# taz.de -- Konzert von Neneh Cherry in Berlin: Alterslässige Freestylerin
       
       > Die künstlerische Wiederauferstehung Neneh Cherrys ist eine der
       > erstaunlichsten Pop-Storys jüngerer Zeit. Nun konnte man sie live
       > erleben.
       
 (IMG) Bild: „It’s my politics living in the slow jam“, singt Neneh Cherry​
       
       Falls irgendwer an diesem Mittwochabend noch den Hauch eines Zweifels
       gehegt haben sollte, dass diese Frau weiß, wovon sie singt, so wird der
       spätestens dann zerstreut, als die ersten Takte des Songs „Deep Vein
       Thrombosis“ erklingen.
       
       Neneh Cherry, in ein weißes, gewandartiges Kleid gehüllt, auf dem zwei
       lange geflochtenen Zöpfe baumeln, steht kurz still vor dem Mikrofon; die
       Augen geschlossen, ganz bei sich.
       
       Sie singt davon, wie beschränkt und banal das Leben sein kann und wie es
       dann mit einem Fingerschnippen auch schon wieder vorbei ist; „Life’s a
       bitch, and then you die“, zitiert sie berühmte Verse des New Yorker Rappers
       Nas; sie spielt mit dieser Zeile, variiert sie zu „Life is funny, and then
       you die“, tippt sich mit dem Finger an die Schläfe.
       
       Ein gemeiner Hund ist es, das Leben, verdammt noch mal – „how fragile is
       this life“, freestylt Cherry jetzt – Thrombose und Tod hält es bereit – „so
       let’s live first!“, shoutet sie dann. Untermalt wird ihr Gesang von
       gleitenden Vibrafonklängen, sanft pochenden Beats.
       
       ## Full House!
       
       Während des Konzerts, das Neneh Cherry im Astra gibt, bekommt dieses Stück
       eine besondere Bedeutung, denn sie widmet es dem genau vor einem Jahr
       verstorbenen britischen Designer, Styler, Punk-Prototyp und Fädenzieher
       Judy Blame, mit dem sie eng zusammenarbeitete. Im ausverkauften Saal („Full
       House, yeah“, begrüßt sie das Publikum) stellt sie ihr vergangenen Herbst
       erschienenes Album „Broken Politics“ vor.
       
       Die rund 1.500 Besucher_innen sind sichtlich berührt und begeistert, die
       54-jährige schwedisch-amerikanisch-britische Musikerin nach ihrem Comeback
       vor einigen Jahren noch mal erleben zu dürfen.
       
       Die Wiederauferstehung der Neneh Cherry ist in der Tat eine der
       erstaunlichsten Geschichten des Pop in der jüngeren Zeit. Neneh Mariann
       Karlsson, wie sie eigentlich heißt, in Stockholm aufgewachsen, Stieftochter
       des Jazzers Don Cherry, begann als junger Punk in den frühen Achtzigern in
       London, spielte gemeinsam mit den Slits.
       
       Ende der Achtziger und zu Beginn der Neunziger hatte sie Pop-R&B-Hits
       („Manchild“, „7 Seconds“) – und verschwand dann fast zwanzig Jahre von der
       Bildfläche. 2014 kehrte sie mit einem ersten triumphalen, TripHop-Album
       („The Blank Project“) zurück, vier Jahre später folgte ein fast noch
       größeres Spätwerk, das sich mit dem diffus-katastrophalen Zustand der Welt
       befasst.
       
       ## Wie wir leben werden
       
       Das Set besteht zum Großteil aus Songs jenes Albums, so ist etwa das Stück
       „Synchronised Devotion“ ein weiterer Höhepunkt, auch da geht es um
       Zerbrechliches und Ungewisses – und darum, wie wir leben wollen und wie wir
       leben werden. „Broke some glass, broken politics/ Try to bring it on“,
       singt Cherry darin, „it’s my politics living in the slow jam.“
       
       Am Ende sind Cherrys Stücke immer empowernd, das Subjekt hat das Heft des
       Handelns in der Hand, es ist kein Opfer der Verhältnisse, sondern es tanzt,
       es rappt und genießt das Leben, es wirbelt herum auf der Bühne, vor Ort in
       Persona der Sängerin. Mit stylishen weißen Turnschuhen groovt sie auf und
       ab, hin und her, einmal sieht es fast so aus, als setze sie zum Breakdance
       an.
       
       Das nun folgende Stück, „Black Monday“, ruft ganz direkt (und daueraktuell)
       zu Selbstbestimmung und -ermächtigung auf, der Song richtet sich gegen
       Abtreibungsgegner_innen. Sie kündigt ihn an mit den Worten: „We have the
       right to be what we want to be. We have the right to make our choice about
       our bodies. We will not give up.“
       
       Als Cherry gegen Ende Evergreens wie „Manchild“ und „Buffalo Stance“ (beide
       1989) spielt, sieht man im Publikum – geschätzt etwas mehr Frauen als
       Männer, Durchschnittsalter etwa 50 – glückselige Gesichter, die für diesen
       einen Moment wohl gedanklich dreißig Jahre jünger werden und vielleicht,
       wie der Autor dieser Zeilen, ein MTV-Video mit einem billig animierten
       Strand, einer jungen Mama Neneh Cherry und schaukelnden Kindern vor Augen
       haben. Auch „7 Seconds“ (1994), ihren größten Hit, spielt sie – dabei ist
       das eigentlich eines ihrer schwächeren, auf Radioformat getrimmten Stücke.
       
       Stark sind eher die neueren Songs, stark sind die Freestyle-Raps, die
       Cherry zwischendurch einstreut, stark sind die Tanzeinlagen. Stark ist die
       Lockerheit, die Nonchalance, die Alterslässigkeit. Stark ist, dass drei
       Frauen – neben ihr selbst eine Perkussionistin und eine Harfenistin – vorne
       auf der Bühne agieren, während vier Männer im Hintergrund an Computern und
       Bässen werkeln. Stark ist diese besondere Stimmfarbe Cherrys.
       
       Ein ganz großer Konzertabend wäre es gewesen, wenn die Abmischung besser
       gewesen wäre und ihre Stimme noch klarer zur Geltung gebracht hätte. So
       stand diese zwar im Vordergrund, blieb aber trotzdem manchmal zu leise, und
       Synthesizer und Beats überlagerten gelegentlich alles andere. Toll klang
       die Harfe, aber auch sie konnte manchmal nicht durchdringen.
       
       Neneh Cherry aber war, ist und bleibt eine Erscheinung, und zum Schluss,
       nach eineinhalb Stunden, möchte man sich gern so tief und heftig vor ihr
       verbeugen, dass man immer wieder fest mit dem Kopf auf den Betonboden des
       Astra knallt.
       
       21 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
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