# taz.de -- Abschied von Angela Merkel: Im Wechselbad meiner Gefühle
       
       > Ich kenne die Welt nur mit Merkel als Kanzlerin. Mit Wehmut zog ich mir
       > ihre letzte Bundespressekonferenz rein.
       
 (IMG) Bild: 16 Jahre und wenig Veränderung. Angie ist in ihrer letzten Sommerpressekonferenz mit sich im Reinen
       
       Das Wahltagebuch beleuchtet die Bundestagswahl aus Sicht des Wahl-Camps der
       taz Panter-Stiftung. 
       
       Angela Merkel wurde Bundeskanzlerin, da war ich drei Jahre alt. Ich kenne
       die Welt nur so. Mit ein wenig Wehmut zog ich mir also die vorerst
       wahrscheinlich [1][letzte Bundespressekonferenz von Angie] live im Stream
       rein. Das erste Mal in meinem Leben, übrigens. Tiefe Stimme, müde Augen,
       monotone Redeart mit wohlüberlegten Pausen, maximale Sachlichkeit. Merkel
       eben. Schnell liess ich mich einlullen von ihrer ruhigen, besonnenen und
       selbstbewussten Art.
       
       Merkel hat es in den letzten 16 Jahren wie keine andere gelernt, Vertrauen
       zu erwecken. Bloß nix überstürzen, so schlimm ist das ja alles gar nicht.
       
       So ungefähr war denn auch an diesem Donnerstag ihre Strategie, den
       kritischen Fragen der Reporter*innen zu begegnen. Nahezu jede Antwort
       lässt sich zusammenfassen mit: wir haben doch einiges gemacht, zum Beispiel
       dieses und jenes, aber teilweise sicherlich nicht genug, da muss ich Ihnen
       wohl Recht geben. Was die nächste Regierung dagegen macht, kann und darf
       ich hier natürlich nicht vorwegnehmen. Übrigens: Laschet wäre ein
       geeigneter Kandidat. Meine Sentimentalität war zu diesem Zeitpunkt bereits
       wieder verflogen.
       
       Fakten schaffen kann sie 
       
       Gerade scheidende Politiker*innen neigen in ihren letzten
       Amtshandlungen dazu, inhaltlich mal ordentlich über die Stränge zu
       schlagen, sich für Themen einzusetzen, die ganz und gar nicht der Meinung
       ihrer Fraktion entsprechen. Merkel aber tütet, im Sinne der Union, lieber
       noch schnell [2][Nord Stream 2] ein, bevor das in Koalitionsverhandlungen,
       eventuell mit einer Grünen Partei, zum Problemfall werden könnte. „Weil das
       Erdgas viel umweltfreundlicher ist als die Kohle“, sagte sie.
       
       Bitte? Man möchte meinen, sie hätte nie was gehört, von den Aktivist*innen,
       die sie so lobt für ihr gesellschaftliches Engagement. Die schreien nämlich
       schon seit Jahren von vorne, hinten, oben, unten, rechts und links, dass
       Erdgas eine dreckige Lüge ist. Nach diesem Satz kippte meine letzte Wehmut
       schließlich in Unverständnis, gemischt mit einer ordentlichen Portion Wut
       um.
       
       Bereits im September 2019 stellte nämlich eine Studie des Berliner
       Think-Tanks Energy Watch Group klar, die Umstellung auf Erdgas erhöhe die
       Emissionen des Energieverbrauchs um 40 Prozent. Die
       Klimagerechtigkeitsorganisation Ende Gelände, zum Beispiel, blockiert
       deshalb nun zum zweiten Mal Gasinfrastruktur, anstatt Kohlegruben.
       
       Wenn sie im Anschluss betont, wie wichtig es in diesen Zeiten sei, auf die
       Wissenschaft zu hören und auf Fakten mit Taten zu reagieren, wirkt das
       zumindest etwas ungünstig.
       
       „Von alleine geht da ziemlich wenig“ 
       
       Angesprochen auf ihre mehr oder weniger existenten
       Gleichstellungsbemühungen stellt sie etwas ernüchtert fest „Das hab ich mir
       1990 alles einfacher vorgestellt. Von alleine geht da ziemlich wenig.“ Es
       wären immer wieder Maßnahmen notwendig gewesen, die über eine freiwillige
       Selbstverpflichtung von Unternehmen hinaus gingen.
       
       Fast klingt es so, als seien wir mit dem von ihr auf den Weg gebrachten
       Ziel zur Parität in Vorständen bei einer vollständigen Gleichberechtigung
       beider Geschlechter angelangt. Die realen etwa 10 Prozent Frauenanteil in
       Führungsetagen stören da eher im Friede-Freude-Eierkuchen-Bild der
       Bundeskanzlerin.
       
       Immerhin hat sie aber erkannt: der Markt regelt keine Vorstandsquoten.
       Obwohl ihrer Meinung nach Frauen „tendenziell eine größere Sehnsucht nach
       Effizienz“ hegten.
       
       Schön wäre es, würde die scheidende Kanzlerin ihre frische Erkenntnis
       schnell noch auch auf die aktuelle Klimapolitik übertragen. Die läuft
       nämlich aufgrund gewisser Vertrauensvorschüsse gegenüber Unternehmen seit
       1990 tendenziell eher schlecht.
       
       Eine Welt ohne Merkel ist also vielleicht schwer vorstellbar, aber
       zumindest für mich doch gar nicht so abwegig. Denn auch sie ist eben immer
       noch Mitglied der CDU. Eine Partei die nicht gerade für Veränderung steht.
       Deshalb ist Wehmut nicht angebracht, wenn das meiste in 16 Jahren
       Kanzlerschaft war: Wir haben einige Fehler gemacht, werden das in den
       nächsten Jahren aber auch nicht freiwillig korrigieren. Bloß nichts
       überstürzen.
       
       Mit dem Gefühl, dass etwas Neues anfangen muss, werde ich deshalb im
       September zur Wahl spazieren. Weitere 16 Jahre Union halte ich einfach
       nicht aus.
       
       23 Jul 2021
       
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