# taz.de -- Debatte Göttinger Friedenspreis: Jüdischer Dissens
       
       > Die Affäre um den Göttinger Friedenspreis handelt von Meinungsfreiheit
       > und Repräsentanz. Der Zentralrat spricht nicht für alle.
       
 (IMG) Bild: Ein Kritiker des Preisträgers: Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland (Archivbild 2015)
       
       Kein anderes Milieu in Deutschland hat sich durch Einwanderung so sehr
       verändert wie das Judentum. Mehr als 90 Prozent der 200.000 Juden und
       Jüdinnen sind Migranten der ersten oder zweiten Generation. Und nur die
       Hälfte ist Mitglied einer Gemeinde. Nur für diese Hälfte kann also der
       Zentralrat der Juden sprechen in seiner Rolle als das zeremonielle
       Gegenüber von Politik und Mehrheitsgesellschaft.
       
       Es scheint mir sinnvoll, die Kontroverse um den [1][Göttinger
       Friedenspreis], der am Samstag an die Jüdische Stimme für gerechten Frieden
       in Nahost vergeben wird, unter dem Aspekt der Repräsentanz zu betrachten.
       Es geht ja keineswegs nur darum, welche Strategie gegen die israelische
       Besatzung legitim ist. Sondern es geht um Meinungsfreiheit: Wie abweichend
       dürfen Juden und Jüdinnen denken? Und kann im Land der Schoah eine
       Vertretung jüdischer Belange nur so aussehen, dass eine offizielle Stimme
       spricht und dabei den Rahmen des Sagbaren absteckt?
       
       Josef Schuster, Präsident des Zentralrats, nannte die geplante Auszeichnung
       „einen Schlag ins Gesicht der gesamten jüdischen Gemeinschaft in
       Deutschland und Israel“. Die Formulierung wirft ein logisches Problem auf,
       denn auch die Preisträger gehören als Juden zu dieser Gemeinschaft; einige
       sind sogar Mitglieder von Gemeinden. Doch sie werden von Schuster nicht als
       Juden gedacht (neudeutsch „gelesen“), sondern nur als Gegner. Auch die
       Opponenten aus der Mehrheitsgesellschaft taten seltsamerweise so, als ginge
       es hier gar nicht um Juden (teils zugleich Israelis) – als seien dies also
       keine Menschen, für welche die Schoah und aller Antisemitismus eine
       existenzielle Bedeutung hat.
       
       Eine Mitbegründerin der Jüdischen Stimme, die Schriftstellerin Ruth
       Fruchtman, eingetragen bei der Jüdischen Gemeinde Berlin, beschreibt in
       ihrem Roman „Jerusalemtag“, was es für eine Jüdin ihrer Generation (sie ist
       über 70) bedeutet, gegen die Okkupation zu kämpfen. Welche inneren Kämpfe
       es mit sich bringt, womöglich lebenslang, sich in einer Weise zu
       positionieren, die manchmal selbst von der eigenen Familie nicht verstanden
       wird.
       
       ## Wer spricht?
       
       Wer spricht also für wen und zu wem? Der jüdische Zentralrat ist zwar
       repräsentativer als das muslimische Organ dieses Namens, aber er ist eben
       nicht die Stimme aller Juden. Seine Vertreter müssen Widerspruch aushalten
       können, ohne ihn zu diffamieren.
       
       Es ist nachvollziehbar, wenn die ältere Generation westdeutscher Juden an
       einer Position festhalten will, die sich nach 1945 herausgebildet hat. Die
       kleine Schar Überlebender, die sich damals im Land der Täter niederließ,
       gegen den Willen der internationalen jüdischen Organisationen, war lange
       isoliert. Als die Alliierten mit dem aufkommenden Kalten Krieg ihre
       Entnazifizierungspolitik einstellten, verloren die Juden ihren wichtigsten
       Verbündeten. Sie blieben quasi mit der Bundesregierung allein und wurden
       allmählich zu Kronzeugen deutscher Läuterung, herausgestellt wie ein
       symbolischer Ersatz für die Ausgelöschten. Im Gegenzug genießen die
       Repräsentanten der Gemeinde öffentlichen Status und Medienresonanz; so ist
       es bis heute.
       
       Doch haben sich die Umstände geändert, ein divers gewordenes Judentum lebt
       nun in einer vielstimmigen Gesellschaft. „Juden und Jüdinnen bilden keine
       Gemeinschaft, weder religiös noch ethnisch“, urteilt der jüdische Lyriker
       Max Czollek rigoros. Sie seien vielfältiger, als es ihre „öffentliche
       Brauchbarkeit“ zulasse, und sollten ihre Rolle im Gedächtnistheater
       aufkündigen.
       
       Die Haltung von Gemeindeoberen, innerjüdischen Dissens nicht an die
       Öffentlichkeit dringen zu lassen, wird von Jüngeren nun als
       „Dominanzkultur“ kritisiert; sie verhindere Demokratie, unterdrücke
       Vielfalt. So war es kein Zufall, dass die Zeitschrift Jalta gegründet
       wurde, nachdem der Präsident des Zentralrats eine Obergrenze für
       Flüchtlinge fordert hatte. Das Projekt markiert ein Ende der
       Nachkriegsordnung, denn es will die alte Zweiteilung beenden: hier der
       verborgene innerjüdische Diskurs, dort die strategische Ansprache der
       Mehrheitsgesellschaft. Stattdessen: Dissens sichtbar machen, und ohne Angst
       verschieden sein.
       
       ## Sind wir soweit?
       
       Diese Losung auf den Umgang mit israelischer Politik anzuwenden, ist
       vermutlich das Schwierigste. Dennoch halte ich es für falsch, wenn der
       Historiker Moshe Zimmermann „Diasporajuden“ als „Geiseln israelischer
       Politik“ bezeichnet. Geiseln haben keine Wahl, sie entscheiden sich nicht,
       Geisel zu sein. Jeder Jude, jede Jüdin ist frei, die Okkupation zu
       kritisieren; sie zu beschweigen, ist gleichfalls eine dezidierte Haltung,
       und sie kommt nicht unter Erpressung zustande. Es ist nicht Bedrohung von
       außen, warum die israelische Führung so nach rechts gerückt ist. Und es
       liegt nicht an akuter antisemitischer Gefährdung, wenn das offizielle
       jüdische Meinungsspektrum in Deutschland so schmal ist. Das sind
       Entscheidungen, und sie sind änderbar.
       
       Ein Blick in die USA: Die Mehrheit amerikanischer Juden geht seit Längerem
       auf Abstand zu israelischen Scharfmachern. Selbst das American Israel
       Public Affairs Committee, bisher Benjamin Netanjahus Verbündeter durch dick
       und dünn, reagierte nun irritiert auf dessen Wahlallianz mit einer
       extremistischen Partei, die für die Deportation der arabischen Israelis
       eintritt. Die Kritik der liberalen Gruppe J Street, die in der jüngeren
       Generation der US-Juden viel Anhang gewonnen hat, fiel erwartungsgemäß
       heftiger aus.
       
       Liegt es allein an der größeren Zahl der amerikanischen Juden, dass unter
       ihnen eine Pluralität der Ansichten so normal ist wie religiöse Vielfalt?
       Gewiss nicht. Es braucht auch ein gesellschaftliches Umfeld, das damit
       umgehen kann. Ein Umfeld, das Juden und Jüdinnen nicht als Figuren für die
       Vitrine betrachtet, sondern als reale Menschen, mit denen man streiten
       kann. Sind wir so weit?
       
       6 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlotte Wiedemann
       
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