# taz.de -- Jugendtheaterfestival in Berlin: Ein Asyl für die Puppen
       
       > Wie lernt man Mitbestimmung? Wie übt man Empathie? Das Festival
       > „Augenblick mal!“ für Jugendtheater verhandelt in Berlin ernste Themen.
       
 (IMG) Bild: Ohne Namen, ohne Geschichte werden die Puppen ins Bodenlose gestürzt in „Besuchszeit vorbei“
       
       BERLIN taz | Puppen ohne Namen, ohne Geschichte werden brutal fallen
       gelassen von ihren PuppenspielerInnen in dem Theaterstück „Besuchszeit ist
       vorbei!“. Immer wieder neue Puppen bahnen sich, geführt von ihren
       gesichtslosen Animateuren, den Weg durch die im Raum stehenden
       ZuschauerInnen. Sie kämpfen sich bis zu zwei Plattformen vor, erklimmen
       sie, um dann plötzlich vornüberzukippen und hart auf dem Boden aufzukommen.
       Immer mehr Puppen mit verrenkten Gliedmaßen liegen verstreut da, bis sie
       von den SpielerInnen achtlos zu einem Haufen aufgetürmt werden.
       
       Plötzlich bekommt eine der Puppen wieder eine Stimme und schreit:
       „Besuchszeit ist vorbei!“, und fordert so alle auf, die Halle Ostkreuz zu
       verlassen. Viele Menschen aber bleiben.
       
       Inzwischen ist eine Puppe in einem Pulk von ZuschauerInnen versteckt
       worden, eine zweite fand wenig später sogar offenes Asyl im Schoß einer
       Zuschauerin, und dann wurde eine Plattform sprichwörtlich besetzt, sodass
       sie von den SpielerInnen nicht mehr benutzt werden konnte.
       
       Nach der Vorstellung nehmen die ZuschauerInnen die Puppen zärtlich in ihre
       Hände und geben ihnen einen würdevollen Platz im Raum. Das Stück
       „Besuchszeit ist vorbei“ wurde von dem israelischen Regisseur Ariel Doron
       am theater junge generation Dresden entwickelt und wird für ein Publikum ab
       16 Jahren empfohlen. Dorons Inszenierung fordert zu kollektivem
       empathischem Handeln von unten auf.
       
       Fünf KuratorInnen haben die Dresdener Versuchsanordnung zu dem Festival
       „Augenblick mal!“ eingeladen, das am Sonntag, 12. Mai, zu Ende geht.
       Jeweils fünf Kinder- und fünf Jugendtheater-Inszenierungen wurden im
       Theater an der Parkaue, in den Sophiensælen, im Grips Podewil und in der
       Halle Ostkreuz gezeigt. Dieses „Festival des Theaters für junges Publikum“,
       das alle zwei Jahre in Berlin stattfindet, spiegelt zuverlässig den Stand
       des aktuellen deutschsprachigen und internationalen Theaters für eine
       besonders wichtige Zielgruppe wider.
       
       Auffällig ist bei fast allen Inszenierungen in diesem Jahr die explizite,
       oft direkte Bezugnahme auf gesellschaftliche Prozesse. „Waisen“ vom Jungen
       Theater Bremen/Moks ist ein bedrückendes Kammerspiel. Zwischen drei
       SchauspielerInnen auf einer schrägen Bühnenplattform geht es um
       unterlassene Hilfeleistung, mangelnde Solidarität mit „Fremden“ und
       versteckten bzw. offenen Rassismus.
       
       ## Zweifel an der Rolle
       
       Stark wird die Inszenierung in dem Moment, als ein Schauspieler aussteigt
       und ein „Bühnentechniker“ einsteigt. Er ist Syrier und Muslim. Er fordert
       die Figur auf, ihn direkt mit den Vorwürfen zu konfrontieren, bleibt dann
       auf der Bühne und übersetzt den verbleibenden Stücktext simultan ins
       Arabische. Erst jetzt entstehen mehrere Ebenen: Über etwas reden wird
       ergänzt durch mit jemandem reden, zum Standpunkt der Figuren kommt der der
       DarstellerInnen.
       
       „Jetzt bestimme ich“ von „Meine Damen und Herren/Barner 16“ in Kooperation
       mit Kampnagel Hamburg ist geeignet für Menschen ab 6, sollte aber auch von
       vielen Erwachsenen gesehen werden! Denn selten sind kollektive
       Entscheidungsfindungsprozesse mit so viel Humor und gleichzeitig so
       ernsthaft dargestellt worden.
       
       Familie Wiefel, verkörpert durch fünf professionelle SchauspielerInnen mit
       geistiger Einschränkung, bemüht sich um einen Weg, jedes Familienmitglied
       gerecht mitbestimmen zu lassen. Inmitten von gehäkelten Requisiten probiert
       man sich am Mitbestimmungskarussell. Sie gehen über zur Machtaufteilung in
       Territorien: Wer in der Küche ist, kann jetzt den Kühlschrank leer futtern,
       hat aber keinen Zugang mehr zum Schlafzimmer …
       
       ## Die Schildkröte Rainer Maria
       
       Irgendwann möchten die Eltern jedem seinen Wunsch erfüllen. So ist Familie
       Wiefel an einem Tag nicht nur im Zoo, sondern auch im Park, auf dem
       Flomarkt usw. Die DarstellerInnen rasen immer schneller über die Bühne und
       ziehen hektisch Schildkröte Rainer Maria hinter sich her. Rainer Maria
       interviewt schließlich die Familienmitglieder beim Wahlkampf. Denn am Ende
       der einstündigen Suche nach einem demokratischen Modus Vivendi geht es
       darum, wer nächste Woche über alle bestimmen darf – und darüber
       entscheidet das Publikum. Die Mehrheit wählt Papa, denn er hat versprochen,
       für alle zu kochen.
       
       „Augenblick mal!“ ist ein internationales Festival. Das Teatr Zaglebia aus
       dem polnischen Sosnowiec zeigt „Feind – eine Gebrauchsanleitung“. Die KAVA
       Theatre in Education Company aus Budapest bringt „Peer Gynt“ nach Berlin.
       Das Stary Dom Theater aus Nowosibirsk entdeckt in „Hamlet“ Parallelen zur
       heutigen russischen Gesellschaft, ergänzt den Ursprungstext und
       thematisiert besonders Hamlets Fremdbestimmung.
       
       10 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katja Kollmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Empathie
 (DIR) Kinder- und Jugendtheater
 (DIR) Kinder- und Jugendtheater
 (DIR) Junges Theater
 (DIR) Experiment
 (DIR) Theater an der Parkaue
 (DIR) Grips Theater
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Bertolt Brecht
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) „Alice im Wunderland“ im Theater Bremen: Alice sehr verwirrend
       
       Zerrissene, fragwürdige, uneindeutige und genderfluide Figuren: Bremens
       Junge Akteur:innen zeigen Roland Schimmelpfennigs „Alice im Wunderland“.
       
 (DIR) „Wunderzeiten“ am Schnürschuhtheater: Gott allein ist auch keine Lösung
       
       Fürs Schnürschuhtheater in Bremen inszeniert Pascal Makowa „Wunderzeiten“.
       Spielfreude und Regie retten ein sonst eher lahmes Jugendtheaterstück.
       
 (DIR) „Die Welle“ als Jungendtheaterstück: Schullektüre auf der Bühne
       
       Mit Slapstick, aber auch mit deutlich erkennbarem pädagogischen Auftrag hat
       das Grips Theater in Berlin „#diewelle2020“ inszeniert.
       
 (DIR) Rassismus am Parkaue-Theater: Zu zögerlich, zu unentschlossen
       
       Nach Rassismusvorwürfen gegen seinen Schauspieldirektor übt sich das
       staatliche Parkaue-Theater in Selbstkritik.
       
 (DIR) Theaterjubiläum: Geeignet für Kinder unter 16 Jahren
       
       Antiautoritär, kritisch, emanzipatorisch: Das legendäre Berliner
       Kindertheater „Grips“ wird 50
       
 (DIR) Postmigrantisches Festival in Hamburg: Klappe auf, Affe tot
       
       Zum Auftakt des „Krass“-Festivals verknüpft Branko Šimić Kafkas Erzählung
       „Ein Bericht an eine Akademie“ mit aktuellen Migrationserfahrungen.
       
 (DIR) Brechtfestival Augsburg: Anarchie in Bayern
       
       Wer Brecht nicht verändert, tut ihm Unrecht. Das Brechtfestival Augsburg
       suchte nach dem Gebrauchswert des Dramatikers.
       
 (DIR) Jugendthater mit Schwächen: Katastrophale Rettung
       
       Gnadenlos: Das Bremer Moks deckt die Schwächen von Dennis Kellys
       Erfolgsstück „Waisen“ auf.