# taz.de -- Gynäkologin über Abtreibung in Italien: „Um vier Uhr früh anstellen“
       
       > Seit 40 Jahren ist Schwangerschaftsabbruch in Italien legal. Silvana
       > Agatone erzählt, wie Gesetz und katholische Realität aufeinanderprallen.
       
 (IMG) Bild: Ungewollt schwanger: in Italien ein echtes Problem
       
       taz: Frau Agatone, am 22. Mai 1978 bekam das stark vom Vatikan beeinflusste
       Italien ein liberales Abtreibungsrecht. Ist heute also die Situation für
       ungewollt Schwangere gut? 
       
       Silvana Agatone: Es ist ein gutes Gesetz. In den ersten zwölf Wochen sind
       Abtreibungen generell legal, wenn die Frau sich vorher einer ärztlichen
       Beratung unterzogen hat. Später sind sie möglich, wenn der Patientin bei
       einer Fortsetzung der Schwangerschaft schwere gesundheitliche Gefahren
       drohen oder wenn der Fötus gravierende Missbildungen hat. Die
       Schwangerschaftsabbrüche werden vom staatlichen Gesundheitsdienst
       kostenfrei durchgeführt. Gleich am Anfang, bei der Beratung, gehen die
       Probleme aber schon los.
       
       Inwiefern? 
       
       Die Schwangere geht zu einem gynäkologischen Beratungszentrum oder zum Arzt
       ihres Vertrauens. Sie braucht ein Beratungszertifikat, mit dem sie sich
       dann an eines der Krankenhäuser wenden kann, die den Eingriff vornehmen.
       Zahlreiche Ärzte verweigern diese Beratung aber.
       
       Das ist gesetzeskonform? 
       
       Ja. Das Gesetz kam in diesem Punkt den Katholiken entgegen. Ärzte können
       sich zu Abtreibungsverweigerern aus Gewissensgründen erklären. Und die Zahl
       dieser Verweigerer steigt stetig: Noch im Jahr 2005 lag ihre Quote bei 58
       Prozent, mittlerweile haben wir 71 Prozent erreicht. Und in Regionen wie
       Kampanien mit seiner Hauptstadt Neapel oder dem Latium, zu dem auch Rom
       gehört, kommen wir auf 85 bis 90 Prozent.
       
       Was heißt das für die ungewollt schwangeren Frauen? 
       
       Dass sie einen wahren Hindernislauf auf sich nehmen müssen. In manchen
       Regionen müssen sie ein Krankenhaus nach dem anderen abklappern, um in
       Erfahrung zu bringen, ob sie dort einen Platz für den Eingriff finden. Hier
       in Rom haben wir uns untereinander koordiniert. Das war nicht schwierig –
       schließlich sind es nur sieben Kliniken, die Abtreibungen vornehmen, in
       einer Stadt mit drei Millionen Einwohnern. Aber auch bei uns sind die
       Plätze begrenzt. Beim Krankenhaus San Camillo etwa müssen die Frauen sich
       schon um vier Uhr früh anstellen, weil für die obligate Beratung lediglich
       zehn Frauen pro Tag akzeptiert werden. Wir mussten auch schon Patientinnen
       aus Kampanien aufnehmen, weil sie dort einfach kein Krankenhaus fanden, das
       vor Ablauf der vorgeschriebenen zwölf Wochen zum Eingriff bereit gewesen
       wäre. Es ist bezeichnend, dass das Gesundheitsministerium nie Erhebungen
       dazu durchgeführt hat, wie und unter welchen Schwierigkeiten Frauen in der
       Praxis die Prozedur der Abtreibung durchlaufen.
       
       Sie sind kurz nach der Legalisierung Gynäkologin geworden. Warum? 
       
       Nicht wegen Abtreibungen, sondern wegen Geburten. Ich hatte einen
       Dokumentarfilm gesehen, der zeigte, unter welch großen Schmerzen Frauen oft
       niederkamen, ohne dass es die Ärzte interessierte. Für mich war klar: Ich
       wollte als Frauenärztin arbeiten, um vorneweg den Frauen beizustehen, in
       jedweder Situation. Also auch bei ungewollten Schwangerschaften.
       
       Wie war denn die rechtliche Situation vor 1978? 
       
       Vorher hatte Italien äußerst rigide Normen. Es war bis in die 50er Jahre
       hinein sogar verboten, Empfängnisverhütung zu propagieren, das konnte mit
       bis zum einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Und Abtreibungen waren bis
       1978 generell verboten, den Frauen drohten bis zu vier Jahre Haft. Die
       Folge liegt auf der Hand: Wer genügend Geld hatte, ließ bei einem willigen
       Gynäkologen oder auch im Ausland abtreiben, die anderen waren auf
       sogenannte Engelmacherinnen angewiesen; da wurde dann mithilfe eines hoch
       konzentrierten Petersiliensuds abgetrieben, der die Nieren irreversibel
       schädigen konnte, oder mit Stricknadeln, mit denen den Frauen oft schwere
       Verletzungen zugefügt wurden. Immer wieder kam es zu Todesfällen.
       
       Wie erklären Sie sich, dass die „Verweigerer“ mehr werden statt weniger?
       Italien ist in den letzten Jahren doch nicht katholischer und konservativer
       geworden, wenn es um Bürgerrechte geht. 
       
       Das liegt oft an dem Umfeld, in dem die Ärztinnen und Ärzte arbeiten. Ich
       habe im Jahr 2008 [1][Laiga] gegründet, eine Vereinigung der nicht
       verweigernden Gynäkologen. Damals rief ich in vielen Krankenhäusern an. Aus
       diversen norditalienischen Regionen hieß es: „Das ist bei uns kein
       Problem“. Aus einer norditalienischen Klinik hörte ich zu meiner großen
       Überraschung, dass dort alle Frauenärzte bereit waren,
       Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. In den meisten Krankenhäusern des
       Landes, die ich kontaktierte, gab es dagegen gerade mal einen Arzt, der
       nicht zur Front der Verweigerer zählte – umzingelt von Kolleginnen und
       Kollegen, die sich auf ihr Gewissen beriefen. Oft genug wird dieser eine
       Arzt dann gleichsam als „Krimineller“ betrachtet, als das schwarze Schaf.
       
       Und findet sich dann völlig isoliert. 
       
       Nicht bloß von den anderen Frauenärzten, sondern auch von Anästhesisten und
       Krankenpflegern, die ebenfalls ihre Gewissensentscheidung gegen die
       Abtreibung reklamieren.
       
       Auch das Pflegepersonal hat dieses Recht? 
       
       Im Gesetz steht es nicht, aber selbst das Gesundheitsministerium tut so,
       als ob. Jedes Jahr werden Listen der Verweigerer veröffentlicht: Darauf
       stehen Gynäkologen, aber auch Anästhesisten und Krankenpfleger. Das ist
       gleichsam der amtliche Stempel, dass sie zu dieser Entscheidung berechtigt
       sind. Es ist absurd; eine Pflegekraft, die einer Frau nach einer Abtreibung
       ein Antibiotikum verabreicht, hat doch an dieser Abtreibung gar nicht
       mitgewirkt.
       
       Wenn einer bei den Verweigerern nicht mittut – wirkt sich das auf seine
       Karriere aus? 
       
       Auf jeden Fall. Bei den Aufstiegschancen in den Krankenhäusern etwa stehen
       die zu Abtreibungen bereiten Ärzte hintan. In den letzten Jahren gingen
       fast alle Chefarztstellen in den gynäkologischen Abteilungen an katholische
       Ärzte, die hervorragend in Seilschaften organisiert sind. Wer bei denen was
       werden will, weiß genau, dass er sich besser in die Front der
       Gewissensverweigerer einreiht. Unter den Hunderten Gynäkologiechefärzten in
       ganz Italien finden wir nicht mal zehn aus dem Lager der
       Abtreibungswilligen.
       
       Wie sieht das im Klinikalltag aus, wenn nur ein Arzt, eine Ärztin für
       Abtreibungen zur Verfügung steht? 
       
       Extrem schwierig. Auch dieser Arzt ist ja keineswegs deshalb Gynäkologe
       geworden, weil er unbedingt ausschließlich Abtreibungen vornehmen wollte.
       Und was ist, wenn er Urlaub nimmt oder krank wird? Und erst recht: Was ist,
       wenn er in Rente geht? Die Krankenhausverwaltungen kümmern sich nicht und
       überlassen die Lösung der Probleme meist den Ärzten, die zu Abtreibungen
       bereit sind. Einige Krankenhäuser haben allerdings Gynäkologenstellen mit
       dem Passus ausgeschrieben, dass nur abtreibungswillige Ärzte infrage
       kommen.
       
       Und das funktioniert? 
       
       Wir hatten in der Vergangenheit oft genug Fälle, in denen auch diese Ärzte
       nach einigen Monaten ihr „Gewissen“ entdeckten. Und als letztes Jahr das
       Krankenhaus San Camillo in Rom eine Ausschreibung mit dem Zusatz vornahm,
       eine spätere Gewissensverweigerung werde die Entlassung nach sich ziehen,
       gab es einen Aufschrei der Katholiken, weil sie sich diskriminiert sahen.
       Das ist völlig absurd: Ich selbst könnte mich nie an einem katholischen
       Krankenhaus bewerben, weil ich abtreibe. Das findet in Italien keiner
       erstaunlich, da spricht keiner von Diskriminierung, auch wenn diese
       Kliniken sich mit staatlichen Geldern finanzieren. Aber die Katholiken
       reklamieren für sich Posten in staatlichen Krankenhäusern mit der Ansage,
       sie würden niemals abtreiben.
       
       Sehen Sie ein Rollback? 
       
       Mit Blick auf die italienische Gesellschaft eher nicht. Aber hier wie
       anderswo gilt: Den Menschen ist nicht bewusst, dass das Recht auf
       Abtreibung keineswegs für immer gesichert ist. Das haben wir in Spanien, in
       Portugal, in Polen gesehen, mit den Versuchen, die Dinge zurückzudrehen.
       Ähnliches könnte auch in Italien drohen. Abgesehen davon, dass wir hier
       immer noch auf den Tag warten, an dem unser an sich sehr gutes Gesetz
       tatsächlich so umgesetzt wird, wie es auf dem Papier steht.
       
       22 May 2018
       
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