# taz.de -- Ungewöhnliches Reisekonzept: Schnitzeljagd durch Palästina
       
       > Einheimische übernehmen die Führung vor Ort, Unterkunft kann vermittelt
       > werden – eine individuell gestaltete Tour durchs Westjordanland.
       
 (IMG) Bild: Hinter dem Werbeplakat liegt die Altstadt von Hebron
       
       Zügig steigt Amir in das Gespräch ein: „Was willst du von der Reise? Den
       politischen Konflikt sehen und verstehen oder Designer-Drinks und Party?“
       Dass die „Autonome Region Palästina“, mehr zu bieten hat als
       „steineschmeißende Jugendliche“, darum geht es ihm mit seinem Angebot für
       Bildungsreisen „Stories of Palestine“. Wohnt der Reisewillige zufällig in
       Berlin, trifft sich Amir, wie hier und jetzt, zum Beratungsgespräch gerne
       in einer der Shisha-Bars auf der „arabischen Straße“ in Berlin Neukölln.
       
       Die Gäste, ausschließlich Männer, spielen Backgammon oder fahren mit ihren
       Fingern über ihre Gebetsketten und durch ihre aufwendig frisierten Bärte.
       Amir, selbst gebürtiger Deutscher mit palästinensischen Wurzeln, skizziert
       den Reiseplan: „Wir starten immer in Jerusalem. Dann hangelst du dich mit
       einer individuellen Anleitung von einem Einheimischen zum nächsten.“ Amir
       organisiert auch die Übernachtungen – auf Wunsch bei den Familien der
       palästinensischen Hosts.
       
       Wenige Wochen später im Westjordanland, Bethlehem: An einer staubigen
       Straßenecke fordert mich der Fahrer des palästinensischen Linienbusses 21
       zum Aussteigen auf. Nichts deutet auf ein Stadtzentrum oder eine heilige
       Stätte hin. Stattdessen: eine glühend heiße Beton-Sandwüste. Hier soll also
       gleich der lokale Führer auftauchen: Baha. Auf dem Foto sieht er ein wenig
       aus wie Bob Marley. Und nachdem ich von mehreren Palästinensern auf
       Arabisch Taxifahrten in ihren Privatwagen angeboten bekommen habe, kommt
       tatsächlich jemand über die Straße geschlurft, dessen langes zerzaustes
       Haar halb aus einer olivgrünen Strickmütze herausfällt.
       
       ## Wand der Apartheid
       
       Bahas Händedruck ist fest, sehr fest. Er steckt sich eine Zigarette an und
       erzählt: Vor 38 Jahren ist er hier in der Region aufgewachsen, zusammen mit
       sieben Brüdern und einer Schwester. Nach der Schule studierte er in Sri
       Lanka Politikwissenschaften. Schließlich arbeitete er für den Christlichen
       Verein Junger Menschen in New York. „Mich hat genervt, dass die Amerikaner
       mir oft das Gefühl gaben, mehr über Palästina zu wissen als ich. Also kam
       ich hierher zurück.“
       
       In einem gemeinnützigen Projekt hilft er Olivenbäume auf palästinensischem
       Land anzupflanzen: „Über 1 Million Olivenbäume sind seit 2001 dem Bau von
       jüdischen Siedlungen gefallen. Die Bäume stellen aber in vieler Hinsicht
       die ökonomische und kulturelle Grundlage palästinensischen Lebens dar.“
       
       Zu Fuß geht es weiter zur israelischen Sperranlage, der sogenannten „Wand
       der Apartheid“. Aus der Ferne türmen sich Betonfelsen in Plattenbauweise
       auf. Mit acht bis neun Metern ist die Sperranlage hier doppelt so hoch wie
       die Berliner Mauer. Sie soll jüdische Siedlungen und Straßen schützen, aber
       ist auf ihren aktuell 465 Kilometern Länge fast ausschließlich auf
       palästinensischem Boden errichtet.
       
       Sie durchschneide wichtige Transitwege zwischen palästinensischen Städten.
       Schon im Jahr 2014 sei sie von den Vereinten Nationen für
       völkerrechtswidrig erklärt worden. „Von den über zwei Millionen Touristen,
       die Bethlehem meist nur bei einem Tagesausflug besuchen, um durch die
       Geburtskirche und den Souvenir-Shop geführt zu werden, sieht kaum einer
       diese Mauer. Dabei erzählt sie viel vom Leben im modernen Bethlehem“, sagt
       Baha.
       
       Wo die Mauer einen Knick macht, sitzt ein Wachturm darauf.
       Molotow-Cocktails und weiße Farbbeutel haben ihre Spuren hinterlassen, und
       überall überdimensionale Graffitis: Eine Trump-Karikatur, die den Wachturm
       umarmt, oder eine Friedenstaube mit schusssicherer Weste vom englischen
       Künstler Banksy.
       
       ## Per WhatsApp und Location-Sharing
       
       Bahas Sicht auf Banksys weltbekannte Graffitis ist zwiegespalten: „Es war
       eine gute Idee. Inspiriert von den Graffitis in den palästinensischen
       Flüchtlingslagern hat er mit seiner Kunst weltweit auf die Besatzung
       aufmerksam gemacht.“ Aber die Dynamik hat sich ins Makabere gewendet. Viele
       Touristen fotografierten sich heute mit Smiley vor der Wand. Dann tauchen
       die Fotos auf ihren Instagram-Wänden oder sogar in Dating-Apps auf.
       
       Zum Ende des Tages führt Baha in die Bar Al Jisser, die von einem
       palästinensischen Dokumentarfilmer und seiner holländischen Frau betrieben
       wird. Vor der sorgfältig bestückten Spirituosen-Bar stehen zitronengelbe
       Metallhocker. Zur Decke hin ist ein begehbarer Quader aus schwarzem
       Metallgitter installiert, wie eine Röhre. Die Metallröhre und der Name der
       Bar, („Al Jisser“ heißt übersetzt „Die Brücke“), sollen an die Grenze
       zwischen Jordanien und Palästina erinnern, die „King Hussein Bridge“.
       
       Da Palästinenser aus dem Westjordanland nicht über die Nachbarländer Syrien
       oder Israel ausreisen können, ist es der einzige Grenzpunkt, an dem sie aus
       ihrem Land herauskommen. „Das ist ein Flaschenhals, ein Nadelöhr. Die
       Grenzüberquerung dort ist eine Tortur. Übrigens nicht nur für
       Palästinenser. Auch für Ausländer, die angeben, das Westjordanland und
       nicht Israel besuchen zu wollen“, behauptet Baha und steckt sich die
       nächste Zigarette an.
       
       Am nächsten Morgen geht es vom zentralen Taxistand in Bethlehem in einem
       gelben Sammeltaxi weiter nach Hebron, die mit über 200.000 Einwohnern
       größte Stadt Palästinas. Sein wirtschaftliches Kraftwerk. Per WhatsApp und
       Location-Sharing werde ich angeleitet, an welcher Ecke ich aus dem Wagen zu
       springen habe. Dort wartet bereits Ehab. Ein Jahr hat er in den USA
       arabisch unterrichtet. Heute arbeitet er in einem Hostel in Ramallah an der
       Rezeption.
       
       ## Die zwei Zonen von Hebron
       
       Zu Fuß geht es einen Berghang hinunter in Richtung Stadtzentrum.
       „Sandstein“, erzählt Ehab, „ist eine der Hauptindustrien von Hebron.
       Plötzlich ruft er “Hier entlang“, er zeigt auf einen weißen Flachbau am
       Straßenrand „Das ist die letzte aktive Kufiya-Fabrik. Die meisten
       sogenannten Pali-Tücher sind heute Billigware aus China. Hier werden noch
       die Originale designt und produziert.“
       
       Im Fabrikraum rattern geräuschvoll die eisernen Webstühle. Der Besitzer
       Hirbawi und sein Sohn laufen um die rund zwanzig Maschinen und korrigieren
       manuell die Arbeit der ausgeleierten, alten Maschinen. „Das Tuch kommt
       ursprünglich aus dem Norden der Arabischen Halbinsel, Nord-Irak und
       Nord-Syrien“, erzählt Hirbawi. Erst unter britischer Besatzung in den
       1930er Jahren wurde es zum Symbol des palästinensischen Freiheitskampfs.
       „Die Briten haben einfach alle für vogelfrei erklärt, alle abgeschossen,
       die ein Pali-Tuch trugen“, erklärt er. Arafat habe den Kult um das Tuch
       wiederbelebt.
       
       Fußläufig geht es weiter in Richtung Altstadt. Ehab erklärt, dass Hebron
       nicht nur der wirtschaftliche Motor von Palästina ist, sondern auch das
       Epizentrum des sogenannten Konflikts. Schon zu Beginn der zionistischen
       Bewegung in der 1920er Jahren gab es hier zahlreiche Terroranschläge.
       
       Heute ist Hebron in zwei Zonen aufgeteilt: 80 Prozent der Stadt liegen in
       der Zone H1, die von Palästinensern administriert wird. Für die restlichen
       20 Prozent in H2, hauptsächlich im Inneren der Stadt, gilt israelisches
       Militärrecht. „Da leben auf wenigen Straßen 800 Siedler, bewacht von
       mehreren tausend israelischen Soldaten“, erzählt Ehab. Die Siedler berufen
       sich auf die Jahrhunderte überdauernde Präsenz der Juden hier und auf die
       besondere Bedeutung der Stadt im Alten Testament.
       
       Direkt neben einer geschäftigen arabischen Marktstraße grenzt die erste
       Sicherheitsschleuse an – ein viele Meter hohes Stahlgerüst. „Mehrere
       zehntausend Palästinenser leben in der israelischen Sicherheitszone H2 auf
       der Seite der Siedler. Sie haben einen speziellen Ausweis und müssen jedes
       Mal durch diesen Checkpoint, wenn sie von der palästinensischen Seite der
       Stadt zurück nach Hause wollen. Ich darf da gar nicht hin, H2 ist für mich
       Sperrgebiet.“
       
       ## Die Siedlung Gush Etzion
       
       Wir laufen durch den alten Markt, der südlich an das Sperrgebiet angrenzt.
       Über den Gassen der Einkaufsstraße schirmen feinmaschige Gitter das
       Marktreiben ab. „Die mussten die Israelis selbst anbringen, weil viele
       Siedler von den umliegenden Häuser Steine auf die palästinensischen
       Geschäfte und ihre Kunden warfen“, sagt Ehab. Am Ende einer verlassen
       wirkenden Gasse liegt das Geschäft von Judi.
       
       Er steht vor einem meterhohen Zaun, der seine Ladenwohnung von dem darüber
       angrenzendem Siedlerhaus trennt. Dahinter türmt sich der Müll. „Die Siedler
       werfen nicht nur Steine, sie werfen Müll, Wasserflaschen … alles Mögliche“,
       erzählt er. Warum er noch hier wohnen will, wenn sein Leben unter
       Dauerbeschuss ist? „Das Haus ist die Ehre der Familie. Hier lässt man sich
       nicht einfach so verjagen.“
       
       Am nächsten Tag geht es zur jüdischen Siedlung Gush Etzion. Für das Treffen
       mit dem Siedler Myron ändert Ehab am Morgen mehrmals den Treffpunkt. Fest
       steht nur, ich soll nahe dem Supermarkt an einer Straßenkreuzung mit
       angespannter Sicherheitslage „übergeben“ werden. Da sich hier die
       Palästinenser- und jüdischen Siedlerorte besonders dicht schneiden und die
       Straßen von beiden genutzt werden, kommt es häufig zu Zwischenfällen. Die
       Kontrollen durch israelische Soldaten sind besonders streng. Myron klingt
       abgehaspelt und nervös am Handy. „Treffen wir uns jetzt am Straßenrand des
       Kreisverkehrs oder an einer Bucht vor dem Einkaufzentrum?“ Der Puls steigt.
       Doch die Übergabe klappt.
       
       An der Einfahrt zur Siedlung Gush Etzion wird Myron von einem Soldaten
       freundlich gegrüßt und durchgewunken. Hinter der Schranke tut sich eine
       Parallelwelt auf: Rechts und links der Straße säumen frischgrüne
       Hartlaubgewächse die Fußwege. Zweispurige Fahrradwege, die an
       EU-Normativität erinnern. Es ist so sauber, als hätte man über die Siedlung
       eine unsichtbare Glasglocke gestülpt – um sie vom Sand der angrenzenden
       Wüste und dem „Chaos palästinensischen Lebens“ abzuschirmen.
       
       Myrons Haus geizt nicht an Wohnlichkeit. Die Gäste nehmen im großzügig
       geschnittenen Salon auf der weißen Sitzgarnitur Platz. „Wir haben nicht
       immer so gewohnt. Als wir 1971 aus Kalifornien hierher zogen, lebten wir
       auf 54 Quadratmetern“, erzählt Myron. Dieser Block der Siedlung sei ein
       Kibbuz, eine kollektive Gemeinschaft, deren frühen Ideale der gegenseitigen
       Hilfe und Sozialwirtschaft stark vom Kommunismus inspiriert waren. „Ich
       arbeitete auf dem Feld und meine Frau leitete die Kantinenküche.“
       
       Zu Beginn habe es noch nicht einmal Geld gegeben. Heute sei das anders: Die
       jüngeren Leute haben Bürojobs in Technologie-Start-ups auf der israelischen
       Seite. Auch die Kantine wird nicht mehr kollektiv betrieben. Aber das
       Autonomiepinzip ist trotzdem weitestgehend erhalten geblieben: Der Kibbuz,
       wie die meisten anderen Siedlungen auch, sollen sich finanziell
       weitestgehend selbst tragen „und deshalb müssen sie auch immer weiter
       wachsen, um überhaupt weiter existieren zu können, weil sonst nur noch alte
       Menschen über bleiben, die keiner mehr finanzieren kann.“
       
       ## Techno in Ramallah
       
       Meine Schnitzeljagd endet in Ramallah – der Stadt der leichten
       Unterhaltung. An der Hauptstraße reihen sich Stundenhotels neben
       Cocktail-Bars. Hier regiert das schnelle Geld, und das kommt in Palästina
       meist von Hilfsorganisationen. Denn das Land hängt am Tropf ausländischer
       privater und staatlicher Verbände. Wer gebildet und betucht ist, trifft
       sich zum Beispiel in der Snobar: Die Bar liegt wie ein hölzernes
       Piratenschiff gestrandet im dichten Wald eines Berghangs. In der Mitte ein
       Pool, in dem Frauen und Männer in leichter Bekleidung zu technoistischen
       Beats ihre Pirouetten drehen.
       
       „Während anderswo in Palästina das Scharia-Gericht über Zwistigkeiten in
       Mehr-Frauen-Ehen entscheidet, gibt es hier in Ramallah sogar eine kleine
       schwullesbische Szene. Die Leute vergessen oft, dass gleichgeschlechtliche
       Beziehungen im Westjordanland seit den sechziger Jahren legal sind“,
       erzählt der junge amerikanisch-palästinensische Künstler Yusef Audeh. Nach
       seinem Studium in New York und Boston zog es ihn zurück in seine Heimat.
       Wie fühlt sich Widerstand an, in einem seit über 70 Jahren besetzten Land?
       „Generation für Generation arbeiten wir daran, unser kulturelles Erbe hier
       zu bewahren.“
       
       Yusuf erzählt, dass Palästina zunehmend von wissbegierigen Touristen aus
       Europa, Japan und Südkorea besucht wird, die auf der Suche nach einer
       alternativen Sicht auf das geteilte Land sind, die sich mit ehemaligen
       israelischen Soldaten treffen und mit politischen Aktivisten.
       
       Und wolle man die antiken Ruinen Sebastia oder das griechisch-orthodoxe
       Kloster in Mar Saba besuchen, „dann geht das sowieso nur mit einem lokalen
       palästinensischen Führer und Fahrer, denn diese Ort liegen schwer
       zugänglich im palästinischen Hinterland“, lacht Yusef und blinzelt über
       seine silbergraue futuristische Sonnenbrille hinweg in den orangefarbenen
       Abendhimmel.
       
       16 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp T. Hinz
       
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