# taz.de -- Essayband von Jonathan Franzen: Jetzt leg' doch mal das Handy weg
       
       > Jonathan Franzen artikuliert in seinen Essays ein Unwohlsein über die
       > Welt. Seine Kritik an den sozialen Medien hat auch etwas Loriothaftes.
       
 (IMG) Bild: Wirkt zuweilen wie die perfekte Verkörperung der Figur des „alten weißen Mannes“: Jonathan Franzen
       
       Zuweilen gewinnt man den Eindruck, dass Jonathan Franzen obsessiv daran
       arbeitet, die Bewunderung, die er sich [1][durch seine Romane erschrieben]
       hat, mit öffentlichen Äußerungen zu zerstören. Erste Anzeichen für diese
       Tendenz zur Selbstsabotage zeigten sich bereits 2001 in der Fehde mit Oprah
       Winfrey, die Franzens Roman „Die Korrekturen“ für ihren Buchclub ausgewählt
       hatte – eine großzügige Geste, die der Autor mit der peinlichen Berührtheit
       des männlichen Genies quittierte, das sich nicht vom Massenpublikum
       vereinnahmen lassen wollte.
       
       Seitdem vergeht kaum ein Jahr, in dem Franzen sich nicht durch ungeschickte
       oder irritierende Äußerungen zur Zielscheibe von Hohn und Spott macht. Es
       scheint fast, als würde er sich durch seinen ausgestellten Mangel an
       politischem Feingefühl oder seine onkelige Kritik an den sozialen Medien
       darum bewerben, die perfekte Verkörperung der Figur des „alten weißen
       Mannes“ zu sein.
       
       Auch in seiner neuen Essaysammlung „Das Ende vom Ende der Welt“, in der es
       um [2][Franzens Lieblingsthemen – Vögel, Literatur und das Internet] –
       geht, springt die Persona des leicht genervten älteren Herrn, der die
       heutige Jugend einfach nicht versteht, die Leser*in gleich auf der ersten
       Seite an.
       
       Beklagt wird der Verfall einer diskursiven Ordnung, in der auch das
       „winzigste subjektive Mikronarrativ“ über die sozialen Medien in die
       Öffentlichkeit gepustet wird. „Phantasie und Erfindung“ dagegen würden von
       einem Zeitgeist, der überall nur kulturelle Aneignung ausmacht, als
       überholte Vehikel verabschiedet.
       
       ## Likability und Sympathie
       
       Franzen vermeint zudem ein infantiles Bedürfnis nach sympathischen Figuren
       auszumachen: „Früher spielte es keine Rolle, ob einem Raskolnikoff und Lily
       Bart sympathisch waren, jetzt jedoch ist die Frage nach der ‚Sympathie‘,
       und damit die persönliche Ansicht des Rezensenten, ein Schlüsselelement der
       Kritik.“
       
       Den Kampf gegen „Sympathie“ (im Englischen likability) teilt Franzen mit
       seinem Kollegen Bret Easton Ellis, der die Schlacht gegen die angeblich
       regressiven Millennials als Betätigungsfeld eines zweiten Frühlings der
       Polemik für sich entdeckt hat. Während Ellis dies aber auf infantile Art zu
       genießen scheint, zeigt sich bei Franzen ein genuines, fast schmerzhaftes
       Unwohlsein am Zustand der Welt und seiner eigenen Rolle in dieser Welt.
       
       Dieses Unwohlsein ist literarisch produktiv, solange es in den Romanen
       bleibt, als peinliche, oft übersteigerte Form der Eitelkeit, unter der
       Franzens Figuren fast alle leiden. Die verzehrende Wut etwa, die den
       Umweltschützer Walter Berglund in „Freiheit“ plagt, ist bewegend und
       lächerlich zugleich, weil sie seine zutiefst privaten Probleme auf
       apokalyptische Ängste projiziert.
       
       Produktiv ist dieses Unwohlsein auch auf der Ebene des Erzählens: Teil des
       Vergnügens, Franzens Romane zu lesen, ist seine Unzufriedenheit darüber,
       dass sein Schreiben Vergnügen bereitet. Die nervöse Energie seiner Bücher
       ist der großen (oft vergeblichen) Mühe zu verdanken, die sich der Autor
       macht, um dieses Vergnügen zu verderben, indem er die likability der
       Figuren mit allen Mitteln herunterfährt.
       
       ## Die Identifikation fällt schwer
       
       Was die Romane zu modernen Klassikern des Unwohlseins macht, funktioniert
       allerdings in den Essays nur bedingt. Im Essay ist der Autor selbst
       Erzähler und Protagonist. Es gibt nicht die Möglichkeit starker ironischer
       oder emotionaler Distanz, die man als Leser*in zu den Figuren eines Romans
       empfindet. Einem solchen Erzähler und Protagonisten möchte man über
       Hunderte von Seiten eigentlich nur dann folgen, wenn man sich mit ihm in
       irgendeiner Form identifizieren kann.
       
       Und das fällt bei Franzen ausgesprochen schwer. Er ist kein natürlicher
       Essayist, so wie seine Kolleg*innen Zadie Smith, Martin Amis oder David
       Foster Wallace, deren Erzählerfiguren magnetisch genug sind, dass man gerne
       dabei zuschaut, wie sie Dinge erleben und darüber berichten.
       
       Ein Beispiel: In einer Besprechung des internetkritischen Buches
       „Reclaiming Conversation“ von Sherry Turkle heißt es etwa, der „bewegendste
       und bezeichnendste Abschnitt des Buchs“ beträfe den „Niedergang des
       Gesprächs in der Familie“. Das Gespräch am Familienesstisch, vor dem
       Smartphone offenbar in voller Blüte, ist jetzt, in Zeiten der sozialen
       Medien, anscheinend dem Untergang geweiht.
       
       Es ist doch verwunderlich, wie ausgerechnet der Analytiker familiärer
       Gewalt, der in seinen Romanen zeigt, wie sich Menschen in der erzwungenen
       Nähe der bürgerlichen Kleinfamilie ineinander verbeißen, oder welche
       Einsamkeit sich in der routinierten Zweisamkeit einer Ehe entwickeln kann,
       im Essay plötzlich zum konservativen Autor einer postmodernen Gartenlaube
       wird, der über die Erosion des Gesprächs am Familientisch lamentiert. Seine
       Sätze klingen oft wie etwas, was eine seiner Romanfiguren sagen könnte:
       „Jetzt leg doch mal das Handy weg …“
       
       ## Überschuss an erzählerischem Talent
       
       Immer wieder überschreiten diese Einlassungen die Grenze zur Selbstparodie.
       Etwa, wenn Franzen in einem seiner zahlreichen Texte über Vögel diese
       bedenkliche Mahnung ausspricht: „In einer zunehmend künstlichen Welt, in
       der federlose Drohnen durch die Luft schwirren und auf unseren Telefonen
       Angry Birds simuliert werden können, sehen wir vielleicht keinen
       vernünftigen Grund, die einstigen Herrscher des Naturreichs wertzuschätzen
       und zu unterstützen.“ Das erinnert nun doch verdächtig an die lorioteske
       Figur eines Vaters, der abends am Esstisch als amateurhafter Kulturkritiker
       in Erscheinung tritt.
       
       Dass sich die Essays trotzdem oft angenehm lesen, ist dem hier investierten
       Überschuss an erzählerischem Talent zu verdanken. Der Stil ist literarisch
       zurückgenommen, aber kontrolliert; virtuos vor allem dort, wo Szenerien und
       Situationen evoziert werden. Franzen ist am besten, wenn er über konkrete
       Menschen oder über Literatur schreibt.
       
       Die Passagen aus dem Titelessay „Das Ende vom Ende der Welt“, in denen es
       um seinen verstorbenen Onkel und dessen Leben geht, sind dicht und spannend
       geschrieben. Und die Essays über William T. Vollmann und Edith Wharton sind
       subtile Auseinandersetzungen eines Meisters der Erzählung mit den Werken
       anderer Autor*innen.
       
       Der Genuss an den Texten wird aber immer wieder getrübt, weil Franzen der
       rätselhaften Tendenz zahlreicher Großschriftsteller folgt, über alles zu
       schreiben, nur nicht über Menschen und Literatur. So verbindet er die von
       häuslichen Katastrophen und kleinen Triumphen geprägte Lebensgeschichte
       seines Onkels mit einer Reise in die Antarktis, bei der er vor allem seiner
       größten Leidenschaft, dem Birdwatching und dem damit verbundenen
       Händeringen über die Zerstörung der Natur, frönt. Das Sendungsbewusstsein
       des Essayisten unterbricht den dynamischen Fluss der Erzählung.
       
       ## Ehrenhaft, aber langweilig
       
       Der Romancier wird vom Birdwatcher immer wieder eingeholt. Am Ende ist der
       Höhepunkt des Essays nicht die zerstörte Hoffnung des Onkels auf eine späte
       Liebe zur Mutter des Autors, sondern die Sichtung eines Kaiserpinguins. Der
       Reisebericht selbst liest sich weniger wie die niederschmetternde
       Höllenfahrt, die David Foster Wallace aus seinen Erlebnissen auf einem
       Kreuzfahrtschiff gemacht hat, und mehr wie die schlecht gelaunte Rezension
       eines selbsternannten „Problempassagiers“ auf Tripadvisor.
       
       Franzen nutzt seine Popularität, um auf die Gefahren aufmerksam zu machen,
       die den Vögeln heute drohen. Das ist ehrenhaft. Allerdings nutzt er diese
       Popularität auch dazu, die Leser*innen etwas zu langweilen. Ein Großteil
       der Texte beschäftigt sich mit diesem Thema, allerdings oftmals in der
       Sprechhaltung des pedantischen Hobbyisten.
       
       Selten gelingt es, anhand der geschilderten Birdwatching-Trips universale
       Themen zu entwickeln wie etwa, wenn in einem Essay über die Jagd auf
       Zugvögel in Albanien Fragen von Männlichkeit und sozialer Klasse verhandelt
       werden.
       
       In einem Essay über den Klimaschutz, „Rette, was du liebst“, schließlich
       gelingt Franzen das fast Unmögliche, nämlich sein durch und durch
       ehrenhaftes Hobby dafür zu nutzen, um viele Menschen gegen sich
       aufzubringen. Angesichts eines eigentlich schon verlorenen Kampfes gegen
       die Erderwärmung stellt Franzen die Frage, ob der Klimaschutz als alles
       bestimmendes Ziel nicht dazu geführt hat, kleinere akute Probleme, wie den
       Schutz von Vögeln, vergessen zu machen.
       
       Der Text führte zu einem Sturm von Kritik. In diesem Fall bekommt Franzens
       Kampf gegen likability fast etwas Heroisches, weil sein dringendes
       Bedürfnis, nicht zu gefallen, interessante und provokative Fragen
       ermöglicht. Hier übersteigt die negative Energie des Autors den Bereich
       altväterlicher Kulturkritik und wird auf eine Art produktiv, wie man sie
       aus den Romanen kennt.
       
       5 Jun 2019
       
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