# taz.de -- 70 Jahre Währungsreform: Erhard und das D-Mark-Märchen
       
       > Ludwig Erhard gilt als Vater der Währungsreform von 1948, als Retter
       > Deutschlands aus tiefster Not. Nichts davon ist wahr.
       
 (IMG) Bild: Märchenfigur Erhard: Skulpturen vor dem Ludwig-Erhard-Zentrum, das am Mittwoch in Fürth seine Türen öffnet
       
       Die D-Mark war stets mehr als nur Geld – sie war das nationale Symbol des
       Wiederaufstiegs. Am 20. Juni 1948 wurde sie eingeführt, und diese
       Währungsreform gehört zu den großen Mythen in Deutschland. Denn vorher
       waren die Läden leer – und am nächsten Tag voll.
       
       In den Schaufenstern tauchten nun Waren auf, die die Normalverbraucher seit
       Jahren nicht mehr gesehen hatten: Kochtöpfe, Zahnbürsten oder Bücher. Der
       Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser schreibt ironisch: „Selbst Kühe
       reagierten offenbar positiv auf den Währungsschnitt, denn schon in der
       ersten DM-Woche wurde wesentlich mehr Butter angeliefert als in der
       Vorwoche.“
       
       Ein „Wunder“ war das allerdings nicht, sondern betriebswirtschaftliches
       Kalkül. Die Unternehmer hatten ihre Waren bewusst zurückgehalten, bis es
       die neue D-Mark gab, weil sie keine wertlose Reichsmark kassieren wollten.
       Es handelte sich um einen „Schaufenstereffekt“, aber die psychologische
       Wirkung war enorm: Viele Deutsche glauben bis heute, dass es allein der
       Währungsreform zu verdanken wäre, dass die Industrie wieder funktionierte.
       
       Dieses „Wirtschaftswunder“ hatte zudem ein Gesicht: Ludwig Erhard. Er war
       damals der Wirtschaftsdirektor in der Bizone und gilt als „Vater der
       D-Mark“. Ganz allein soll er die Währungsreform gestemmt und die „soziale
       Marktwirtschaft“ erfunden haben. In diesem Heldennarrativ ist Erhard ein
       überragender Ökonom und Staatsmann, der Deutschland aus tiefster Not
       errettet hat.
       
       ## Eine folgenreiche Fehlentscheidung
       
       Nichts davon stimmt. Die Währungsreform wurde von der amerikanischen
       Besatzungsmacht durchgeführt; selbst die ersten Geldscheine wurden in den
       USA gedruckt. Trotzdem heimste Erhard später ungeniert das Lob ein.
       
       Diese Chuzpe ist nicht nur befremdlich, weil Erhard nichts mit der
       Währungsreform zu tun hatte: Er traf zudem die einzige Fehlentscheidung in
       diesen Sommertagen. Erhard beschloss nämlich, fast alle Preise freizugeben.
       Nur einige Lebensmittel, die Mieten und ein paar Rohstoffe blieben
       weiterhin gedeckelt. Erhard folgte damit seinem blinden Glauben an die
       „Marktwirtschaft“ und an die segensreiche Lenkungswirkung der freien
       Preise. Allein Angebot und Nachfrage sollten bestimmen, was ein Gut kostet.
       Dabei übersah Erhard jedoch, dass Nachkriegsdeutschland eine gnadenlose
       Mangelwirtschaft war: Das Angebot war so gering und die Nachfrage so
       riesig, dass die Preise sofort in unangeahnte Höhen schossen.
       
       Kleider und Schuhe wurden unerschwinglich, Gemüse wurde doppelt so teuer,
       Obst kostete das Dreifache – und der Preis der Eier stieg sogar um bis zu
       500 Prozent. Erhard beschwichtigte, die Preise würden sich sehr bald
       „einpendeln“, und prognostizierte, es wäre geradezu „ein Wunder, wenn die
       Preise … nicht nachgeben sollten“.
       
       ## Freie Preise und Lohnstopp
       
       Doch dies blieb reines Wunschdenken, wofür Erhard eine ausgeprägte Neigung
       hatte. Stattdessen sahen sich viele Bürger mit einem unerwarteten Paradox
       konfrontiert: Durch die Währungsreform hatten sie zwar stabiles Geld, aber
       trotzdem waren sie nicht etwa reicher geworden – sondern ärmer.
       
       Die Währungsreform war erst eine Woche alt, da sahen sich schon viele
       Eltern gezwungen, ihre Kinder von der Schulspeisung abzumelden, weil sie
       den wöchentlichen Betrag von einer D-Mark nicht mehr aufbringen konnten.
       Wie der Historiker Uwe Fuhrmann in seiner sehr guten Dissertation „Die
       Entstehung der sozialen Marktwirtschaft“ nachzeichnet, verloren auch Busse
       und Straßenbahnen bis zu 90 Prozent ihrer Fahrgäste, weil sich viele Bürger
       die Tickets nicht mehr leisten konnten.
       
       Das statistische Amt in Hannover ermittelte damals, dass eine vierköpfige
       Familie mindestens 250 D-Mark im Monat benötigte, um über die Runden zu
       kommen. Doch das Durchschnittseinkommen eines Arbeiters betrug noch nicht
       einmal 150 D-Mark im Monat – und durfte auch nicht steigen. Erhard hatte
       zwar die Preise freigegeben, aber der Lohnstopp galt unverändert weiter,
       den Hitler 1939 verhängt hatte.
       
       Von den steigenden Preisen profitierten nur die Unternehmer und die Bauern,
       während der Rest der Bevölkerung seine letzten Spargroschen einsetzen
       musste, um die überteuerten Güter zu erwerben. Die meisten Familien hatten
       jedoch kaum Rücklagen, weil die Währungsreform fast das gesamte
       Geldvermögen vernichtet hatte.
       
       ## Kartoffelschlachten und enteignete Eier
       
       Ende Juli 1948, also nur sechs Wochen nach der Währungsreform, begannen die
       ersten Unruhen. Es kam zu einer Revolte der Hausfrauen, die sich spontan
       auf den Wochenmärkten zusammenschlossen, um Händler tatkräftig zu
       überzeugen, ihre Wucherpreise wieder zu senken.
       
       In Erlangen wurden Händler mit „Äpfeln und Tomaten bombardiert“; in Krefeld
       kam es zu einer „Kartoffelschlacht“. Auf dem Münchner Viktualienmarkt
       wurden überteuerte Gänse umverteilt und ein Eierstand „enteignet“ – bis das
       Überfallkommando der Polizei eingriff. Zerstörte Eier gab es auch in
       Bielefeld und Bremen.
       
       Im August wurden dann gezielte „Käuferstreiks“ organisiert, die per Plakat
       zum Boykott aufriefen. Zudem wuchs der politische Druck. Am 25. August
       versammelten sich 100.000 Menschen auf dem Königsplatz in München, um gegen
       Erhards Preispolitik zu demonstrieren. Bei einer Massenkundgebung in Bremen
       fragte ein Plakat: „Hat nur der kleine Mann den Krieg verloren?“
       
       Am 12. November 1948 war dann der Höhepunkt erreicht: Es begann der erste
       und bislang einzige Generalstreik in der westdeutschen Geschichte. Über
       neun Millionen Beschäftigte legten für 24 Stunden die Arbeit nieder, obwohl
       die Gewerkschaften nur viereinhalb Millionen Mitglieder zählten – und es
       kein Streikgeld gab. Doch die Wut war so groß, dass Millionen Menschen
       ihren Lohn opferten, um gegen Erhards Preispolitik zu protestieren.
       
       ## Ein Reklameluftballon namens Erhard
       
       Offiziell blieb Erhard zwar bei seiner Hymne auf den „freien“ Markt, doch
       faktisch vollzog er eine Kehrtwende. Seine Verwaltung führte die
       Bewirtschaftung bei Textilien und Schuhen wieder ein – indem sie das
       sogenannte Jedermann-Programm startete.
       
       Kleidung und Schuhe wurden nun – staatlich gelenkt – in standardisierter
       und billiger Serienproduktion hergestellt. Es gab festgelegte Preise und
       ein offizielles Siegel. Der Hebel war simpel: Die Unternehmen erhielten
       begehrte Rohstoffe wie Leder nur, wenn sie bereit waren, Teile ihrer
       Produktionskapazitäten für das Jedermann-Programm zur Verfügung zu stellen.
       Bereits im November 1948 wurden 750.000 Paar Jedermann-Schuhe ausgeliefert.
       
       Das Jedermann-Programm bewies, dass Erhards Politik der freien Preise
       völlig gescheitert war. Doch Erhard ignorierte diese Tatsache nicht nur,
       sondern sonnte sich unbekümmert in dem Erfolg der Jedermann-Waren. Denn ein
       großes Talent besaß Erhard tatsächlich: Ohne jede Scham konnte er sich in
       Szene setzen. SPD-Chef Kurt Schumacher nannte ihn abfällig einen
       „Reklameluftballon“.
       
       Zudem hatte Erhard Glück: Ab Dezember 1948 wurden die Lebensmittel nicht
       mehr teurer. Die Preise stabilisierten sich auf hohem Niveau, weil die
       Ernten weltweit gut waren. Die endgültige Wende brachte dann der Koreakrieg
       ab 1950, denn im Westen stieg die Nachfrage nach deutschen
       Industrieprodukten, und es setzte jenes Wachstum ein, das gern als
       „Wirtschaftswunder“ tituliert wird.
       
       Die dramatischen Monate nach der Währungsreform waren bald vergessen. Es
       wurde aus der Erinnerung getilgt, dass Erhard alles getan hatte, um die
       Besitzenden zu begünstigen. Geblieben ist nur ein [1][Karnevalshit von
       1949], der den damaligen Mangel ironisiert und der bis heute gespielt wird:
       „Wer soll das bezahlen? Wer hat so viel Geld? Wer hat so viel Pinke Pinke?
       Wer hat das bestellt?“
       
       20 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=uQQm7bKJskM
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Herrmann
       
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