# taz.de -- Katrin Göring-Eckardt im Interview: „Wo bleibt die Humanität?“
       
       > Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt verlangt, dass sich die
       > Union wieder zusammenreißt. Auch eine Regierungsbeteiligung der Grünen
       > schließt sie nicht aus.
       
 (IMG) Bild: Göring-Eckardt: „Wir müssen uns auf die Zeit nach Merkel einstellen“
       
       taz: „Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten“, soll Horst Seehofer über
       Angela Merkel gesagt haben. Mit dem Blick auf mögliche Folgen – könnten
       vielleicht die Grünen mit der Kanzlerin arbeiten, indem sie den Platz der
       CSU übernähmen? 
       
       Katrin Göring-Eckardt: Horst Seehofer hat gleichzeitig gesagt: „Niemand in
       der CSU hat Interesse, die Kanzlerin zu stürzen.“ Mich erinnert das an
       Walter Ulbricht; der hat auch gesagt, niemand habe die Absicht, eine Mauer
       zu bauen. Was Seehofer jetzt veranstaltet, das gefährdet nicht nur die
       Regierung, das gefährdet auch den Frieden im Land und in Europa. Das ist
       unverantwortlich.
       
       Gleichzeitig gilt: Dass die Grünen regieren könnten und gestalten wollen –
       daran gibt es sicherlich keinen Zweifel. Aber für „Was wäre, wenn
       …?“-Spekulationen ist die Zeit viel zu ernst. Ich verlange, dass die Union
       sich jetzt zusammenreißt und beweist, dass CDU und CSU überhaupt noch
       regierungsfähig sind.
       
       Angesichts des heftigen Streits: Sind Sie als Grüne jetzt froh, dass Sie
       nicht mit Horst Seehofer in einer Regierungsmannschaft sind? 
       
       Ich frage mich vielmehr, wo eigentlich die Regierungspartei SPD steckt. Das
       wäre mit den Grünen sicherlich anders gelaufen. Aber zur CSU: Es geht
       dieser Partei doch nur darum, sprachlich zu eskalieren und sich inhuman zu
       profilieren. Wer sich hinstellt und von „Tourismus“ schwadroniert, wenn es
       um Menschen auf der Flucht geht, wer sich gegen Multilateralismus und gegen
       Europa aufstellt, der versucht, dem äußeren rechten Rand hinterherzulaufen.
       Da ist für mich völlig klar: Mit dieser CSU könnten wir unmöglich
       zusammenfinden.
       
       Halten Sie den Bruch innerhalb der Unionsfamilie für möglich? Was würde
       dann aus Angela Merkel? 
       
       Ich halte zurzeit nichts für ausgeschlossen. Auch nicht, dass sich die
       Union irgendwie einigt. Aber wenn, dann sicherlich zulasten der Humanität.
       Und was aus Angela Merkel wird? Wir müssen uns jetzt auf die Zeit nach
       Merkel einstellen, wann immer das sein wird. Natürlich ist der Auslöser der
       Krise der Rechtsschub der CSU und von Teilen der CDU. Aber jetzt rächt es
       sich eben, dass Angela Merkel in der ganzen Zeit ihrer Kanzlerschaft nur an
       ganz wenigen Stellen etwas aus offensichtlicher Überzeugung getan hat. Auch
       Grüne haben sich natürlich gefreut über die Ehe für alle, über ihren
       proeuropäischen Kurs, über die Abschaffung der Wehrpflicht, über ihre
       Menschlichkeit 2015. Aber sie hat ihre spontanen Entscheidungen nie
       erklärt, sie hat entschieden, nicht gekämpft. Das war Merkels
       Kardinalfehler. Ich glaube, dass die gesellschaftliche Krise, in die wir
       geraten sind, genau damit zu tun hat. Wer nicht erklärt, lässt
       Verunsicherung zu.
       
       Entschuldigung, aber Sie als Grüne haben das doch stets mitgetragen. 
       
       Natürlich haben wir richtige Entscheidungen mitgetragen. Im Gegensatz zu
       uns, die stets begründet haben, warum wir etwas wollen, hat Angela Merkel
       politische Entscheidungen gegen ihre eigene konservative Wählerschaft
       getroffen, und der hätte sie das erklären müssen.
       
       Was würde denn fehlen, wenn Merkel weg wäre? 
       
       Fehlen würde eine Person, die für Europa steht. Die für Ausgleich steht,
       für Sicherheit und Stabilität. Jemand, der unermüdlich versucht, doch noch
       den Laden zusammenzuhalten. Das ist in der jetzigen Situation, in der
       Seehofer, Söder und Dobrindt – übrigens auch FDP-Chef Christian Lindner –
       permanent mit dem Feuer spielen, ein großes Problem. Gerade jetzt wäre
       Stabilität gefragt, doch die wird gerade mutwillig infrage gestellt. Wir
       stehen an einem historischen Scheideweg, wohin sich unser Land entwickelt:
       Stehen wir für Freiheit und werben für Europa oder setzt sich der Geist von
       Illiberalität und Nationalismus durch?
       
       Ihre Partei liegt aktuell bei kommoden 15 Prozent. Nützt den Grünen die
       innenpolitische Krise? 
       
       Wenn ich mir die anderen Parteien anschaue, dann stelle ich fest, dass die
       Grünen offenbar die Einzigen sind, die noch für Humanität in der Politik
       kämpfen. Das wird auch unser Job bleiben: neben der Ordnung, die wir
       brauchen, genauso für Humanität und den Rechtsstaat für alle einzustehen.
       Wir verteidigen unser Grundgesetz, das weltoffene Deutschland und ein
       starkes Europa, das auf Solidarität setzt. Und zwar auch dann, wenn es
       schwierig ist. Die Mischung aus Humanität und Ordnung, aus staatstragend
       und Veränderungswillen wird von vielen Leuten anerkannt. Und wir sind ja
       noch lange nicht fertig. Tatsächlich brauchen wir so was wie eine starke,
       enthusiastische Gegenbewegung für Menschlichkeit und europäische Werte,
       wenn Herr Dobrindt meint, er müsse jetzt die nationalkonservative
       Revolution ausrufen.
       
       Das klingt wie eine Bewerbung der Grünen um den Platz der CSU in der
       Regierung. 
       
       Noch mal: Wir haben genug deutlich gemacht, dass wir bereit sind, zu
       regieren. Aber wir sind nicht der Notnagel. Es gibt gravierende
       Unterschiede zur SPD und auch zur CDU. Die ökologische Frage spielt in der
       Koalition doch gerade überhaupt keine Rolle. Das ist fahrlässig. Und wo
       bleibt die Humanität? Die muss doch im Zentrum stehen. Der Zusammenhalt
       dieses Landes muss gewährleistet sein. Und das sehe ich derzeit nicht.
       
       Aber? 
       
       Kein Aber.
       
       Jetzt, wo es innenpolitisch knirscht, will die Kanzlerin eilig einen
       europäischen Gipfel zur Flüchtlingspolitik organisieren. Sehen Sie Chancen
       für eine europäische Einigung – oder ist Merkel zu spät dran? 
       
       Eine europäische Einigung kann es geben. Die Frage ist aber, um welchen
       Preis. Und was das für die Geflüchteten bedeutet. Realität ist ja, dass in
       den letzten Monaten weit unter 100.000 Menschen nach Deutschland gekommen
       sind. Wenn es einen Flüchtlingsgipfel gibt, muss der sich mit dieser
       Realität beschäftigen – und damit, was gerade im Mittelmeer passiert, wo
       weiter Menschen sterben und die Rettungsschiffe völlig alleingelassen und
       auf eine lebensgefährliche Odyssee getrieben werden. Wenn man das
       europäisch lösen könnte, wäre das gut. Aber der Preis darf nicht noch mehr
       Abschottung, noch weniger Humanität sein. Das würde uns am Ende nur noch
       schlimmer auf die Füße fallen.
       
       Wenn Sie flüchtlingspolitisch sofort etwas Konkretes bewegen könnten – was
       wäre das? 
       
       Dann würde ich das zurückholen, was letzten Freitag passiert ist: Ich würde
       den Familiennachzug in vollem Umfang wieder einsetzen.
       
       17 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Maier
       
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