# taz.de -- Die Wahrheit: Den Rattengeist um Vergebung bitten
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (76): Wie Versuchstiere
       > ihre Forscher verändern und der brutalen Wissenschaft entfremden.
       
 (IMG) Bild: Hallo Kaninchengott, bitte vergib auch du!
       
       Eine Parole an der Freien Universität Berlin hieß früher: „Schluss mit den
       Quälereien im Mäusebunker!“ Gemeint war das Tierversuchslaboratorium. Nach
       dem Mauerfall übernahm die Ostberliner Charité den Steglitzer Mäusebunker
       und leerte ihn langsam, da sie in Berlin-Buch einen schöneren und größeren
       errichtet hatte. Bis zum Jahr 2020 werden im alten nur noch einige
       Kleintiere gehalten, einst gab es dort auch Pferde und Schweine.
       
       Damals demonstrierten immer mal wieder junge Tierschützer vor dem Gebäude.
       Heute fordern sie auf Bussen der Berliner Verkehrsbetriebe BVG
       „Tierversuchsfrei forschen“ – und zwar am Computer, das sei billiger und
       besser. Aber ob an Lebewesen oder an Rechnern, es bleibt das Problem, „dass
       keine experimentell gewonnene Erkenntnis ohne ausdrückliche Vorbehalte
       verallgemeinert werden kann“, wie der Philosoph Georges Canguilhem in „Das
       Experimentieren in der Tierbiologie“ schreibt.
       
       Egal ist dabei, ob es sich um die Erforschung der bedingten Reflexe beim
       Hund, des Gleichgewichtssinns bei der Taube, der Regeneration beim Polypen,
       des mütterlichen Verhaltens bei der Ratte, der Befruchtung beim Seeigel,
       der Muskelreflexe beim Frosch, der Vererbung bei der Fruchtfliege oder des
       Blutkreislaufs beim Pferd handelt. Der wohl größte aller Tiertöter für den
       Fortschritt, der Mediziner Claude Bernard, stellte fest, „dass nicht nur
       kein Tier einem anderen derselben Art absolut vergleichbar ist, sondern
       dass ein und dasselbe Tier je nach dem Zeitpunkt, zu dem man es untersucht,
       auch mit sich selbst nicht vergleichbar ist.“
       
       ## „Schaffst du das auch?“
       
       Die angehende Biologin Tanja Kukotski, Tochter eines berühmten Mediziners,
       begann einmal ihr erstes Praktikum in einem Moskauer Gehirnforschungslabor.
       Eine Assistentin leitete sie an: „Meine kleinen Ratten“, gurrte die
       Assistentin, nahm mit zwei Fingern ein Rattenbaby, streichelte das schmale
       Rückgrat und trennte mit einer Schere sauber und präzise den Kopf ab. Den
       Körper, der leicht zusammengezuckt war, warf sie in eine Schale, das
       Köpfchen legte sie liebevoll auf den Objektträger. Danach sah sie Tanja
       prüfend an und fragte mit einem sonderbaren Anflug von Stolz: „Na, schaffst
       du das auch?“ – „Ja“, sagte Tanja.
       
       Aber nach zwei Jahren bat sie ihren Vater um ein Gespräch. Es gehe um
       „Professionalität“. Der Vater führte gleich mal ins Feld, dass es um „eine
       Hierarchie der Werte“ ginge und da stehe das Menschenleben eben „ganz an
       der Spitze“. Er verstehe sie nicht, klagte seine Tochter, sie steche am
       laufenden Band Ratten ab, und auf dem Weg zu irgendeiner „Erkenntnis“ sei
       es nun so, „dass ich den Unterschied zwischen einem Ratten- und einem
       Menschenleben nicht mehr sehe. Ich will nicht länger ein gutes Mädchen
       sein, das Ratten absticht.“ Ihr Vater sah sie ratlos an. „Ich will ein
       schlechtes Mädchen sein, das niemanden absticht“ – ein ungehorsames. Diesen
       Dialog entnahm ich sinngemäß dem Roman der Genetikerin Ljudmila Ulitzkaja
       „Reise in den siebenten Himmel“, die folgende „Story“ der Autobiografie des
       US-Psychologen Ralph Metzner.
       
       ## Traumatisch und mit Folgen
       
       Der schreibt über seine wissenschaftlichen Anfänge an der
       Harvard-Universität bei Boston: „Am Ende des ersten Jahres sollten wir auch
       eine experimentelle Studie anfertigen, und ich machte ein
       Labyrinth-Lernexperiment mit Ratten, das sich als traumatisch für mich
       erwies. Ich baute dieses Labyrinth mit den Ratten im Keller eines der
       Harvard-Gebäude auf. Ich machte das während der Weihnachtsferien, als alle
       die Universität verlassen hatten. Das Experiment bewies genau das, was es
       beweisen sollte, und ich schrieb einen Aufsatz für das Seminar darüber.
       
       Aber am Ende des Experiments hatte ich diese Ratten und wusste nicht, was
       ich jetzt mit ihnen anfangen sollte. Ich musste den Raum aufräumen und die
       Ratten loswerden.
       
       Ich weiß noch, dass ich verschiedene Professoren aufsuchte und sie fragte,
       was ich mit den Ratten machen sollte. Ich bekam lauter ziemlich gruselige
       Antworten: ‚Pack sie am Schwanz und schlag sie auf eine Tischkante oder
       erschlage sie mit einem Hammer.‘ Ich war entsetzt. Ich hatte keine Ahnung,
       dass man von mir erwarten würde, die Ratten umzubringen. Sie nannten es,
       die Tiere ‚opfern‘. Ich rief sogar professionelle Kammerjäger zur Hilfe.
       Als ich ihnen erzählte, die Ratten, die getötet werden sollten, befänden
       sich in Käfigen, weigerten sie sich, sich darum zu kümmern. So etwas machen
       wir nicht, sagten sie. Schließlich riet mir ein älterer Doktorand: ‚Du
       musst dir Chloroform besorgen und es mit den Ratten in große zylindrisch
       Pappröhren tun – du musst sie vergasen.‘
       
       Ich musste es tun. Also gab ich Chloroform in den Behälter mit 20 oder 30
       Ratten. Sie zappelten darin eine Weile herum und waren dann still. Als ich
       aufstand, stieß ich mit dem Kopf gegen eine Stahlstrebe und schlug mich
       selbst k. o. Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos war.
       
       Einige Jahre später bat ich den Großen Rattengeist für dieses Vergehen um
       Vergebung. Zu jener Zeit wusste ich nur, dass ich nie wieder irgendein
       Experiment mit Tieren machen würde.“
       
       ## Auf Kosten der Meerechsen
       
       Ähnlich ging es der DDR-Biologin Carmen Rohrbach. Sie arbeitete damals vom
       Westen freigekauft als Verhaltensforscherin am Max-Planck-Institut für
       Verhaltensphysiologie im oberbayerischen Seewiesen. Im Auftrag des
       Instituts erforschte Rohrbach ein Jahr lang das Verhalten der Meerechsen
       auf einer der Galapagosinseln.
       
       Bei der Abreise war sie sich sicher: „In meinem Beruf als Biologin werde
       ich nicht weiterarbeiten. Zu deutlich ist mir meine fragwürdige Rolle
       geworden, die ich als Wissenschaftlerin gespielt habe.“ Sie erlebte zwar
       ein wunderbares Forschungsjahr auf „ihrer“ kleinen unbewohnten Insel, „doch
       ich habe es auf Kosten der Meerechsen getan, gerade dieser Tiere, die die
       Friedfertigkeit und das zeitlos paradiesische Leben am vollkommensten
       verkörpern.
       
       Ausgerechnet diese Tiere musste ich mit meinen Fang- und Messaktionen
       verstören und belästigen. Da ich nun einmal diese vielen Daten gesammelt
       habe, werde ich sie auch auswerten und zu einer Arbeit zusammenstellen.
       Diese Arbeit wird zugleich der Abschluss meiner Tätigkeit als Biologin
       sein, denn ich kann nicht länger etwas tun, dessen Sinn und Nutzen ich
       nicht sehe. Und erst recht könnte ich es nicht mehr verantworten, Tiere in
       Gefangenschaft zu halten und womöglich sogar mit ihnen zu experimentieren …
       Ich werde nach Deutschland zurückkehren und versuchen, eine Aufgabe zu
       finden, die mir sinnvoll erscheint.“
       
       Carmen Rohrbach ist heute Reiseschriftstellerin.
       
       20 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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