# taz.de -- Ortstermin im Originalen „Muff“-Talar: „Die dachten, das sei ein Requisit“
       
       > In der Arbeitsstelle Hamburger Universitätsgeschichte findet sich noch
       > einer der Talare von vor 50 Jahren. Ein Besuch
       
 (IMG) Bild: Finale: Bannerträger Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer bleiben kurz vor der Bühne des Audimax stehen und zeigen das Banner dem staunenden Publikum
       
       HAMBURG taz | Müffelt der jetzt wirklich? Ist schon ein komisches Gefühl,
       in diesem schweren Talar von 1967 zu versinken, den man gar nicht allein
       anziehen kann mit all den Haken und Ösen. Aber der Hamburger Historiker und
       Universitätsprofessor Rainer Nicolaysen, der das Teil gerettet und in sein
       Büro gestellt hat, hilft beim Ankleiden. Jetzt noch die Halskrause, dann
       den Samthut – fertig. Fühlt sich an, als ob man einen Vorhang angezogen
       hätte. Rüstung und bleiernes Korsett in einem. Von Würde keine Spur.
       
       Gefunden hat Nicolaysen den Talar – und die 79 anderen, die damals dabei
       waren – vor einigen Jahren im Keller des Audimax der Hamburger Universität.
       Ordentlich gefaltet lagen sie in Umzugskisten, als habe man sie schamhaft
       verstecken wollen.
       
       Historiker Nicolaysen, zugleich Leiter der Arbeitsstelle Hamburger
       Universitätsgeschichte, war jedenfalls froh, dass sie noch da waren und hat
       sich gleich einen für sein Büro stibitzt. Allerdings, den Muff wollte er
       nicht ständig um sich haben. „Also habe ich den Talar in die Reinigung
       gebracht. Keine Sorge, nur den einen. Die anderen, die jetzt im
       Universitätsarchiv hängen, müffeln noch original“, sagt er.
       
       Als er den Talar aus der Reinigung holen wollte, war er verschwunden. Man
       hatte ihn für ein Requisit gehalten und versehentlich zur Oper gebracht.
       „So weit weg sind wir heute vom Geschehen, dass wir einen Talar gar nicht
       mehr als Berufskleidung wahrnehmen, sondern als Verkleidung“, sagt
       Nicolaysen.
       
       Dabei haben die Ordinarien am 9. 11. 1967 wirklich so ausgesehen, bei der
       Feier des Rektorwechsels an Hamburgs Universität, die als „Muff“-Aktion
       Geschichte schrieb. „Ja, so ein Talar mit Hut verändert schon“, sagt
       Nicolaysen zur verkleideten Journalistin. Ob zum Positiven, darauf will er
       sich nicht recht festlegen.
       
       Muss er auch nicht. Es reicht, sich ein zeitgenössisches Zeitungszitat ins
       Gedächtnis zu rufen, das da lautet: „Unter dem Samthut eines Ordinarius
       sieht noch das intelligenteste Gesicht blöde aus.“ Gemeint waren jene
       Ordinarien, die sich – ausgerechnet an Hamburgs 1919 als Reformprojekt
       gegründeter Universität – 1927 aus nicht öffentlichen Kassen 80 Talare
       angeschafft hatten und so autoritär herrschten wie an anderen Unis auch.
       
       Dabei passten die starre Hierarchie und die räumliche Enge längst nicht
       mehr zur wachsenden Studentenschaft. Unermüdlich hatten die
       Asta-Vorsitzenden Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer, selbst
       SPD-Mitglieder, mit dem Senat über Reformen gesprochen, Albers seinen
       berühmten Traktat über ein neues Mitbestimmungsmodell, die Drittel-Parität,
       verfasst. Aber die Politik bewegte sich nicht. Am 2. Juni 1967 erschoss ein
       Polizist in Westberlin dann den Studenten Benno Ohnesorg bei einer
       Anti-Schah-Demonstration, und Hamburgs Ordinarien weigerten sich, den
       Lehrbetrieb während der Trauerfeier ruhen zu lassen.
       
       Das war zu viel der Enttäuschung, und der studentische
       „Initiativ-Ausschuss“ – Albers, Behlmer, Wehrhart Otto und Jens Litten –
       schritt zur Tat: Behlmer beklebte eine Nacht lang ein Stück
       Ohnesorg-Trauerflor mit Leukoplast. Den Spruch hatte er aus Parolen von
       Bauzäunen des Uni-Campus montiert und aus „100 Jahren Mief“ „1000 Jahre“
       gemacht, weil es dramatischer klang. Sogar geprobt haben die beiden
       Jurastudenten ihren Auftritt – auf der Moorweide, nicht weit vom Campus. Es
       musste ja schnell gehen, wenn sie sich vor die einziehenden Ordinarien
       stellen wollten.
       
       „Wobei nicht nur der Slogan ausgesprochen treffsicher war“, sagt
       Nicolaysen. „Auch die Aktion selbst war einfach pfiffig: Diesen Spruch so
       zu präsentieren, dass ausgerechnet die hinterher laufenden Ordinarien ihn
       nicht lesen konnten, war schon ein echter Coup. Die Professoren also
       buchstäblich vor-zuführen und das Statussymbol Talar in Sekunden zu etwas
       Karnevaleskem zu machen, war einfach gut durchdacht.“
       
       Ganz überraschend kam die Aktion nicht: Der Asta hatte informiert, dass da
       „etwas geplant“ sei. Und das Hamburger Abendblatt schrieb am 8. 11. 1967,
       diese Feier werde wohl anders verlaufen als sonst. Der akademische Senat
       allerdings zog genau die falsche Folgerung und forderte die Ordinarien auf,
       zahlreich im Talar zu erscheinen.
       
       „Da war die Empörung darüber, dass jemand diese Feier zu stören wagte,
       unter den Ordinarien groß“, sagt Nicolaysen. „Sie sahen das als schwere
       Entgleisung an.“ Schulsenator Wilhelm Drexelius glaubte es gar mit einem
       Stoßtrupp aus Berlin zu tun zu haben – obwohl Behlmer und Albers auch in
       Politikerkreisen be- und anerkannt waren.
       
       Immerhin waren die Ordinarien so klug, den Studenten kein
       Disziplinarverfahren anzuhängen. „Das wurde im Akademischen Senat lebhaft
       diskutiert, wie sich aus den Protokollen ergibt“, sagt Nicolaysen. „Am Ende
       setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Studenten große öffentliche
       Sympathien genossen und ihre Bestrafung auf die Ordinarien selbst
       zurückfallen würde.“
       
       Das stimmte. Sogar das Hamburger Abendblatt schrieb: „Die Älteren müssen
       jetzt auf die Jüngeren zugehen“. Manche behaupteten allerdings, die
       Studenten seien öffentlich angegriffen worden. „Das ist wohl eher eine
       Legende“, sagt Nicolaysen. „Wie auch die in der 68er-Literatur zu lesende
       Behauptung, die Feier am 9. 11. 1967 sei bald nach der „Muff“-Aktion
       abgebrochen worden.“
       
       Das Gegenteil war der Fall. „Natürlich war das ein Eklat“, sagt Nicolaysen.
       „Aber danach haben Albers und Behlmer das Banner zusammengerollt, sich
       hingesetzt, und die Veranstaltung wurde beinhart drei Stunden lang
       durchgezogen – einschließlich eines einstündigen ökonomischen Fachvortrags
       des neuen Rektors Werner Ehrlicher.“
       
       Die Rede des Asta-Vorsitzenden Björn Pätzold, der Uni-Missstände „von A bis
       Z“ auflistete, wird den Ordinarien weniger gefallen haben, und beim
       Hinausgehen rief einer von ihnen: „Ihr gehört alle ins KZ.“ Die Studenten
       suchten ihn steckbrieflich, und drei Tage später zeigte sich der Philologe
       Bertold Spuler beim Senat selbst an. Er habe sich „in der Erregung“ zu
       diesem Zuruf „an die randalierenden Studenten“ verleiten lassen, sagte er.
       Es tue ihm leid.
       
       Das einstige Gestapo-Mitglied Spuler war nicht der einzige Ex-Nazi unter
       den Professoren. Im eingangs anprobierten Samthut stehen die Namen zweier
       NS-belasteter Vorbesitzer: des Historikers Otto Westphal und des
       klassischen Philologen Ulrich Knoche.
       
       Allerdings hat der Bezug zum „1.000-jährigen Reich“ und damit zur
       Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Professoren im November 1967 wohl
       keine Rolle gespielt. „Zwar haben mir etliche Zeitzeugen gesagt, sie hätten
       den Spruch damals sofort auf die NS-Zeit bezogen“, erzählt Nicolaysen, aber
       die historischen Quellen gäben das nicht her. „Wenn die Ordinarien diesen
       Vorwurf wahrgenommen hätten, hätten sie sich dagegen verwahrt“, sagt er.
       „Aber in den Sitzungsprotokollen kommt das nirgends vor. Auch der damalige
       Asta habe sich mit keinem Wort der Bloßstellung des „braunen“ Lehrkörpers
       gerühmt, kein Zeitungsartikel greife es auf.
       
       „Ein halbes Jahr später kann das schon anders gewesen sein“, sagt
       Nicolaysen. „Aber nicht im November 1967. Da ging es um konkrete Hamburger
       Universitätsbelange.“ Alles andere sei nachträgliche Deutung, Überblendung.
       
       Überhaupt dürfe man einen Zeitzeugenbericht nicht mit einer historischen
       Quelle verwechseln. „Was ein Zeitzeuge über den 9. 11. 1967 erzählt, ist
       nicht das, was geschah, sondern das, was er oder sie heute erinnert“, sagt
       Nicolaysen. „Das ist etwas kategorial anderes, was der Erinnerung selbst
       natürlich nicht ihren Wert nimmt.“
       
       Historische Quellen hat Nicolaysen eine Menge in seinem Archiv für
       Universitätsgeschichte. Es gehört zur Arbeitsstelle für die Geschichte der
       Universität Hamburg – der deutschlandweit einzigen ihrer Art. Gegründet
       wurde das Archiv 1983, als die Universität – 50 Jahre nach Hitlers
       Machtergreifung 1933 – ihre Geschichte aufarbeiten wollte. Historiker
       Eckart Krause gründete damals das bis heute wachsende Projektarchiv mit
       30.000 Büchern und Dokumenten, darunter eine der größten
       Flugblatt-Sammlungen Deutschlands.
       
       „Das ist ein großer Fundus, in dem es noch viel zu forschen gibt“, sagt
       Nicolaysen. Oder, wie es der Historiker Norbert Frei 2008 treffend
       formuliert habe: „Das deutsche ,68' ist noch immer ,überkommentiert und
       untererforscht‘.“ In den meisten Veröffentlichungen kämen Betroffene,
       Gegner und Befürworter zu Wort, sagt Nicolaysen. „Aber es gibt nur wenige,
       die sich intensiv mit den Quellen beschäftigt haben.“
       
       Andererseits – was ist authentisch? Ist es eine Feier wie diejenige am 9.
       11. 2017 im Audimax, an der auch Gert Hinnerk Behlmer teilnehmen wird? „Ich
       freue mich sehr auf das Podiumsgespräch“, sagt Nicolaysen. „Aber wir müssen
       uns natürlich auch fragen, was wir da eigentlich inszenieren. Wir können
       und wollen uns ja nicht in die damalige Zeit zurückversetzen. Wir gucken
       doch immer von heute aus.“
       
       Diese Überlegungen gingen so weit, dass man zweifelte, ob man das Banner –
       heute im Staatsarchiv gehütet – zeigen solle. Denn ein solches Re-Enactment
       könnte ja selbst komische Züge annehmen.
       
       Und natürlich steht dahinter die Frage, was genau wir heute feiern. Ist es
       das Gelingen oder das Scheitern der 68er? „Der revolutionäre Anspruch der
       1968er ist gescheitert“, sagt Nicolaysen. „Nicht aber die Idee der
       Liberalisierung von Universität und Gesellschaft.“
       
       Das zeigte sich schnell: nicht nur, dass der Dekan den Rektoren vier Tage
       nach der „Muff“-Aktion riet, die Talare nicht mehr zu tragen. Zwei Jahre
       später beendete das Hamburger Universitätsgesetz die Alleinherrschaft der
       Ordinarien – zugunsten der Gruppen-Universität mit paritätischer
       Mitbestimmung von Ordinarien, akademischem Mittelbau und Studenten.
       
       5 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
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