# taz.de -- Debatte #MeToo: Ran an den Speck
       
       > Immer mehr Übergriffe durch prominente Männer kommen ans Tageslicht.
       > Unser Gastautor fragt sich: Gibt es auch übergriffige Frauen?
       
 (IMG) Bild: Ungewollte Berührungen – oft geht es um Machtstrukturen
       
       Um es gleich zu sagen: Die Situation bei einem Firmenevent im Herbst
       vergangenen Jahres, mit der ich mich hier befasse, hat nichts mit
       Vergewaltigung, Nötigung oder mit der inzwischen viel beschriebenen
       Besetzungscouch zu tun. Akteurin war eine renommierte Unternehmerin, aber
       der prominente Name wird hier nicht genannt. Es geht nicht darum, die
       notwendigen Enthüllungen der #MeToo-Debatte zu relativieren oder gar nach
       den vielen Vorwürfen gegen übergriffige Männer nun mit einer Retourkutsche
       zu kommen. Im Gegenteil: Es geht darum, #MeToo zu ergänzen.
       
       Was ist konkret passiert? Im vergangenen Herbst nehme ich auf Einladung an
       der Eröffnung des neuen Standorts eines großen deutschen Unternehmens teil.
       Für die Topmanagerin läuft alles gut an diesem sonnigen Tag: ihre
       Ansprache, die Gespräche mit den Geschäftspartnern und dann die Party auf
       der Terrasse des cool designten Fabrik- und Verwaltungsgebäudes.
       
       Gegen 19 Uhr färbt sich der Himmel orange-rosa, die Band spielt entspannten
       Jazz, und die glückliche Gastgeberin begibt sich – mit ihrem Ehemann im
       Schlepptau – auf einen Rundgang durch die plaudernden Gästegrüppchen.
       
       Dabei kommt sie auch an unseren Stehtisch, wo außer einigen Kollegen und
       mir auch ihr Kommunikationschef steht. Sie fordert uns auf, beim Fingerfood
       zuzugreifen, das auf Tabletts permanent an uns vorbeischwebt. Stunden zuvor
       hatten sie und ich uns einander vorgestellt und über die
       Millioneninvestition und die Standortentscheidung des Unternehmens
       gesprochen. Nun also geht es ums Essen. Ich fühle mich angesprochen und
       antworte mit einem „Nein danke“: Alles sehr lecker, aber man muss ja mal
       aufhören.
       
       Die Unternehmerin mustert mich von der Seite und entgegnet, ich hätte es
       doch nicht nötig, Diät zu halten. Das nicht, erwidere ich, verweise aber –
       verbal – auf zu viel Speck überm Gürtel. Daraufhin greift die Chefin über
       Milliardenumsatz, Tausende Mitarbeiter und Gesprächspartnerin politischer
       Topkreise kurz entschlossen zu. Sekundenschnell schiebt ihre Hand mein
       Jackett beiseite und kneift mir kräftig in die Hüfte.
       
       ## Das Klima am Tisch wird kalt
       
       Sie lacht. Ich lache nicht, sondern bin sprachlos. Das sind die
       gegenüberstehenden Zeugen der Szene auch. Die Unternehmerin verlässt
       ziemlich schnell den Stehtisch. Hat sie bemerkt, wie das Klima am Tisch
       vereiste?
       
       Als sie verschwunden ist, sind jedenfalls ein Kollege von einer großen
       deutschen Tageszeitung, eine junge Kollegin von einem Fachmagazin und ich
       uns einig: Hätte sich ein Unternehmer dasselbe bei einer Journalistin
       erlaubt, könnte ihn das schwer in die Bredouille bringen. Und hätte
       umgekehrt ich als Journalist die Taille der Firmenchefin einem Greiftest
       unterzogen, dann würde meine Karriere womöglich einen empfindlichen Knick
       erfahren.
       
       Ich wurde vor Publikum instrumentalisiert zum Objekt einer Geste, die als
       einseitiger jovialer Spaß – sozial gesehen – nur in eine Richtung
       funktioniert: von oben herab.
       
       Doch ich weiß nicht, wohin mit diesem Gedanken. Haben die Kollegen und
       Gesprächspartner recht, die mir davon abraten, die Sache öffentlich zu
       machen? „Hab dich nicht so“, lautet verkürzt ein robuster Rat – es war ja
       nichts Sexuelles, also kein Problem. Ich machte mich ungewollt zum
       Kronzeugen einer revanchistischen Männerbündelei, warnt einer. Und eine
       Gesprächspartnerin fragt, ob Männer sich nicht per se über jede Berührung
       von Frauen freuten.
       
       ## Worum es geht? Macht
       
       Ähnliches unterstellt auch ein Kollege: „Hätte Frau X einem Arbeiter in der
       Fabrik in launiger Runde an den dicken Bauch gepatscht und gesagt, da
       passen aber noch ein paar Semmeln rein, hätte der Arbeiter dies sicher
       nicht als Übergriff, sondern als etwas Kumpelhaftes betrachtet“, meint er.
       
       Frau X, die Unternehmerin, bleibt hier wie gesagt anonym, weil es nicht um
       einen so massiven Vorwurf wie im Fall Weinstein oder Wedel geht. Es geht
       nicht um sexuelle Gewalt. Und doch: Es handelt sich nicht um eine
       Marginalie, sondern um ein Handlungsmuster von allgemeiner Bedeutung.
       
       Durch jahrzehntelange Debatten und Bemühungen ist der Anteil weiblicher
       Führungskräfte in Deutschland gestiegen und wird weiter zunehmen. Ist dann
       alles gut? Gibt es dann kein übergriffiges Verhalten mehr? Das ist
       unwahrscheinlich.
       
       Frauenministerin Katarina Barley sagte [1][im November in einem
       taz-Interview zu #MeToo]: „Es geht um Machtstrukturen. Je höher eine Frau
       in der Hierarchie klettert, desto weniger ist sie physischen oder verbalen
       Übergriffen ausgesetzt.“ Aber was, wenn die mächtige Person innerhalb
       dieser Strukturen weiblich ist? Wenn Frauen etwa über die beruflichen
       Chancen anderer bestimmen? Kann es sein, dass eine solche Position
       womöglich auch manche Frau zu einem Missbrauch ihrer Macht verleitet – und
       zu übergriffigem Verhalten?
       
       Die Frage ist nicht nur theoretischer Natur. Die Antwort lautet: Ja, das
       kann sein.
       
       ## Worum es nicht zwangsläufig geht: Geschlecht
       
       Ein weiteres Beispiel: [2][Sachsen-Anhalts Bildungs-Staatssekretärin Edwina
       Koch-Kupfer soll ihren Chauffeur wie einen Leibeigenen behandelt haben.]
       Die Christdemokratin habe ihn nicht nur Blumen gießen, Kleidung zur
       Reinigung bringen und Einkäufe erledigen lassen, sondern gern auch seine
       hünenhafte Gestalt vorgeführt. Sie habe den früheren Ringer aus dem Auto
       aussteigen lassen und ihn mit den Worten „Schau dir mal meinen persönlichen
       Fahrer an“ Amtskolleginnen und privaten Bekannten präsentiert.
       
       So steht in einem juristischen Schriftsatz, der der Mitteldeutschen Zeitung
       vorliegt. Dem Fahrer wurde, wie das Bildungsministerium in Magdeburg
       bestätigt, gekündigt. Er wehrt sich vor dem Arbeitsgericht. Welches
       Fehlverhalten dem bis dahin untadeligen 53-Jährigen vorgeworfen wird,
       bleibt vorerst offen. Die Auseinandersetzung trug aber offenbar dazu bei,
       dass Koch-Kupfer Mitte Januar nach nicht einmal zweijähriger Amtszeit ihren
       Posten verlor.
       
       Offensichtlich geht es auch hier nicht nur um Geschlecht, sondern auch um
       die Macht, die etwa Vorgesetzte über Angestellte haben. Um Personen, die
       schon lange keinen Widerspruch mehr gewohnt sind und die Grenzen anderer
       nach Belieben ignorieren. Und es geht um die Frage, welche Möglichkeiten
       man hat, sich vor Übergriffen zu schützen oder darauf zu reagieren.
       
       Im Dezember sprach ich mit dem Kommunikationschef der Unternehmerin über
       eine mögliche Veröffentlichung des Vorfalls. Er hatte damals am Stehtisch
       rechts neben mir gestanden. Die Unternehmerin bestätige die Situation,
       sagte er. Sie sei nun erschrocken, wie das angekommen sei. Der Sprecher bot
       mir eine Entschuldigung seiner Chefin an. Am nächsten Tag aber drohte er –
       unterschwellig, aber unmissverständlich – im Fall einer Veröffentlichung
       mit negativen Folgen.
       
       12 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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