# taz.de -- Essay zum Streit in der Union: Abschied von Angela Merkel
       
       > Die Kanzlerin sollte aufhören, noch in diesem Jahr. Warum Linke und Ökos
       > keine Angst vor der Zeit nach Merkel haben müssen.
       
 (IMG) Bild: In die Nahostbesuch, Sommerpause, Landtagswahlen, und dann?
       
       Angela Merkel sollte gehen. Nicht sofort, nicht als Getriebene von Söder,
       Gauland und Trump, sie lechzen nach dieser Trophäe, und sie bekommen sie,
       wenn Merkel in einem Streit nachgibt, den sie neu inszeniert und verstärkt
       haben. Sie muss bestehen gegen das Anrennen der Nationalisten, die im Kopf
       nur sich selbst haben. Aber das ist die letzte Aufgabe, dann muss sie es
       beenden, besser früher als später, lieber dieses als nächstes Jahr. Sie
       täte etwas Gutes, sich selbst und jenen, die sie stützen.
       
       Angela Merkel sollte gehen: Wenn ich das diese Woche gesagt habe, kam
       zuverlässig die eine Frage, egal ob mein Gegenüber Redakteurin war oder
       Jurist oder Architektin. Was ist die Alternative? Die Frage klang mal
       entsetzt, mal gereizt, mal sehr besorgt.
       
       Und ja, diese Kanzlerin ist ein Bollwerk gegen die rechten Bataillone: die
       martialisch auftrumpfenden Politiker in den Hauptstädten Ungarns, Polens,
       Italiens und der USA. Sie – genau wie die AfD in Deutschland – wollen
       autoritäres Regieren an die Stelle der liberalen Demokratie setzen,
       Nationalismus an die Stelle internationaler Zusammenarbeit und Grenzzäune
       an die Stelle eines europäischen Horizonts. Und die CSU hilft mit. Der
       Begriff von der konservativen Revolution, den der CSU-Politiker Alexander
       Dobrindt platziert hat, war kein Knallfrosch, sondern Strategie. Und wegen
       denen muss Merkel um 14 Tage Aufschub betteln!
       
       Aber sie rechnet und schreibt und telefoniert ja schon wieder, Sonntag ist
       Sondergipfel in Brüssel. Sie ist der wandelnde Europäische
       Stabilitätsmechanismus, auf den alle hoffen, obwohl ihn niemand versteht.
       Merkel kann tausend lose Fäden zusammenfummeln, während um sie herum
       Gebrüll herrscht. Und jetzt, da sie unter Druck steht wie nie, könnte es
       sogar sein, dass so viele Linke, Linksliberale und Klimaschützer auf ihrer
       Seite stehen wie nie. Was Merkel ihnen bedeutet, liegt dabei nicht nur in
       der heutigen Konstellation begründet. Es ist eine gewachsene Beziehung.
       
       ## „Ist irgendetwas an Ihnen links?“
       
       Sie ist seit 18 Jahren CDU-Chefin – damals lernten jene, die weit davon weg
       waren, sie zu wählen, eine doppelte Merkel kennen. Die eine wäre mit George
       Bush in den Irakkrieg gezogen, anders als Schröder und Fischer. Auf einem
       Parteitag in Leipzig positionierte sie ihre Partei marktradikal. Für
       Atomkraft war sie sowieso.
       
       Von der zweiten Merkel wusste man, dass sie in der ostdeutschen
       Bürgerbewegung mitgemacht hatte. Sie hatte Helmut Kohl endgültig von der
       Parteispitze vertrieben, danach einen Machtmann nach dem anderen
       abserviert. Und dass sie schließlich die Machos Schröder und Fischer
       herausforderte, war ja auch nicht unsympathisch. Als sie 2005 ins
       Kanzleramt einzog, fiel ihr unprätentiöser Habitus richtig auf: als cooles
       Understatement, das auch viele Ökos und Linke schätzten.
       
       Ihr Ausgreifen nach der Mitte fand mehr über Symbole statt als über
       Inhalte. Das Foto von Merkel im roten Anorak vor dem Eis in Grönland machte
       sie zur Klimakanzlerin. Die Kohlekraftwerke rauchten weiter.
       
       Kantig war sie, wenn in ihrer Partei der Nationalsozialismus verharmlost
       wurde. Einen Abgeordneten, der von den Juden als Tätervolk sprach, schmiss
       sie aus der Fraktion. Als Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther
       Oettinger den Nationalsozialisten Hans Filbinger zum Nazigegner
       umettiketierte, zwang sie ihn, umgehend zu widerrufen.
       
       Sonst mied sie Kantigkeit. Man kann sich Merkel inhaltlich als
       Gemischtwarenladen vorstellen. Es gibt Dinge, über deren Herstellung man
       lieber nicht so genau Bescheid wissen möchte, selten auch etwas, das einen
       abstößt. Dann liegt da plötzlich ein Aktionsangebot, von dem man nie
       dachte, dass es der Laden je bieten würde: Atomausstieg, jetzt neu bei uns!
       Merkel nahm von der Konkurrenz den Mindestlohn ins Angebot und eine
       Lightversion der Frauenquote.
       
       ## In der taz druckten wir Herzchen
       
       [1][„Ist irgendwas an Ihnen links?“], haben wir sie im letzten Sommer im
       taz-Interview gefragt. Kohl, Stoiber, Koch – sie hätten alle Nein gesagt.
       Merkel gab eine Merkel-Antwort, in der nur das Wort „Berührungspunkte“
       wichtig war, denn die suchte die Strategin immer.
       
       Im Spätsommer 2015 hatte sie die Wehrpflicht abgeschafft, den Atomausstieg
       beschlossen und den Mindestlohn abgesegnet. Als über Ungarn und Österreich
       etliche Flüchtlinge kamen, machte sie die Grenze nicht zu. Gegen den
       Vorwurf, sie habe Abertausende animiert zu kommen, sagte sie: „Wenn wir
       jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in
       Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein
       Land.“
       
       Der Satz war nicht vorbereitet, ihre Berater kannten ihn nicht. Sie sagte
       später, er kam aus ihrem Innersten. In diesem Moment war Merkel die Heldin
       der linken Mitte. In der taz druckten wir Herzchen.
       
       Aber im nächsten Moment arbeitete sie schon daran, es Flüchtlingen schwer
       zu machen wie nie. Heute ist der Familiennachzug für viele
       Schutzberechtigte gedeckelt. Sogar nach Kabul wird abgeschoben, und neulich
       erklärte Merkel, man könne uneingeschränkt nach ganz Afghanistan Menschen
       zurückschaffen.
       
       Deutschland nimmt noch viele Flüchtlinge auf, von denen ein hoher Anteil
       anerkannt wird. Aber seit 2015 hat Merkel ein Klassensystem eingeführt:
       Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive haben mehr Rechte, dürfen arbeiten,
       sind besser untergebracht als Flüchtlinge aus anderen Ländern. Abgeschoben
       werden dürfen die auch nicht, sie hängen in der Luft. Man muss nicht mal
       für offene EU-Außengrenzen sein, um diese Flüchtlingspolitik von links zu
       kritisieren. Auch in anderen Themen ist die Kanzlerin weit weg von Linken,
       Linksliberalen oder Ökos. Die Mietpreisbremse floppt, in vielen
       Pflegeheimen leiden die Alten. Die Braunkohle raucht weiter.
       
       Absurd: Ich fiebere mit einer Kanzlerin, die inhaltlich von mir so weit weg
       ist wie lange nicht. Merkel hat die falschen Fans. Und ich bin einer von
       ihnen.
       
       ## Ein selbst gewählter Zeitpunkt
       
       Dagegen hätten viele in der CDU lieber dichtere Grenzen, sie beherrschen
       sich nur, weil Disziplinlosigkeit in der Partei schlecht angesehen ist.
       Merkel hat links von sich verdruckste Fans, rechts von sich vermuckte
       Gegner.
       
       Das lähmt die politische Kultur. Inhalte müssen sich mit Machtfragen
       verbinden, sonst sind sie nur Sport oder Show. Selbst die alte Option, dass
       Merkel Themen übernimmt, wird schwächer. Gestaltungsspielräume hängen an
       den Zukunftsaussichten einer Person. Auch deshalb bewegt sie sich immer
       weniger. Alle schauen auf sie. Macht Merkel etwas? Macht Merkel nichts?
       Macht sie etwas? Oder nichts? Die CDU-Chefin stabilisiert, aber die Politik
       stagniert. Und die Rechten spüren die Furcht ihrer Unterstützer. Sie
       riechen sie. Sie leben ja von der Angst anderer.
       
       Die Situation ist würdelos für jene, die mit Merkel sympathisieren, obwohl
       sie ihre aktuelle Politik eigentlich ablehnen. Und es geht um die Würde
       dieser Kanzlerin, die in 13 Jahren viel bewegt hat, die Frau mit dem
       wunderbaren Habitus. Wenn das Land Angela Merkel eines schuldet, dann ist
       es Anstand am Schluss. Es könnte immer noch ein selbst gewählter Zeitpunkt
       werden: in die Sommerpause kommen, die Landtagswahlen abhaken, dann,
       rechtzeitig vor dem Bundesparteitag in Hamburg im Dezember, den Abgang
       verkünden.
       
       ## Das Schlachtross ist jetzt sie
       
       Jetzt noch die Alternativen. Sie sind schwer abzuschätzen, da Merkel schon
       so lange der Magnet ist, nach dem sich die Metallspäne ausrichten. Trotzdem
       ein paar Möglichkeiten:
       
       1. Über Inhalte würde ohne die Prämisse gestritten, dass am Ende eine
       Merkel-Variation herauskommt. Inhaltestreit plus Machtfrage, das brächte
       auch neue Köpfe nach oben.
       
       2. Wenn Jens Spahn übernähme, würden vielleicht wieder mehr Konservative
       die CDU wählen. Dafür entstünde Raum für SPD, FDP und Grüne. Annegret
       Kramp-Karrenbauer ließe nicht so viel Platz, sie ist gesellschaftspolitisch
       konservativ, aber sozialkatholisch.
       
       3. Die CDU würde ihre Balance finden. Nicht nur Merkel ist mittig, sondern
       auch Konservativ-Liberale wie die Ministerpräsidenten Armin Laschet aus
       Nordrhein-Westfalen oder Daniel Günther aus Schleswig-Holstein, der Zukunft
       hat.
       
       4. Die SPD ist programmatisch ausgedörrt und hat sich organisatorisch
       verlaufen. Aber sie ist zäh, als alte Staatspartei verfügt sie über
       Reserven. Merkels Abschied könnte auf sie wie ein Defibrillator wirken, der
       durch Stromstöße die normale Herzaktivität wiederherstellt.
       
       5. FDP-Chef Christian Lindner definiert sich – typisch Marktfetischist –
       nach der Lücke, die Merkel lässt. Offen, wie er die Partei ohne sie
       aufstellt.
       
       6. Die Linkspartei versackt vielleicht nicht mehr in Grabenkämpfen, wenn es
       draußen wieder um mehr geht. Vielleicht.
       
       7. Robert Habeck hat verstanden, dass nur gewinnt, wer wagt. Er sucht grüne
       Bandbreite. Die zweite Grünen-Chefin und Durchstarterin Annalena Baerbock
       ist ein Beispiel dafür, dass man heute nicht alle kennen muss, die morgen
       gut sind.
       
       Immer noch Angst? Nehmen wir doch einen Satz von Merkel, er stammt aus der
       FAZ, es war der Gastbeitrag, mit dem sie am 22. Dezember 1999 den Abschied
       Helmut Kohls einleitete: „Die Partei muss also laufen lernen, muss sich
       zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich
       oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner
       aufzunehmen.“
       
       Das Schlachtross ist jetzt sie. Und laufen lernen müssen wir. Ohne Angela
       Merkel.
       
       23 Jun 2018
       
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