# taz.de -- Kolumne Fremd und befremdlich: Löchrige Gerechtigkeit
       
       > Regeln sind wichtig. Aber es gibt keine Gerechtigkeit, auch wenn sich
       > alle an die Regeln halten. Oder täusche ich mich?
       
 (IMG) Bild: Wofür bekommt er sein Gehalt? Martin Winterkorn bei der Jahreshauptversammlung des FC Bayern
       
       Ich bin ein Mensch, der sich auf eine vielleicht übertriebene Art und Weise
       an Regeln hält. Ich werde oft dafür ausgelacht, und ich weiß nicht, ob es
       nicht auch daran liegt, dass ich mich in einer Welt der Regeln gut
       zurechtfinde, dass eine solche Welt meinem Bedürfnis nach Ordnung und
       Orientierung entgegenkommt.
       
       In einer Welt, in der die Menschen alle dieselben Regeln befolgen, da muss
       es doch, innerhalb dieses Regelwerkes, eine gewisse Gerechtigkeit geben,
       oder nicht? Nicht, sagen die, mit denen ich unterwegs bin, und die mich
       auslachen, weil ich nicht bei Rot über die Straße gehe. Es gibt keine
       Gerechtigkeit, auch wenn sich alle an die Regeln halten. Denn wir sind
       Individuen, die diese Einhaltung mehr oder weniger kostet, und darin liegt
       die Ungerechtigkeit.
       
       Einer Berliner Kassiererin wurde 2008 nach 31 Arbeitsjahren fristlos
       gekündigt, weil sie einen Kassenbon im Wert von 1,30 Euro für sich
       eingelöst haben soll. Dies zog einen zweijährigen Rechtsstreit nach sich,
       in dessen Verlauf sie in letzter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht
       dahingehend Recht bekam, dass ihr Verhalten lediglich eine „erhebliche
       Pflichtwidrigkeit“ darstelle, in deren Konsequenz nur eine Abmahnung hätte
       erfolgen dürfen.
       
       Es ging wohl ums Prinzip, und das kann ich verstehen. Das Prinzip ist
       wichtig, Regeln sind wichtig, dass sich alle dran halten, auch im kleinsten
       Maßstab. Denn das hält die Gesellschaft zusammen.
       
       Dann gibt es Fälle, wie den in Lügde, wo über einen langen Zeitraum Kinder
       missbraucht worden sind und wo es offensichtlich ist, dass manche Leute
       einen Fehler und ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht haben. Einmal und
       noch einmal, und wieder.
       
       ## Jeden Tag neue Fehler
       
       Jeden Tag lese ich die Nachrichten dazu, und jeden Tag kommen neue Fehler
       dazu. 155 Datenträger sollen aus der Sichtungskammer der Polizei
       weggekommen sein, Beweisstücke zur Aufklärung von schlimmen, von
       widerwärtigen Verbrechen. Und es lässt sich nicht nur bisher nicht
       ermitteln, wer die Datenträger wo hingebracht hat, es lässt sich
       anscheinend, gegenüber der Öffentlichkeit, auch nicht sagen, wer dafür
       verantwortlich ist.
       
       Jetzt wird die Verbrecherhütte abgerissen, und da finden die
       Abbruchunternehmer weitere Datenträger, und am nächsten Tag schon wieder.
       Ich frage mich, warum ist es so schwer, verantwortliche Menschen zu finden
       und, zum Beispiel, zu entlassen? Wie eine Supermarktverkäuferin, die einen
       Kassenbon einlöst, den jemand verloren oder vergessen hat.
       
       Man kann das nicht vergleichen. Es gibt Strukturen, in denen sich einfach
       nicht ermitteln lässt, nur ganz schwer, wer zuständig oder gar
       verantwortlich ist, offensichtlich, und dann gibt es wiederum Strukturen,
       wo einer entlassen wird, wenn er einen Pfandbon aufhebt.
       
       ## Martin Winterkorn und die Verantwortung
       
       Dann gibt es noch ganz andere Geschichten und man kann sie ganz sicher –
       nein – nicht vergleichen. Die Geschichten lauten zum Beispiel so: Martin
       Winterkorn, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des VW-Konzernes, Träger des
       Bayerischen Verdienstordens, der Verdienstmedaille des Landes
       Baden-Württemberg, des Ehrenringes der Stadt Garbsen, des Dresdner Sankt
       Georgs Ordens und des Großkreuzes des Ordens Isabellas der Katholischen,
       ist am Montag von der Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen besonders
       schweren Falles des Betrugs, Verstoßes gegen unlauteren Wettbewerbes sowie
       Untreue angeklagt worden.
       
       Bisher hat er behauptet, von den Abgasmanipulationen in dem Konzern, dem er
       vorstand, nichts gewusst zu haben. Sein jährliches Gehalt soll 17 Millionen
       Euro betragen haben. Man kann 17 Millionen verdienen und sagen: Ich bin
       nicht verantwortlich. Wofür bekommt man 17 Millionen? Was ist der Gegenwert
       für einen solchen Verdienst? Wie wertvoll muss die Arbeit sein, die man
       leistet, wenn sie denn nicht in Verantwortung besteht?
       
       Haben diese ganzen Sachverhalte miteinander zu tun? Kann man sie
       vergleichen? Gibt es Gerechtigkeit? Warten wir den Prozess gegen Herrn
       Winterkorn ab. Sein Geld soll er bereits in die Schweiz transferiert haben,
       legal.
       
       19 Apr 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Seddig
       
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