# taz.de -- Massenproteste in Armenien: Der gute Hirte
       
       > Armeniens Premier Sargsjan ist nach Protesten zurückgetreten.
       > Oppositionsführer Nikol Paschinjan kämpft nun für echten Wandel.
       
 (IMG) Bild: Proteste in Armenien: Wochendpause für Demonstranten
       
       ERIWAN taz | Mit einigen letzten Anweisungen schickt Nikol Paschinjan seine
       Anhänger erst mal in einen zweitägigen Urlaub. Freitag und Samstag sind in
       Eriwan keine Demonstrationen und Straßenblockaden geplant, verkündet der
       Oppositionsführer von der Bühne auf dem Platz der Republik.
       
       Wer keine Erholung bräuchte, den lade er aber ein, ihm am Wochenende nach
       Gjumri zu folgen. Armeniens zweitgrößte Stadt im Norden der
       Kaukasusrepublik, an der Grenze zur Türkei. Mit einer Kundgebung in Gjumri
       will Paschinjan den Schwung der Protestbewegung in die Provinz tragen.
       
       Wer in Eriwan bleibt, den fordert er auf, keine Straßen mehr mit Autos zu
       blockieren, die Kennzeichen der Wagen nicht mehr zu verdecken und
       vorsichtig zu fahren. Schon jetzt gibt sich Paschinjan staatstragend.
       
       Nikol, wie ihn die Armenier vertraut nennen, ist kein Hitzkopf. Ihm ging es
       zunächst um einen Politikwechsel. Daraus ist jetzt schon fast ein
       Systemwechsel geworden. Nach zehntägigen Protesten in Eriwan [1][trat
       Premierminister Sersch Sargsjan am vergangenen Montag zurück]. Das kam
       überraschend, denn niemand hatte mit diesem schnellen Abgang gerechnet.
       
       ## Unmut über Korruption und Vetternwirtschaft
       
       Erst eine Woche zuvor hatte Sargsjan das Amt des Premiers übernommen, nach
       einigen Mauscheleien. Zwei Amtsperioden als Präsident hatte er da bereits
       absolviert. Mehr sah die Verfassung nicht vor. Mit einer Gesetzesänderung,
       die die Kompetenzen des Präsidenten auf den Premier übertrug, wollte er das
       Land aus dem anderen Amt heraus aber weiterregieren.
       
       Hunderttausende gingen deshalb aus Protest auf die Straßen. Auch um ihrem
       Unmut über Korruption und Vetternwirtschaft Ausdruck zu verleihen. Die
       Welle der Empörung hat die Entscheidungsträger dazu bewogen, den Premier
       schnell zum Rückzug zu drängen. Viele von ihnen haben nicht nur Amt und
       Würden zu verlieren, auch ihre Besitztümer stehen bei einem Umsturz auf dem
       Spiel.
       
       Die herrschende Republikanische Partei hätte das kleine Land in
       einträgliche Lehnwesen aufgeteilt, sagt Tigran Aleksanyan. Der 29-jährige
       Volkswirt gehört zu den Demonstranten, die den Protest von Anbeginn
       mitgetragen haben. „Wir brauchen einen grundlegenden Wandel“, sagt er.
       
       Aleksanyan arbeitet an der Universität in einem Projekt als Fundraiser. Er
       studierte im Ausland und machte in der EU einen Bachelor-Abschluss. Für
       Politik interessierte er sich früher nicht so sehr. Die Luft zum Atmen
       werde in Armenien aber immer knapper. „Wir mussten etwas unternehmen“, sagt
       er.
       
       ## Demonstrationen und schlaflose Nächte
       
       Aleksanyan gehört zu einem Kreis Jüngerer, die auf Veränderungen drängen.
       „Illusionen haben wir keine, dass nach Jahrzehnten ein Neubeginn von heute
       auf morgen beginnen kann“, sagt er und streicht sich mit der Hand
       nachdenklich durch den Bart. Er ist müde vom tagelangen Demonstrieren und
       den vielen schlaflosen Nächten.
       
       Paschinjan ruft unterdessen noch mal zu Mäßigung auf. Unermüdlich erinnert
       er seine Anhänger, friedlich zu bleiben. Bisher gab es auch keine Gewalt.
       Die angeschlagenen Politiker aus der aktuellen Führung beruhigt Paschinjan
       immer wieder: Rache hätten sie nicht zu fürchten, weder Leben noch Eigentum
       seien in Gefahr. Sie sollten nur die Macht übergeben.
       
       Wenn man Paschinjan zuhört und sein Publikum betrachtet, merkt man: Er ist
       ein guter Redner. Er heizt den Zuhörern ein, setzt Emotionen frei.
       
       Äußerlich erinnert Paschinjan an einen Hirten aus der rauen Bergwelt des
       Kaukasus. Er trägt auch deren Uniform – grüne Militärkluft, graugrün
       geflecktes Tarn-T-Shirt, schwarzes Käppi, auf dem Rücken ein Rucksack mit
       Wasserflaschen, dazu Bergschuhe. Die letzte Rasur liegt schon länger
       zurück.
       
       Mit einer spontanen Demonstration mit 10.000 Teilnehmern zog Paschinjan am
       Mittwoch durch Eriwans Innenstadt. Die Polizei war ratlos und fuhr die
       Polizeiwagen beiseite, die den Marsch aufhalten sollten.
       
       Auch die Jugend begegnete der Polizei nicht wie Vertretern eines verhassten
       Systems. „Die Polizei macht sich keine Illusionen, wen sie verteidigt“,
       sagte ein Demonstrant. Manche Polizisten haben sich öffentlich schon mit
       der Opposition solidarisch erklärt, auch einige hohe Militärs sollen ihnen
       gefolgt sein, heißt es.
       
       Paschinjans Team beherrscht die sozialen Medien und ist auf vielen Kanälen
       und Messengern vertreten. Fällt das Internet aus, können Anweisungen so
       auch über andere Kommunikationswege übermittelt werden.
       
       Mit einem sanften Kurs gegenüber den offiziellen Machthabern will
       Paschinjan nach dem Rücktritt des Präsidenten aggressive Gegenattacken
       seiner Gegner vermeiden. Mancher aus der alten Machtclique würde sich nun
       überlegen, ob er den Oppositionellen nicht sogar unterstützen sollte, meint
       der Leiter des Eriwaner „Analysezentrums für Globalisierung“, Stepan
       Grigoryan. In der unsicheren Übergangszeit trägt das noch zur
       Verunsicherung bei.
       
       Oppositionsführer Paschinjan hatte bereits am Dienstag seinen
       Führungsanspruch erklärt und eine „vollständige und friedliche
       Machtübergabe“ gefordert. Der als kommissarischer Regierungschef
       eingesetzte Karen Karapetjan sagte daraufhin ein geplantes Treffen mit ihm
       ab.
       
       ## Öffentliche Verhandlung über Machtübergabe
       
       Ein Einschwenken in politischen Streitfragen lehnt Paschinjan ab. Am
       Mittwochabend holte er sich von den Demonstranten auf dem Platz der
       Republik das Plazet, sich als ihr Kandidat vom Parlament zum
       Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Am 1. Mai soll die Wahl stattfinden.
       Verhandlungen über die Machtübergabe, versicherte er, würden öffentlich und
       im Beisein von Journalisten stattfinden.
       
       Noch scheint es, als vollziehe sich der Rückzug der alten Machthaber in
       Raten. Paschinjans Koalitionsbündnis Yerk verfügt im Parlament nur über 9
       Stimmen von 109. Die Republikanische Partei besitzt die absolute Mehrheit.
       Wird sie auf einen Kandidaten verzichten?
       
       Äußerlich zeigt Paschinjan keine Zweifel, dass sein Plan gelingt. Was macht
       ihn so sicher? Werden die alten Machteliten wirklich zur Seite treten? Und
       wie verhält sich die Armee in der von Gegnern umlagerten Republik?
       
       Mit Aserbaidschan führt Armenien einen dauerhaften Krieg um die Enklave
       Bergkarabach. Die Beziehungen zur Türkei sind wegen des Genozids an den
       Armeniern 1915 äußerst unterkühlt. Und wie wird sich Moskau verhalten?
       Paschinjan ist kein Vertreter eines Westkurses, die Nähe zu Russland wird
       er nicht aufkündigen. Dafür hat er der russischen Opposition gezeigt, wie
       sie sich gegen ein korruptes System zur Wehr setzen kann. Und das mag den
       Kreml weit mehr beunruhigen als geopolitisches Geplänkel eines
       3-Millionen-Einwohner-Landes.
       
       27 Apr 2018
       
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