# taz.de -- Kolumne „Der Rote Faden“: Pudel des Postfaktischen
       
       > Dieses verbale Nebelkerzenwerfen, hinter dem die nackte Ratlosigkeit
       > steht. Bleibt das jetzt so, oder geht das wieder weg?
       
 (IMG) Bild: Wenn Autoritäre irgendwas nicht mögen, dann ist es, lächerlich gemacht zu werden
       
       An Ereignissen und Terminen fehlte es eigentlich nicht – und trotzdem
       schien sich vergangene Woche merkwürdig zu dehnen, ungefähr so wie die
       „intelligente Knete“ meiner Tochter, die jede Menge Action verspricht,
       letzten Endes aber doch bloß im Teppich klebt. Oder in den Haaren.
       Irgendwie fühlt es sich wieder so an wie in der ersten Januarwoche, als das
       Jahr noch nicht richtig in Gang gekommen und das Feuerwerk längst verpufft,
       aber der Müll noch nicht weggeräumt war.
       
       Noch immer gibt es keine Regierung, dafür hängt nach den Sondierungen eine
       ganze Menge Sprachmüll im Rinnstein des Regierungsviertels: „Rote Linien“,
       „atmende Deckel“, „herbe Konzessionen“ und „solide Gesprächsgrundlagen“,
       über die Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit oder zum Supermarkt hinweg
       steigen.
       
       Dieses verbale Nebelkerzenwerfen, hinter dem die nackte Ratlosigkeit steht,
       bei den Gewählten wie großen Teilen der Wählenden – bleibt das jetzt so?
       Oder geht das wieder weg? Darüber macht sich auch das Wissenschaftszentrum
       Berlin für Sozialforschung (WZB) Gedanken und lud für seine Debattenreihe
       „Achtung: Demokratie“ am Mittwoch den australischen Politologen John Keane
       ein, um über das Phänomen „Post-Truth“ nachzudenken, also jenes jetzt
       eingetretene Zeitalter, in dem die Wahrheit keine Rolle mehr spielt.
       
       Passend dazu wurde tags zuvor von einer dem Sprachgefühl verpflichteten
       Jury der Begriff „alternative Fakten“ (im Original alternative facts, eine
       Wortschöpfung von Donald Trumps Sprecherin Conway), zum deutschen Unwort
       des Jahres gekürt.
       
       ## Die gute alte Lüge
       
       Im WZB führte eine Mitarbeiterin mit einer launigen Verlesung von
       post-facts ins Gedankenreich des Irrationalen ein: „13-jähriges Mädchen
       stundenlang von südländischen Männern gequält! Hillary Clinton betreibt im
       Keller einer Pizzeria einen Kinderschänderring! Impfungen führen zu
       Autismus!“
       
       Danach analysierte Keane – untermalt von Videomaterial mit entsprechenden
       Beispielen – die Mechanismen, deren sich Post-Truth-Politiker von Donald
       Trump über Marine Le Pen bis Rodrigo Duterte bedienen: die gute alte Lüge,
       gut gemischt mit verdrehten Fakten, absichtsvoller Unschärfe und gezielt
       eingestreuten grotesken oder vulgären Elementen.
       
       Was auf Englisch noch viel wilder klang: political buffoonery (Clownerie)
       und das besonders von Trump gezielt angewandte „Gaslighting“, eine
       psychologische Manipulationsstrategie, die nach dem Spielfilm „Das Haus der
       Lady Alquist“ („Gaslight“) von 1944 benannt ist. Darin manipuliert Ingrid
       Bergmans Lover die Gaslampen im gemeinsamen Haus, sodass sie flackern, und
       lässt Dinge verschwinden, die hinterher in Bergmans Tasche wiederauftauchen
       – auf die absichtsvolle Desorientierung folgt die systematische
       Destabilisierung der Persönlichkeit seiner Frau. „Schatz, du bist verwirrt,
       in dem Zustand solltest du nicht unter die Leute.“
       
       Was man gegen politisches Gaslighting unternehmen kann? Als mögliche
       Gegenstrategie wider den scheinbar übermächtigen Bullshit setzt Keane auf
       Journalisten, die sich Zeit für Analyse nehmen, statt wie „poodles (Pudel)
       of post-truth“ an Trumps Twitter-Account zu hängen. Aber auch
       satirisch-parodistische Interventionen wie die jenes Künstlers, der das von
       Trump rassistisch verwendete Wort „Shithole“ („Drecksloch“) an die Fassade
       des Trump International Hotel in der Innenstadt von Washington projiziert
       hatte. Wenn Autoritäre irgendwas nicht mögen, dann ist es, lächerlich
       gemacht zu werden.
       
       ## Viele Gesichter der Wahrheit
       
       Eigentlich wurde es aber erst nach dem Vortrag richtig interessant. Da ging
       es darum, ob nicht das ganze Konzept von „Wahrheit“ nicht schon seit der
       Aufklärung hinfällig sei und mithin die Kritik, etwas sei „Post-Truth“, ins
       Leere laufe – wer mag heutzutage noch von der einen Wahrheit sprechen?
       
       In China, sagte Keane, der auch in Schanghai lehrt, habe die Wahrheit
       traditionell viele Gesichter, auch unter australischen Ureinwohnern gebe es
       viele Wörter für unterschiedliche Abstufungen des Wahrheitsbegriffs – doch
       ausgerechnet in pluralistischen Demokratien werde die Idee einer
       universellen Wahrheit hochgehalten? Ob es nicht eher angebracht sei, wieder
       auf Tatsachen, auf Belegbares zu setzen, also eben auf „Facts“, entgegnete
       daraufhin ein Herr aus dem Publikum.
       
       Mir war ein wenig schwummerig. Leicht vernebelt im Kopf und mit einem
       großen Loch im Magen fuhr ich nach Hause. Dort tobte mal wieder eine
       Mathediskussion. Wenn es so viele Wege gibt, die zu einem Rechenergebnis
       führen, wieso gibt es dann nur eine unbestreitbare Lösung?
       
       „Es gibt viele Wege zur Wahrheit“, nuschelte ich erschöpft. Und musste
       einem Batzen intelligenter Knete ausweichen, der nach Tagen des
       Auseinanderlaufens wieder erstaunlich kompakt geworden war. Eine schöne
       Zusammenfassung dieser Woche, sozusagen.
       
       22 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Apin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) postfaktisch
 (DIR) Wahrheit
 (DIR) Lüge
 (DIR) Fake News
 (DIR) Propaganda
 (DIR) Wort des Jahres
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Propaganda-Ausstellung in München: Jenseits der Interpretation
       
       Das Münchner Lenbachhaus zeigt die Ausstellung „After the Fact. Propaganda
       im 21. Jahrhundert“. Sie verfehlt die Brisanz heutiger Propaganda.
       
 (DIR) Wort des Jahres: What the postfaktisch?
       
       Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt „postfaktisch“ zum Wort des
       Jahres 2016. In Diskussionen gehe es zunehmend um Emotionen statt Fakten.