# taz.de -- IS-Rückkehrerinnen in Deutschland: Einmal IS und zurück
       
       > Deutschland hat eine IS-Anhängerin zurückgeholt. Andere warten auf ihre
       > Heimreise. Ob sie wirklich mit dem IS gebrochen haben, ist unklar.
       
 (IMG) Bild: März 2019: Ausländische Frauen von IS-Kämpfern im Flüchtlingscamp Al-Hol im Nordosten von Syrien
       
       Nun also ist Carla S. in der Justizvollzugsanstalt Dinslaken, inmitten der
       Ruhrgebietsstadt, gleich hinter dem Stadtpark. Ein kleiner Klinkerbau nur
       für inhaftierte Frauen, 70 Zellen, nicht viel für eine JVA. Drinnen gibt es
       lange Flure mit blassgelben Türen, hinter einer von ihnen sitzt Carla S.
       
       Ihre drei Kinder sind nicht mehr bei ihr. Sie sind bei ihrem Vater und der
       Großmutter, im 20 Kilometer entfernten Oberhausen. Es gehe Carla S. gut,
       sagt ihr Anwalt. So gut es einem hinter Gittern eben gehen könne. Die
       32-Jährige ist in Haft, aber sie ist in Sicherheit. Weg aus dem Krieg.
       
       Noch vor anderthalb Wochen war Carla S. in einem Lager im syrischen Asas,
       direkt hinter der türkischen Grenze, zusammen mit ihren Kindern, elf,
       sieben und knapp zwei Jahre alt. Fotos von dem Lager zeigen graue
       Großzelte, matschige Wege, drum herum einen Zaun. In einem der Zelte hatte
       sich Carla S. eine Ecke mit Decken abgehängt, einen kleinen Rückzugsraum
       geschaffen. In Handynachrichten, die ihre Familie öffentlich machte, klagte
       S. über Ratten, Krankheiten der Kinder und über Schüsse in der Ferne.
       
       Carla S. war Anhängerin des „Islamischen Staates“ (IS). Im Oktober 2015
       hatte die Oberhausenerin ihre Heimat verlassen. Drei Jahre lebte sie beim
       IS, bis sie im vergangenen Dezember von der oppositionellen „Freien
       Syrischen Armee“ gefangen genommen und nach Asas gebracht wurde.
       
       ## Lange duckte sich die Bundesregierung offiziell weg
       
       Vor anderthalb Wochen ging dann alles ganz schnell: Mit Hilfe des
       türkischen Militärs wurde Carla S. mit ihren Kindern über die nur wenige
       Kilometer entfernte Grenze ins türkische Gaziantep gebracht. Von dort
       flogen die vier nach Stuttgart, wo Carla S. am Flughafen ihre Mutter traf,
       die Kinder übergab – und [1][verhaftet wurde.]
       
       Carla S. ist damit die erste deutsche IS-Anhängerin, die aus syrischer Haft
       nach Deutschland zurückgeholt wurde. Und sie ist ein Politikum.
       
       Denn seit Wochen diskutiert die Politik über die in Syrien inhaftierten
       deutschen IS-Anhänger. Lange duckte sich die Bundesregierung offiziell weg.
       Mitte Februar aber brachte ein Tweet von Donald Trump Bewegung in die
       Sache. Der US-Präsident hatte Deutschland und andere aufgefordert, die
       IS-Gefangenen in Syrien zurückzuholen – andernfalls könnten sie
       freigelassen werden.
       
       Juristisch ist die Sache klar: Deutsche Staatsbürger haben ein Recht auf
       Wiedereinreise. Politisch aber zögert die Bundesregierung: Soll der Staat
       wirklich die Islamisten zurückholen – oder überwiegt die Angst, sich damit
       potenzielle Attentäter ins Land zu schaffen?
       
       ## Viele behaupten, geläutert zu sein
       
       Carla S. ist nur eine von vielen. Als der IS 2013 weite Teile Syriens
       eroberte, zog dies viele deutsche IslamistInnen an. 1.050 Ausreisen in das
       Kampfgebiet zählen die Sicherheitsbehörden bis heute. 200 der deutschen
       IS-Begeisterten sollen in Syrien und dem Irak ums Leben gekommen sein,
       manche gelten als verschollen. 69 sitzen dort nun in Haft, 48 davon Frauen,
       dazu kommen 62 Kinder. Die meisten sind in Lagern der Kurden, andere, wie
       Carla S., unter türkischer Kontrolle.
       
       Zudem sind mehrere Hundert Personen auf eigene Faust nach Deutschland
       zurückgekehrt, 110 von ihnen hatten laut Sicherheitsbehörden an Kämpfen
       teilgenommen. Etliche stehen nun [2][vor Gericht], etwa 70 der
       Zurückgekehrten sind bereits verurteilt. Viele von ihnen behaupten,
       geläutert zu sein, nur noch in Frieden leben zu wollen. Jeder dieser Fälle
       aber ist für die Behörden heikel: Kann man diesen Menschen trauen?
       
       Es ist eine Grundsatzfrage: Wie geht der Staat mit Menschen um, die sich
       radikalisiert haben? Die den deutschen Staat und seine BewohnerInnen
       bekämpfen wollten? Die die Gräueltaten des IS – Massenmord, Folter,
       Vergewaltigungen – hinnahmen oder gar daran beteiligt waren? Die vielleicht
       weiter gefährlich sind – oder auch ehrlich bereuen.
       
       Es ist das Bild von Gefährdern, das jetzt dominiert. Von Menschen, die
       verroht sind, zu allem bereit. Eine Rückholung der in Syrien inhaftierten
       Deutschen sei möglich, aber nur nach strenger Prüfung, sagte
       Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Er will keine „gefährlichen
       Leute“ aufnehmen und plädiert für ein internationales Tribunal. Auch
       Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) zögerte: Gefangene könnten nur nach
       Deutschland kommen, wenn sie hier direkt in Gewahrsam kämen. Und gerade
       erst beschloss die Bundesregierung, Terrorkämpfern mit doppelter
       Staatsbürgerschaft den deutschen Pass zu entziehen. Die Botschaft: Wir
       wollen diese Leute nicht.
       
       ## Das Passgesetz gilt nicht rückwirkend
       
       Aber der deutsche Staat ist in der Pflicht. Das neue Passgesetz gilt nicht
       rückwirkend. Die inhaftierten IS-Anhänger sind und bleiben deutsche
       Staatsbürger. Sie haben ein Recht auf ein faires Verfahren und, nach einer
       eventuellen Haftstrafe, auf Resozialisierung. Eine Chance auf einen
       Neuanfang.
       
       Carla S. könnte eine solche zweite Chance bekommen. Mehr als drei Jahre
       lebte sie mit ihren Kindern im „Kalifat“ des IS. Es waren das Auswärtige
       Amt und die deutsche Botschaft in Ankara, die nach taz-Informationen ihre
       Ausreise aus Syrien maßgeblich mitorganisierten, Papiere und Flüge
       besorgten, für am Ende 1.700 Euro. Zwei deutsche Beamte begleiteten Carla
       S. im Flieger.
       
       Aber noch traut ihr der Staat nicht. Die Staatsanwaltschaft hatte einen
       Haftbefehl vorbereitet, wegen Kindesentziehung. Die Bundesanwaltschaft
       ermittelt zudem wegen Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung. Schon seit
       2017 führt die Polizei Carla S. als Gefährderin – als Extremistin, der ein
       Anschlag zuzutrauen ist. Das Misstrauen trifft auch die, die schon lange
       wieder zurück in Deutschland sind. Die ihre Haft verbüßt haben und jetzt
       auf freiem Fuß sind. Frühere IS-AnhängerInnen wie Karolina R.
       
       Ein Mittwoch im Juni 2015, Saal 1 des Oberlandesgerichts Düsseldorf,
       Urteilsverkündung. Hinter der dicken Panzerglasscheibe sitzt die damals
       25-jährige Karolina R. Ihr Körper ist von oben bis unten dunkelgrau
       verhüllt. Erst als die Fotografen den Saal verlassen, macht die junge Frau
       das Gesicht frei. Richterin Barbara Havliza spricht sie der Unterstützung
       einer terroristischen Vereinigung im Ausland für schuldig: Drei Jahre und
       neun Monate Haft. Damit ist Karolina R. die erste Frau, die in Deutschland
       wegen Unterstützung des IS verurteilt wird.
       
       ## In der Schule schminkt R. sich, trinkt Alkohol
       
       Im Mai 2016 kam sie frei, nach zwei Dritteln der Strafe, auf Bewährung. Das
       Gericht und Fachleute sahen sie auf einem guten Weg, inzwischen lebt
       Karolina R. wieder im Rheinland. Aber ihr Fall treibt die Behörden weiter
       um. Es gibt Zweifel daran, dass Karolina R. wirklich mit der Szene
       gebrochen hat. Die taz hat versucht, mit Karolina R. und anderen
       RückkehrerInnen zu sprechen. Die meisten Anwälte und Beratungsstellen raten
       ihren KlientInnen von Kontakten mit Medien ab. Auch Karolina R. reagierte
       nicht auf die Anfrage. Als wir an ihrer Wohnungstür klingeln, macht niemand
       auf. Aber ihr Werdegang wurde im Gerichtsprozess ausgeleuchtet.
       
       Karolina R. ist in Polen geboren, als Kleinkind kam sie mit ihrer Familie
       ins Rheinland. Die R.s sind katholisch, die Tochter wählt Religion als
       drittes Fach im Abitur, beginnt eine Ausbildung als Erzieherin. In der
       Schulzeit kleidet sich R. modern, schminkt sich, trinkt Alkohol. Dann
       beginnt sie, sich für den Islam zu interessieren und konvertiert. Eine
       Moschee vermittelt ihr Fared S. als Ehemann. Er ist ihr erster Partner –
       und nimmt großen Einfluss auf sie.
       
       Heute sitzt Fared S. in Syrien in Haft, bei kurdischen Streitkräften. Er
       gilt als Topterrorist, als einer von wenigen Deutschen steht er auf der
       Terrorliste der UN. In Deutschland wartet ein Haftbefehl auf ihn,
       Journalisten sagte er, er wolle trotzdem zurück. Bekannt wurde S. durch ein
       IS-Propagandavideo, in dem er in Syrien neben einem Berg von Leichen hockt.
       „Wie ihr sehen könnt, wir haben diese Tiere geschlachtet“, sagt S.
       strahlend.
       
       Fared S. wollte schon früh nach Syrien zum IS. Karolina R., seine Frau,
       zögert, gibt aber schließlich nach. Im Mai 2013 reisen beide mit ihrem neun
       Monate alten Sohn und R.s Bruder, der ebenfalls konvertiert ist, aus. Sie
       gehören zur ersten Welle der Auswanderer. Einige Wochen bleibt Karolina R.
       in Syrien, dann kehrt sie mit dem Kind nach Deutschland zurück. Im Oktober
       2013 reist sie noch einmal dorthin – auch weil ihr Mann sich eine Zweitfrau
       genommen hatte und sie eifersüchtig ist. Diesmal bleibt R. zwei Monate.
       Zurück in Deutschland, sammelt sie Geld, schickt Pakete und Überweisungen
       an ihren Mann. Dafür wird sie schließlich verurteilt. Chatprotokolle
       zeigen, dass sie zu dieser Zeit eine überzeugte IS-Anhängerin ist. „Sie
       töten diejenigen, die getötet werden müssen. Sie ziehen es wenigstens
       durch“, schreibt sie einer Bekannten.
       
       ## Deradikalisierung ist ein langer Prozess
       
       Gut zweieinhalb Jahre sitzt Karolina R. in der Justizvollzugsanstalt
       Vechta, zeitweise gemeinsam mit ihrem Sohn. Dann kommt die Freilassung auf
       Bewährung, unter Auflagen: Karolina R. bekommt einen Bewährungshelfer und
       muss zu ihrem Deradikalisierungsberater Kontakt halten. Auslandsreisen
       müssen genehmigt werden. Die Bewährung ist auf vier Jahre festgesetzt – bis
       Mai 2020.
       
       Thomas Mücke kennt den Fall Karolina R. und viele andere. Mücke ist Chef
       des Violence Prevention Network. Der Deradikalisierungsverein betreut
       derzeit 300 Islamisten oder solche, die es einmal waren. 60 von ihnen
       sitzen in Haft. Für Mücke ist klar, dass die früheren IS-Anhänger für ihre
       Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen. „Aber sie brauchen auch
       die Chance auf einen Neuanfang. Irgendwann werden sie in Deutschland sein
       oder aus den Knästen rauskommen“, sagt er. „Eine Resozialisierung ist
       alternativlos.“
       
       Mücke ist optimistisch. Eine Deradikalisierung sei zwar ein langer Prozess.
       Erst nach Jahren könne man wirklich von einem Abschluss sprechen. Dann,
       wenn es keinerlei Kontakte mehr ins extremistische Milieu gebe und auch
       eine glaubhafte Distanz zur Ideologie erfolgt ist. „Bei denen, die in Haft
       waren, hatten wir noch keinen Rückfall.“
       
       Bei Kreshnik B. aus Hessen etwa ist es gut gelaufen. Mit 19 Jahren ging er
       zum IS, er kam zurück und wurde als erster deutscher IS-Ausgereister
       verurteilt, zu knapp vier Jahren. Auch er wurde vorzeitig aus der Haft
       entlassen – und führt heute ein bürgerliches Leben, wie sein Anwalt es
       nennt. Sein ehemaliger Berater vom Violence Prevention Network sagt: „Er
       hat sich von der Szene distanziert und ist aus seinen alten Gedankenmustern
       raus. Er hat einen geregelten Alltag und ist erfolgreich resozialisiert.“
       Kreshnik B., ein Vorzeigefall. Andere hielten der Terrortruppe in Syrien
       und dem Irak bis zum Schluss die Treue – oder kamen am Ende nicht mehr
       raus. So wie bis vor Kurzem Carla S.
       
       ## Carla S. habe sich distanziert
       
       Auch die Oberhausenerin wird christlich aufgezogen, macht ihr Abitur.
       Frühere Fotos zeigen eine lachende Frau mit dunklen Haaren. Später ist sie
       verschleiert zu sehen, mit ernsten blaugrauen Augen. Carla S. entdeckt die
       salafistische Szene für sich. Sie begeistert sich für den IS, gibt sich im
       Internet den Namen „Carla_ISIS“. Im Oktober 2015 verlässt sie ihren Mann,
       nimmt die drei gemeinsamen Kinder und folgt Bekannten nach Syrien. Ein Foto
       zeigt sie mit ihren Kindern in einem Haus, in der Ecke steht ein
       Maschinengewehr. Ihrer Mutter hinterlässt Carla S. einen Abschiedsbrief.
       „Ich fühle mich hier in Deutschland schon lange sehr unwohl und möchte
       nicht, dass meine Kinder hier groß werden.“
       
       Die Familie von Carla S. lehnt eine Anfrage der taz ab, sie redet momentan
       nicht mit Medien. Aber sie tat es früher. Den Abschiedsbrief etwa trug die
       Mutter bei Spiegel TV vor. Nach taz-Informationen beteuerte Carla S.
       inzwischen gegenüber deutschen Behörden, sie habe sich schon kurz nach der
       Ankunft beim IS von diesem distanziert. Mehrere Ausreiseversuche seien aber
       gescheitert.
       
       Was Carla S. in Syrien wirklich tat, versuchen die Behörden herauszufinden.
       Laut Ermittlungen war sie in Rakka, der Hochburg des Kalifats. Sie
       heiratete einen IS-Kämpfer, bekam ein viertes Kind. Im Dezember 2018 kommt
       ihr neunjähriger Sohn bei einem Bombenangriff ums Leben. Carla S. flieht in
       Richtung Türkei, wird aber kurz vor der Grenze festgenommen – und ins Lager
       bei Asas gebracht.
       
       Damals hatte sich Carla S. erstmals wieder an ihre Mutter gewandt. „Hallo
       Mama“, schrieb sie via WhatsApp. „Ich weiß, das ist jetzt alles viel auf
       einmal, was jetzt kommt.“ Carla S. berichtet vom Tod ihres Sohnes und dass
       sie Geld und Hilfe brauche. Ihre Mutter und ihr früherer Mann setzen alles
       in Gang, um Carla S. und die Kinder zurückzuholen, sie reisen bis in die
       Türkei. Auch Carla S. schreibt an das Auswärtige Amt. Zunächst vergebens.
       
       ## Die Rückreisen sollen „kontrolliert“ geschehen
       
       Anwalt Mahmut Erdem verhandelt für die Familie. Er tauscht sich mit
       türkischen Behörden aus. Und er spricht mit dem Auswärtigen Amt: Referat
       511, „Nothilfe für Deutsche im Ausland“. Über die Arbeit dort herrscht
       Stillschweigen. Es liefen Einzelfallprüfungen, heißt es nur. Diese aber
       gestalteten sich schwierig, weil es in Syrien keine konsularischen Kontakte
       gebe. „Am Anfang bewegte sich gar nichts“, sagt Erdem. Er hat dafür kein
       Verständnis. „Egal was diese Leute gemacht haben: Sie sind Deutsche.“ Die
       Verhältnisse in den Gefangenenlagern seien katastrophal, gerade für Kinder.
       „Der Staat kann seine Bürger nicht einfach in der Wüste lassen, sondern hat
       die Pflicht, sich um sie zu kümmern.“
       
       Hinter den Kulissen aber werden seit Monaten im Referat 511 die Fälle der
       inhaftierten IS-Leute geprüft. Auch wenn die Betroffenen Deutsche seien,
       hätten sie kein Recht auf Rückholung, heißt es aus der Bundesregierung. Nur
       die Einreise müsse Ihnen genehmigt werden. Die Linie lautet: Erst wenn die
       Identität geklärt und eine Strafverfolgung in Deutschland gesichert ist,
       kommt eine Rückholung infrage. In 21 Fällen ist dies bereits gelungen, hier
       liegen Haftbefehle vor. Die Rückreisen sollen „kontrolliert“ geschehen,
       Schritt für Schritt. Mit Carla S. ist nun der Auftakt gemacht.
       
       Für die deutsche Politik gibt es dabei nicht viel zu gewinnen. Im
       Gegenteil: Es ist es ein Risiko. Begeht einer der Zurückgeholten einen
       Anschlag, wäre der Aufschrei riesig. Die Sicherheitsbehörden sind
       zwiegespalten. Einerseits könnten die Rückkehrer als Kronzeugen auspacken.
       Andererseits: Kommen die Islamisten nicht in Haft, müssen sie in
       Deutschland aufwendig überwacht werden.
       
       Für Barbara Havliza ist es keine Frage, dass man die Ausgereisten
       zurückholen muss. „Bei denen, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben,
       haben wir gar keine andere Wahl, wenn die zurücksollen oder -wollen. Es ist
       auch ihr Land, weil sie deutsche Staatsbürger sind.“ Havliza hat sieben
       Jahre lang den Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht Düsseldorf geleitet,
       hat Prozesse gegen viele Islamisten und Dschihadisten geführt, hat die
       Sauerlandgruppe und die Düsseldorfer Al-Qaida-Zelle verurteilt. Inzwischen
       ist Havliza in die Politik gewechselt: Seit 2017 ist sie für die CDU
       Justizministerin in Hannover.
       
       ## Wie erkennt man, ob jemand gefährlich ist?
       
       Havliza sitzt in ihrem Büro im Justizministerium, über ihrem Schreibtisch
       hängt ein Gemälde: ein Wolf, der neben einer Frau frontal auf den
       Betrachter zuzugehen scheint. Wie erkennt man, ob jemand gefährlich ist,
       Frau Havliza? Oder ob er ehrlich bereut und sich distanziert? „Gesinnung
       herauszufinden, ist das Schwierigste, was es gibt“, sagt Havliza. „Man kann
       ja nicht in den Kopf hineingucken.“ Havliza überlegt, ganz ruhig sitzt sie
       da. „Man kann nur rückschließen von Äußerungen und Taten auf innere
       Haltungen.“ Als Richterin bekomme man dafür ein Gespür. Am Anfang seien es
       ganz einfache Dinge: „Ist der bereit, aufzustehen, wenn das Gericht den
       Saal betritt? Nimmt er seine Kopfbedeckung ab? Gibt der einer Frau
       mittlerweile die Hand?“
       
       Auch der konsequent schweigende Angeklagte zeige Reaktionen, aus denen man
       Schlüsse ziehen könne, sagt Havliza. „Wenn er in Haft einschlägige
       Literatur liest, Reden schwingt, dann weiß man, dass er sich nicht
       verändert hat. Ich erinnere mich an einige, die sehr freundlich aufgetreten
       sind und bei denen wir am Ende dachten: Die sind brandgefährlich. Und in
       anderen Fällen hat man nach einer gewissen Haftzeit, wenn sie
       Zwei-Drittel-Anträge stellen, ganz andere Menschen vor sich.“
       
       Zu diesen Fällen scheint Karolina R. gehört zu haben. Havliza hatte schon
       im Prozess den Eindruck, dass R. sich distanziert. Sie sei zwar eine
       überzeugte IS-Anhängerin gewesen und „von dem Gedanken begeistert, in einem
       brutal durchgreifenden Schariastaat zu leben“. Aber sie habe die ganze
       Dimension des Unrechts erst während des Prozesses begriffen – und auch, wie
       weit ihr Mann zu gehen bereit gewesen war. Sie erfuhr damals auch vom Tod
       ihres Bruders, der in Syrien ums Leben kam. „Und sie hat erkannt, dass sie
       möglicherweise den Kontakt zu ihrer Ursprungsfamilie und zu ihrem Kind
       verliert, wenn sie sich nicht wegbewegt“, erinnert sich Havliza. „Diese
       Erkenntnis hat sie wieder geerdet. Sie hoffe, dass Karolina R. ihren Weg
       machen wird, sagt die frühere Richterin. „Danach sah es aus.“
       
       Hört man sich heute in Karolina R.s Wohnort im Rheinland um, sind die
       Einschätzungen weniger optimistisch. Man vernimmt Zweifel daran, dass
       Karolina R. wirklich ausgestiegen ist. Sie kleide sich weiter im schwarzen
       Gewand, nur das Gesicht sei heute frei, heißt es. Nach ihrer Entlassung aus
       dem Gefängnis sei sie nach Mekka gepilgert, sie soll eine Auswanderung in
       die Golfstaaten erwägen. Das alles steht ihr frei und ist nicht strafbar,
       wird von Experten aber als Indiz gewertet, das gegen einen Ausstieg
       spricht. Zudem sei ihr neuer Partner polizeibekannt. Offizielle Äußerungen
       der Behörden gibt es nicht. Fragt man nach, heißt es stets: „Zu
       Einzelfällen können wir nichts sagen.“
       
       ## Keine Alternative zur Rückholung
       
       Bei Carla S. steht alles noch am Anfang. Ihre Rückholung aus Syrien
       klappte, weil das Auswärtige Amt mit türkischen Behörden verhandeln konnte
       und diese das Ansinnen unterstützten. Dass Carla S. in Deutschland
       verhaftet werde, sei ihr klar gewesen, sagt Anwalt Erdem. Im Ergebnis lobt
       er die Rückholaktion. „Das Ganze hat zu lange gedauert. Aber wichtig ist,
       dass Carla und ihre Kinder wieder in Deutschland sind.“ Nun müssten weitere
       Rückkehrwillige folgen.
       
       Aber auch im Fall Carla S. setzen die Behörden noch viele Fragezeichen.
       Allen voran die Bundesanwaltschaft, die wegen Terrorverdachts ermittelt.
       Mehr als drei Jahre lebte die 32-Jährige im IS-Gebiet, eine lange Zeit. Es
       gebe Anhaltspunkte dafür, dass die Oberhausenerin dort nicht nur am Herd
       stand, heißt es aus Sicherheitskreisen. Nachgegangen wird etwa dem
       Verdacht, dass Carla S. mit hochrangigen IS-Kadern in Richtung Türkei
       geflohen sei.
       
       Thomas Mücke, der Chef des Deradikalisierungsvereins VPN, sieht trotzdem
       keine Alternative dazu, die IS-Anhänger zurückzuholen. „Sie kommen aus
       dieser Gesellschaft, sie haben sich hier radikalisiert. Also hat diese
       Gesellschaft auch eine Verantwortung.“ Und Mücke verweist auf die eigene
       Arbeit: Gerade diese zeige, dass es möglich ist, diese Menschen wieder zu
       integrieren. Das Bundesinnenministerium konstatiert dagegen, dass bei den
       meisten Rückkehrern „von einer weiterhin bestehenden islamistischen
       Grundhaltung ausgegangen werden“ müsse.
       
       Bei Karolina R. hat der Staat noch ein Jahr Zeit, ihren Weg zurück in diese
       Gesellschaft zu begleiten. So lange, wie ihre Bewährung noch läuft. Dann
       muss er darauf vertrauen, dass die 28-Jährige der Terrorideologie
       tatsächlich abgeschworen hat – oder er muss sie erneut zum Fall für die
       Sicherheitsbehörden machen.
       
       ## Kindesentziehung in besonders schwerem Fall
       
       Carla S. dürfte vorerst in Haft bleiben. Die Generalstaatsanwaltschaft
       Düsseldorf wirft ihr Kindesentziehung in einem besonders schweren Fall vor,
       weil ihr Sohn in Syrien starb. Darauf steht eine Mindestfreiheitsstrafe von
       einem Jahr. Dazu kommt womöglich noch eine Anklage der Bundesanwaltschaft.
       
       Auch bei Carla S. wird am Ende eine Rolle spielen: Wie glaubhaft ist ihre
       Abkehr vom IS? Kann man ihr trauen? Auch in ihrem Fall wird eine
       Aussteigerhilfe ihr Unterstützung anbieten, sich aus der Dschihadszene zu
       lösen. Damit die 32-Jährige vielleicht irgendwann wieder ein unauffälliges
       Leben führen kann. Die Behörden werden das sehr genau im Auge behalten.
       
       15 Apr 2019
       
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 (DIR) Gericht verdonnert Bundesrepublik: IS-Frau muss zurückgeholt werden
       
       Ein Gericht verpflichtet die Bundesrepublik, eine deutsche IS-Anhängerin
       aus Syrien zurückholen. Der Beschluss hat Folgen auch für andere Fälle.
       
 (DIR) Ex-Frau von Denis Cuspert: IS-Witwe in Hamburg festgenommen
       
       Lange blieb Omaima A. unbehelligt. Nun aber wurde die Ex-Frau des deutschen
       IS-Propagandisten Denis Cuspert in der Hansestadt verhaftet.
       
 (DIR) Kriegsverbrechen in Syrien: IS-Rückkehrerin doch festgenommen
       
       Sibel H. soll Kriegsverbrechen verübt haben, indem sie Häuser von
       IS-Vertriebenen bewohnte. Auch anderen Rückkehrerinnen drohen Anklagen.
       
 (DIR) IS-Prozess in Hamburg: Grenzen der Gutgläubigkeit
       
       In Hamburg steht eine mutmaßliche IS-Unterstützerin vor Gericht. Die Frau
       will jedoch nur Zuflucht vor Islamhetze gesucht haben.
       
 (DIR) Video von IS-Terrorist Baghdadi: Und er lebt doch noch
       
       Das neue Video des IS-Chefs zeigt: Die Zerschlagung des Kalifats ist nur
       ein Etappensieg. Doch warum ließ Baghdadi so lange auf sich warten?
       
 (DIR) Mutmaßliche IS-Anhängerin vor Gericht: Ermittlungsführer belastet Angeklagte
       
       Im Prozess um ein verdurstetes jesidisches Mädchen schweigt die mutmaßliche
       IS-Rückkehrerin. Trotzdem werden weitere Details bekannt.
       
 (DIR) US-geführte Angriffe in Syrien: 1.600 tote Zivilisten in Al-Rakka
       
       Bei den Kämpfen um die frühere Hauptstadt des IS sollen durch das
       Eingreifen der US-geführten Koalition laut Amnesty viele Menschen getötet
       worden sein.
       
 (DIR) Prozess gegen IS-Anhängerin in München: „Sittenpolizistin“ vor Gericht
       
       Am Dienstag beginnt das Verfahren gegen eine mutmaßliche IS-Rückkehrerin –
       das erste in Deutschland. Jennifer W. ließ offenbar eine Fünfjährige
       verdursten.
       
 (DIR) IS-Ehemalige Carla S.: Zurück aus dem Kalifat
       
       Lange wurde über Rückholungen deutscher IS-Anhänger in Syrien debattiert,
       nun erfolgte die erste: Carla S. aus Oberhausen.
       
 (DIR) Jahresbericht „Islamismus im Netz“: Subtile Botschaften
       
       Islamistische Propaganda wird weiter stark über Soziale Medien verbreitet.
       Familienministerin Franziska Giffey kündigt ein neues Jugendschutzgesetz
       an.