dem bekannten
       Parteienspektrum, ein solches Abstimmungsgremium entgegensetzen? Weil
       Politik nur in den Händen von sogenannten Experten gut aufgehoben ist? Dann
       muss man auch gegen freie Wahlen sein. Es ist der Kern der Idee von
       Volksherrschaft, dass die BürgerInnen in der Lage sind, ihre Interessen
       selbst zu vertreten.
       
       „Die Demokratie steht und fällt mit dem Engagement der Bürgerinnen und
       Bürger“, sagte Norbert Lammert, der beliebteste Parlamentarier dieser
       Jahre, jüngst in seiner Abschiedsrede als Bundestagspräsident. Warum dann
       nicht über strukturelle Erneuerungen nachdenken, die genau dieses
       Engagement begünstigen würden, statt es bloß vom Wahlvolk einzufordern?
       
       Irland zeigt, dass das funktioniert: Dort berät der Verfassungskonvent, 99
       per Los bestimmte BürgerInnen, das Parlament in Fragen, die
       Verfassungsänderungen betreffen. Die Ausgewürfelten nehmen ihre
       Verantwortung ernst und brachten das erzkatholische Land zu einigen
       überraschend liberalen Entscheidungen, etwa bei den Themen Abtreibung und
       Homo-Ehe. Ein vergleichbares Organ wäre vielleicht auch bei uns der erste
       Schritt – entschieden differenzierter jedenfalls als die überall
       geforderten Volksabstimmungen. Der Effekt wäre derselbe: Der Souverän, also
       die BürgerInnen, würde gestärkt.
       
       Das würde auch einem weltweiten Trend den Wind nehmen: Über Wahlsiege
       entscheiden immer mehr die Mittel, öffentliche Meinung zu manipulieren.
       Zwar sieht es nicht danach aus, als stünde eine Übernahme unserer
       politischen Instrumente durch Demokratiefeinde unmittelbar bevor – das
       dachte man allerdings in den USA noch bis zum Tag von Donald Trumps Wahl.
       Die Demokratie wehrhaft zu halten heißt auch, ernsthaft über ihre
       Erneuerung nachzudenken.
       
       17 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thilo Adam
       
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