# taz.de -- Weihnachtsdiskussion auf Twitter: Das Evangelium nach Ulf
       
       > Der Chefredakteur der „Welt“ findet die Christmette zu links. Die
       > Twittergemeinde schreibt ihm daraufhin eine neue frohe Botschaft.
       
 (IMG) Bild: Juso-Kampfverband beim Singen der Internationale
       
       Der Priester spricht: Der Herr sei mit euch. Die Gemeinde antwortet: Und
       mit deinem Geiste. Lesung aus dem Buche Twitter.
       
       Am heiligen Abend, als alle Welt es geschätzt hatte zur Christmette zu
       gehen, um vorher oder danach die Geschenke auszupacken und die Gänse in
       sich zu stopfen, da packte den Herrn der Zorn. „Wer soll eigentlich noch“,
       fragte der erzürnte Herr von [1][Welt auf Twitter], „freiwillig in eine
       Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend
       bei den #Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?“ Und fortan war kein
       Halten mehr.
       
       Denn der christmettenenttäuschte Tweet stammte von niemand geringerem als
       Ulf Poschardt, bekennender FDP- und Porscheliebhaber und nebenbei noch
       Chefredakteur der Welt. Und die Botschaft des Herrn wurde geliked, geteilt
       ohn’ Unterlass – und noch heftiger kritisiert.
       
       „Deutet das nicht eher darauf hin, dass christliche Werte wie
       Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Umweltschutz am ehesten bei der Grünen
       Jugend und den Jusos vertreten werden? Oder sollte Kirche an Weihnachten
       lieber wie AfD und Junge Union predigen?“, [2][fragte etwa der
       Politikberater Lucas Gerrits] und wurde darob virtuell tausendfach geherzt.
       
       Justizstaatssekretär [3][Ulrich Kelber (SPD) warf dem Kirchenkritiker
       Poschardt vor], er habe „ein beängstigend nach rechts unten verschobenes
       Koordinatensystem“. Und wollte vom Welt-Chef wissen: „Nächstenliebe und
       Bewahrung der Schöpfung stören Sie also als christliche Inhalte? Was wäre
       Ihnen denn wichtig?“
       
       Grünen-Chefin [4][Simone Peter hingegen fühlte sich angespornt], „mal
       wieder in eine Christmette“ zu gehen. Denn „Einmischung brauchen wir mehr
       denn je bei #Ungleichheit, #Abschottung, #Klimakrise.“
       
       Poschardt aber lobpreiste jede Gegenstimme, kommentierte vieles mit einem
       schlichten „qed“ – wobei er im Ungefähren ließ, was genau er denn bewiesen
       haben wollte – und [5][freute sich schließlich fast ohne Schaum vor dem
       Munde]: „Herrlich wie dieser Tweet von einer Allianz aus #spd #grüne
       #justemilieu-medien zerfetzt wird #qed“. Als ob die Kritik des Kritikers
       für ihn das größte Weihnachtsgeschenk aller Zeiten gewesen sei, garnierte
       Poschardt jeden seiner verbalen Schienbeitritte mit einem freundlichen
       „Frohes Fest“.
       
       Da aber brachen alle Dämme. Spätestens als [6][Danijel Majic, Redakteur bei
       FR-Online, am ersten Weihnachtstage, twitterte]: „Ich muss sagen, ich finde
       diesen Tweet so grandios, dass er eigentlich schon seinen eigenen Hashtag
       verdient: #PoschardtEvangelium“ und anschließend die Lesung aus dem
       neuesten Testament begann.
       
       „Und der Herr sprach: Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten
       Stein! Zu was anderem seit Ihr linken Gewalttäter ja nicht in der Lage!“,
       [7][hob Majic an]. „Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand
       kennt den Sohn als nur der Vater…und deshalb, sage ich Euch, ist die
       Erbschaftssteuer Raub und ein Gräuel im Auge des Allmächtigen!“, [8][legte
       er nach]. Und [9][machte weiter mit]: „Denn wer da hat, dem wird gegeben,
       dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was
       er hat. Denn so ist es recht! Wir dürfen Leistungsträger schließlich nicht
       durch zu hohe Abgaben bestrafen, während wir Müßiggänger belohnen.“
       
       Doch längst hatte Majic Jünger gefunden, die sein Wort in die Welt
       hinaustrugen und seine Weisheit ergänzten. „Darauf hub der neoliberale
       Samariter an und sprach zu dem unter die Räuber Gefallenen: Wahrlich ich
       sage dir, wir können nicht allen helfen. So kümmere dich nun
       eigentverantwortlich um deine Rettung, statt leistungslos im Staube zu
       liegen“, hieß es beispielsweise im Neuen Ulf-Evangelium [10][laut einem
       Guido]. „Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin und
       behalte alles, was du hast, und gib bloß nichts den Armen!“, [11][ergänzte
       eine Anna]. „Und Jesus traf auf die Alten, die in den Scheunen hausten, und
       sprach: Hättet ihr euch mal Eigentum angeschafft!“, [12][berichtete eine
       Marvelous Marcy].
       
       Nahezu das komplette Evangelium wurde binnen weniger Stunden unter dem
       Hashtag neoliberal neugeschrieben. Das Lesevergnügen dürfte nicht nur
       größer sein, als bei den allermeisten der unter dem Christbaum gefundenen
       Schmöker. Nein, es wurde wohl auch schon lange nicht mehr so heiß und
       inbrünstig um die tiefere Bedeutung der Frohen Botschaft gestritten, wie an
       diesem Weihnachtsfest. Auf Twitter.
       
       Der heilige Ulf aber zeigte sich unerschütterlich in seinem neoliberalen
       Glauben, nach dem jede Sozialromantik aus der Christmette zu verbannen sei,
       unterstellte ganz pharisäermäßig der Restwelt Pharisäertum, gab dem
       verlotterten Protestantentum eins mit, setzte hinter einen Papst-Tweet
       [13][ein offen zu interpretierendes Ausrufungszeichen] und betonierte sich
       schließlich [14][in bigottgütiger Kritikresistenz] ein: „Der Aufmarsch der
       Scheinheiligen. Die Richtigen fühlen sich angesprochen. Wunderbar. Frohes
       Fest.“
       
       Und als endlich die Metadiskussion über [15][den Sinn] von [16][politischen
       Predigten] im besonderen, sowie die [17][Qualität von Kirchenpredigten im
       allgemeinen] einsetzte und erste Vorschläge gemacht wurde, wie man [18][die
       Enttäuschung der Kirchgänger gleich welchen politischen Glaubens vermeiden]
       könnte, wurde auch noch die Nachricht recycelt, dass [19][Kardinal Marx
       schon kurz vor der Weihnacht eine Wiederkehr des Marxismus] voraussagte und
       dass Kardinal Woelki – zwar nicht in der Christmette, aber doch am ersten
       Weihnachtstag – [20][in seiner Predigt gegen Immobilienspekulanten]
       wetterte.
       
       Auf Twitter jedenfalls war Weihnachten in diesem Jahr ein poshes Fest der
       Hiebe und der Nächstenliebe.
       
       Der Priester schließt ab: Aus dem Twitter-Evangelium nach Ulf. Die Gemeinde
       antwortet: Ehre sei dir, o Herr.
       
       26 Dec 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/ulfposh/status/945078664445792256
 (DIR) [2] https://twitter.com/LucasGerrits/status/945087893919424512
 (DIR) [3] https://twitter.com/UlrichKelber/status/945234020937412608
 (DIR) [4] https://twitter.com/peter_simone/status/945213388975681537
 (DIR) [5] https://twitter.com/ulfposh/status/945243789987385344
 (DIR) [6] https://twitter.com/DanijelMajic/status/945269734001594369
 (DIR) [7] https://twitter.com/DanijelMajic/status/945271217317187586
 (DIR) [8] https://twitter.com/DanijelMajic/status/945272493488603136
 (DIR) [9] https://twitter.com/DanijelMajic/status/945277383283761154
 (DIR) [10] https://twitter.com/Guido_Markus/status/945276531735011328
 (DIR) [11] https://twitter.com/annalog1102/status/945288841862303744
 (DIR) [12] https://twitter.com/marciii04/status/945313659873619968
 (DIR) [13] https://twitter.com/ulfposh/status/945272088608296961
 (DIR) [14] https://twitter.com/ulfposh/status/945302970001960960
 (DIR) [15] https://twitter.com/Fischblog/status/945357589637943296
 (DIR) [16] https://twitter.com/fpiatov/status/945412902449766400
 (DIR) [17] https://twitter.com/LorenzMaroldt/status/945354006196563968
 (DIR) [18] https://twitter.com/sixtus/status/945429386966204416
 (DIR) [19] https://twitter.com/tagesschau/status/944600202043973632
 (DIR) [20] https://twitter.com/WDR/status/945338415897341952
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gereon Asmuth
       
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