# taz.de -- Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow: „Als Kinder zeichneten wir Comics“
       
       > Rock, Pop, Pubertät: Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow spricht über sein
       > Buch „Aus dem Dachsbau“, das Surreale und die wahre Freundschaft.
       
 (IMG) Bild: „Da kriegt die Umgebung oft etwas Unheimliches“: Dirk von Lowtzow bestaunt die kindliche Fantasie
       
       taz am wochenende: „Ich erzähle dir alles und alles ist wahr – Electric
       Guitar“ heißt es in einem Song auf eurem letzten Album „Die Unendlichkeit“.
       Typisch doppeldeutig, typisch Tocotronic, typisch Dirk von Lowtzow. Wie ist
       es nun beim Schreiben von Texten ohne Sound, für die Veröffentlichung in
       einem Buch: Was ist wahr und was Electric Guitar?
       
       Dirk von Lowtzow: Also, das Buch ist keine Autobiografie. Es ist eine
       Enzyklopädie über mich, wie ich die Welt erfahre. Mit autobiografischen
       Rückblicken auf Situationen, die wirklich stattgefunden haben. Es gibt
       Passagen, die von mir handeln, die autofiktional oder auch autobiografisch
       sind. Sie sind aber unzuverlässig, da sie ins Surreale kippen können. Die
       Geschichten in dem Buch, die auf wirklich Erlebtem beruhen, wie „Alexander“
       oder „Junge Union“, sind mit besten Wissen und Gewissen so erzählt, wie ich
       glaube, mich zu erinnern. Es ist eine Mischung: Es gibt das tatsächlich
       Wahre, aber eben auch das Fantastische und die Fantasie. Alles zusammen
       soll ein relativ wahrhaftiges Bild von dem ergeben, was mich so
       beschäftigt.
       
       Das Buch ist auch eine Hommage an einen gewissen Alexander. An eine
       erhoffte, vielleicht teilweise teenagerhaft imaginierte, aber auch
       tatsächlich gelebte Beziehung. Warum ist sie nach so vielen Jahre immer
       noch so wichtig? 
       
       Das Buch geht zeitlich zurück auf die Beschäftigung [1][mit dem letzten
       Tocotronic-Album]. Es ist fast so etwas wie ein Crossfade.
       
       Ein Crossfade? 
       
       Ein Überblender, wie von einem DJ am Mischpult. Ich hatte nach dem Album
       den Wunsch verspürt, ein paar Dinge zu vertiefen, die man nicht so einfach
       in Songs packen kann. Aber in Prosatexte schon, die muss man nicht singen.
       
       Also ein bisschen das Notizbuch zum Album? 
       
       Ja. Ich hab das früher schon öfters band-intern gemacht. Ein wenig wie das
       Programmheft beim Theater, das gewisse Zitate, Einflüsse und Gedanken
       offenlegt. Ich habe damit vor dem Stück „Unwiederbringlich“ begonnen. Der
       Song dreht sich um Alexander und ist mir wahnsinnig schwergefallen. Wir
       haben auch als Band lange daran herumgebastelt. Da wurde mir klar: Wenn das
       Buch mehr als meine privaten Notizen sein soll, dann müssten er und diese
       Liebesgeschichte eine ganz große Bedeutung darin haben. Nun zieht er sich
       wie ein roter Faden durch die Narration, ein Geist, der immer wieder
       auftaucht und zwischen den Buchstaben hervorschaut.
       
       Viele der Texte handeln von der Liebe, der Freundschaft und den großen
       Erwartungen eines Teenagers, die sich aber auch vor dem frühen Tod des
       Jugendfreundes nicht immer erfüllten. Was kennzeichnete diese Freundschaft? 
       
       Alexander war bei uns anfangs in die Band involviert, war Tourbegleiter.
       Als wir mit unserem ersten Album („Digital ist besser“) 1995 auf Tour
       gingen, war er mit dabei. Es ist ein bisschen Spekulation: Was wäre
       gewesen, wäre er nicht gestorben. Hätte man sich über die Jahre entfremdet,
       wäre man noch befreundet? Das macht dieses Geisterhafte ja gerade aus. Wir
       kannten uns, seit ich fünf oder sechs war. Und er war für mich so etwas wie
       ein Rettungsanker, wo wir herkamen, in Offenburg. Wir machten zusammen
       Musik, waren zusammen im Jugendzentrum, haben uns gemeinsam eine Welt
       gezimmert. Als Kinder zeichneten wir Comics, erfanden Saurierfiguren. Dann
       entdeckten wir den Punk und waren zusammen im Punk-Sein.
       
       Da gibt es in dem Buch die Erzählung, als ihr versuchtet, Die Goldenen
       Zitronen in Hamburg zu besuchen. 
       
       Das war um die Zeit, als [2][Die Goldenen Zitronen] ihre erste Platte
       herausbrachten, „Genscher, Porsche, Hallo HSV“. Oder etwas früher noch, als
       sie diese Single herausbrachten, „Doris ist in der Gang“. Um 1986/87. Da
       müssen wir so 15, 16 gewesen sein, sind mit Interrail nach Hamburg gefahren
       und haben in der Jugendherberge übernachtet. Auf den Platten stand ja die
       Privatadresse drauf: Goldene Zitronen, Buttstraße. Wir sind dorthin, haben
       angeklopft. Da war aber nur ein anderer Punktyp. Der sagte: Die sind auf
       Tour. Wir waren halt etwas naiv damals. Dann kam diese Punkphase. Wir haben
       unsere eigenen Bands gegründet, von den Zitronen beeinflusst. Fun-Punk,
       bald dann ein bisschen anders. Man weiß natürlich nicht, ob man heute immer
       noch befreundet wäre.
       
       Bewusst offen formuliert haben Sie ja auch in einer der Geschichten,
       inwieweit Sie sich tatsächlich auf Ihren jugendlichen Freund verlassen
       konnten. 
       
       Genau, was für Teenager ganz typisch ist. Man geht durch verschiedene
       Phasen, lernt andere, neue Freundeskreise kennen. Da gibt es diese
       Geschichte „Junge Union“. In der komme ich mit etwas älteren rechten
       Jugendlichen in Kontakt, bei dieser Freizeit. Was wirklich interessant ist,
       weil es im Grunde genau die gleichen Typen wie heute sind. Alexander war
       damals viel weniger ideologisch als ich. Wir waren 14 oder 15. Während er
       schlagfertig und gewitzt mit unterschiedlichsten Leuten umgehen konnte, zog
       ich mich eher schnell und unsicher ins Außenseitermäßige zurück.
       
       Was spielt die größere Rolle: Beschäftigung mit oder die Verteidigung von
       Kindheit? 
       
       „Aus dem Dachsbau“, der Titel sagt es schon, ist irgendwie auch ein
       Kinderbuch. Ich liebe diese folkloristisch angehauchten englischen
       Kinderbücher wie „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame, in der auch
       ein Dachs vorkommt, fast schon als Hauptfigur. Eine typisch englische
       Geschichte in einer typisch englischen Landschaft und mit ihrer
       Schrulligkeit. Oder „Pu der Bär“. Das Kindliche, das in einem steckt, für
       sich anzunehmen, das mag banal klingen, spielt aber für mich eine große
       Rolle. Von daher vielleicht auch all die Tiere, Cartoon-Charaktere und
       Mischwesen, die in meinem Buch vorkommen. Und die mich begleiten wie die
       Figuren bei „Pu der Bär“.
       
       Vielleicht geht es bei all den Mischwesen und Verspieltheiten auch um
       etwas, das man verteidigen möchte, wie die Phase der Adoleszenz gegen die
       der Rationalität des Erwachsenseins? 
       
       Also, als Rockmusiker musst du immer das Adoleszente verteidigen, egal ob
       du 18 oder 80 bist. Rockmusik ist so etwas wie in Musik gegossene Pubertät.
       Ich rede jetzt wirklich von Rockmusik in ihrer klassischen Form, Gitarre
       umhängen, einstöpseln und raus. Das ist die Quintessenz des Gefühls von
       adoleszenter Rebellion. Ein bisschen albern, euphorisch und auch blöde.
       Aber das ist halt einfach so und muss so sein. Es gibt andere Musiken, für
       die würde ich das jetzt nicht sagen.
       
       Tocotronic ist Rockmusik oder Popmusik? 
       
       Beides. [3][Wir umarmen das Rockistische, das Laute, das Verzerrte], das
       diffuse Klanggefühl. Andere Techniken kommen aus dem Pop hinzu, das
       Konzeptuelle, das Subtile, der Humor und die Ironie. Aber noch einmal zur
       Adoleszenz: Bei dem Buch wie bei der Musik geht’s schon oft auch um einen
       Blick, der mit Kindern zu tun hat. Weil der eben öfters das Unheimliche
       streift. Kinder sehen Dinge aus einer anderen Perspektive. Sie sind
       kleiner, haben einen anderen Blick auf die Welt. Und wo ich in dem Buch so
       umherstreife, an diese Nichtorte komme, Strommasten, Gullis, Böschungen,
       Büsche, die sehen Kinder anders. Die können ja wirklich in den Büschen
       verloren gehen, was einem als Erwachsenen ja nur schwer gelingt. Da kriegt
       die Umgebung oft etwas Unheimliches, oder auch die Wohnung und ihre
       Antiquitäten. Das ist ein bisschen so ein E.T.A.-Hoffmann-artiger Spuk.
       
       Es ist ein viel unmittelbarerer, naiverer Zugriff auf Welt. 
       
       Und den finde ich schön, der interessiert mich. Man muss es für sich
       zulassen. Dann hat es auch eine sehr analytische Komponente. Dann merkt
       man, was für Kräfte, Milieus, Institutionen wie die Schule auf einen
       gewirkt haben. Und was das Buch angeht: Da bin ich ja selber wieder
       Debütant, ABC-Schütze.
       
       „Aus dem Dachsbau“ ist ein Soloprojekt. Doch der Debütant kreist ständig um
       andere Personen und Freundschaften?
       
       Ich habe nie vorgehabt, ein Soloalbum zu machen und plane es auch nicht.
       Aber als Buch ist es kaum anders möglich. Wir haben bereits ein Gruppenbuch
       veröffentlicht, „Die Tocotronic Chroniken“. Und ja, es geht in vielem um
       Freundschaften, Beziehungen und Geschichten miteinander. Kollektive,
       Verbindungen und Bündnisse sind für mich wichtig, der Beginn von
       Solidarität und des Politischen. Wo du dir sagst: Ich bin nicht allein.
       Einzelkämpfertum finde ich nicht erstrebenswert. In meiner Miniliteratur
       geht es oft um Einsamkeit, allein Umherlaufen, Verlorenheit. Aber nicht um
       Einzelkämpfertum.
       
       16 Feb 2019
       
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