# taz.de -- Gewalt gegen ältere Frauen: „Heute ist er grantig und übergriffig“
       
       > Auch ältere Frauen können von Gewalt betroffen sein. Wenn der Partner
       > aber gleichzeitig hilflos wirkt, entsteht ein Gefühlsdilemma.
       
 (IMG) Bild: Die Frauen fühlten sich für ihren Mann oder den Partner verantwortlich: Er braucht mich doch
       
       BERLIN taz | „Huuunger“, schreit er: „Und was zu trinken will ich. Sofort!“
       Der brüllende Mann liegt in einem Pflegebett in seiner Berliner Wohnung. Er
       ist 79 Jahre alt und richtet seine „Wünsche“ an seine Frau. Gerda Schmoranz
       springt aus dem Sessel im Wohnzimmer auf, eilt in die Küche und holt rasch
       ein Glas Wasser. Als sie am Bett ihres Mannes steht, greift der nach ihrem
       Arm und schlägt drauf.
       
       „So was passiert fast jeden Tag“, erzählt die Frau. „Seit mein Mann schwer
       gestürzt und ein Pflegefall ist, ist er unerträglich“, sagt sie: „Grantig,
       herrschsüchtig, übergriffig.“ Manchmal boxt er gegen ihre Brust. Einfach
       so, grundlos. Früher, als er noch laufen konnte, sich selbst anziehen und
       um sich selbst kümmern, war das nicht so, da „war er ganz normal“. Wie kann
       aus einem friedfertigen ein aggressiver, alter Mann werden?
       
       Gewalt in der Partnerschaft wird gemeinhin als Problem jüngerer Frauen
       angesehen. Doch Gewalt kennt keine Altersgrenzen. Etwa jede zehnte Frau im
       Alter von 60 bis 74 erlebt laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums
       mindestens einmal im Leben körperliche oder sexuelle Gewalt. Mittlerweile
       ist Gewalt gegen Frauen durch Debatten wie zu #MeToo und #aufschrei sowie
       durch verschiedene Aktionen am Tag gegen Gewalt an Frauen, der jedes Jahr
       am 25. November begangen wird, in der Öffentlichkeit stärker präsent.
       
       ## Ein großes Dunkelfeld
       
       Weniger bekannt ist, dass auch ältere Menschen von Gewalt betroffen sind.
       Warum? Sie wenden sich seltener als Jüngere an die Polizei, an
       Hilfeeinrichtungen und Beratungsstellen. „Dementsprechend darf vermutet
       werden, dass bei Gewalt gegen alte Menschen im sozialen Nahbereich ein
       großes Dunkelfeld besteht“, sagt Katja Grieger vom Bundesverband
       Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) in Berlin. Der
       Bewohnerinnenstatistik der Frauenhäuser zufolge sind gerade mal 1,9 Prozent
       der Frauen im Seniorinnenalter in den Einrichtungen zu finden.
       
       „Bei uns suchen kaum Frauen ab 50 Zuflucht“, sagt Martina Kopf,
       Geschäftsführerin des Frauenhauses in Lörrach. Die Gründe dafür sind
       vielfältig: Ältere Menschen seien stärker darauf bedacht, ihre Privatsphäre
       zu schützen, unannehmliche Vorfälle zu verschweigen und zu verdecken.
       Manche Opfer empfinden die Gewalt nicht als solche, weil sie sie seit
       Jahren erleben und als Teil ihres Daseins akzeptierten.
       
       Und manchmal kann Fürsorge in Gewalt übergehen, sagt Verena Bentele,
       Präsidentin des Sozialverbandes VdK und frühere Behindertenbeauftragte der
       Bundesregierung. So erlebten häufig hilflose Frauen, dass sie an
       Körperstellen berührt werden, an denen sie nicht angefasst werden wollen.
       
       ## Traditionelles Rollenverständnis
       
       Älteren Frauen fällt es besonders schwer, über Gewalt durch den Partner zu
       sprechen, sagt Katja Grieger: „Viele haben nicht gelernt, über sich, ihre
       Gefühle und erlebte Gewalt zu reden.“ Zudem hätten nicht wenige ein
       traditionelles Rollenverständnis, das Frauen weniger Rechte zuschreibt als
       Männern. So empfinden sie es als weitgehend normal, dass sich Frauen um den
       Haushalt und ihren Mann kümmern – so wie sie früher die Kinder umsorgt
       haben.
       
       Eine „Lektion“, die Frauen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration „früh
       gelernt“ hätten, bekräftigen die niedersächsischen Gewalt- und
       Präventionsforscherinnen Sandra Kotlenga und Barbara Nägele. Die Frauen
       hätten „Härten ertragen und durchhalten müssen, um Neues aufzubauen“. Die
       Forscherinnen sagen auch: „Zudem ist das Konzept der Ehe in dieser
       Generation noch weit mehr als bei jüngeren Frauen das einer lebenslangen
       Verpflichtung.“
       
       Manche Männer übten selbst dann Gewalt gegen ihre Partnerin aus, wenn sie
       selber ein Pflegefall sind und von ihren Frauen betreut werden, weiß
       Grieger vom bff: „Trotzdem sagen viele Frauen: Auch wenn der mich jeden Tag
       mit seiner Krücke verdrischt, kann ich nicht einfach so gehen.“ Die Frauen
       fühlten sich für ihren Mann oder den Partner verantwortlich: Er braucht
       mich doch.
       
       ## Angst vor der Trennung
       
       Gerda Schmoranz ist genau so ein Fall. Sie sagt: „Was soll er denn machen
       ohne mich? Es gibt sonst niemanden, der sich um ihn kümmert.“ Die Kinder
       sind weit weg, der Sohn arbeitet als Englischlehrer in Myanmar, die Tochter
       lebt in Hamburg.
       
       Zudem sind viele Frauen von ihren Männern abhängig, finanziell, emotional,
       sozial. „Für 70-jährige Menschen ist es weitaus schwieriger als für
       jüngere, ihr Leben von Grund auf zu ändern“, sagt Grieger. Viele Frauen
       wollten zwar, dass die Gewalt endet, fürchten aber, durch eine Trennung,
       die Nähe und Vertrautheit zum Partner zu verlieren, mit dem sie fast ein
       ganzes Leben verbindet.
       
       Grieger erinnert sich an den Fall einer 80-Jährigen, die von ihrem Mann
       häufig drangsaliert wurde. Sie war körperlich stark beeinträchtigt, trug
       Stützstrümpfe und eine starke Brille, sie brauchte einen Rollator, um
       laufen zu können. Als ihr Ehemann mitbekam, dass sie ihn aufgrund der
       Gewalt, die er ihr antat, verlassen wollte, zertrampelte er ihre Brille.
       Und machte sie damit komplett handlungsunfähig, sie musste bei ihm bleiben.
       
       ## Gewalt wird als normal empfunden
       
       Das Dilemma vieler misshandelter Frauen ist, dass ihre Männer neben ihrer
       Brutalität ebenso verletzlich und hilflos sein können. Dieses Paradoxon
       bewirkt, dass Frauen trotz der Misshandlungen ihren Männern gegenüber
       sorgende und zum Teil mütterliche Gefühle hegen. Kotlenga und Nägele nennen
       das „chronische Gewaltbeziehung“, die insbesondere für ältere Frauen
       besonders gefährlich ist: Die Übergriffe werden im Laufe der Jahre und
       Jahrzehnte als normal empfunden. Das erschwert den Ausstieg aus einer
       Gewaltbeziehung.
       
       Manche schaffen es. In den vergangenen beiden Jahren ist die Zahl älterer
       Frauen in der Frauenberatungsstelle in Lörrach leicht gestiegen. 2017 waren
       laut der Statistik der Beratungsstelle 8 der insgesamt 220 Rat suchenden
       Frauen über 66 Jahre alt, ein Jahr zuvor waren es 10. „Die Frauen sagen
       sich: Wann sonst sollte ich gehen, wenn nicht jetzt“, hat Justine Störk,
       Sozialpädagogin und Therapeutin in der Beratungsstelle, erfahren. Die
       Frauen wüssten, dass sie jetzt noch die Kraft hätten zu gehen. Später, wenn
       sie selber schwächer und kränker sind, schaffen sie es nicht mehr. Sie
       gehen aber meist nur dann, weiß Störk, wenn das soziale Umfeld intakt sei.
       Wenn also Kinder und Bekannte sich um den Mann kümmern.
       
       22 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simone Schmollack
       
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