# taz.de -- Junge SPDler stellen die Systemfrage: Der neue reflektierte Kapitalismus
       
       > Wirtschaftliche Ungleichheit hat stark zugenommen. Da ist es kein Wunder,
       > dass die Jusos linke Vorschläge machen. Die SPD sollte ihnen zuhören.
       
 (IMG) Bild: Bringt seine Partei gern auf neue Ideen: Juso-Chef Kevin Kühnert
       
       Als der Juso-Vorsitzende [1][Kevin Kühnert vor einigen Wochen eine
       Kollektivierung von BMW vorschlug], brach ein Sturm der Entrüstung über ihn
       herein. Johannes Kahrs, Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises,
       fragte auf Twitter, was Kühnert geraucht habe. Andere sprachen ihm, vor
       allem wegen seines Alters, jegliche Wirtschaftskompetenz ab. Nach Jahren
       des Neoliberalismus scheint es vielen schwerzufallen, sich eine neue Form
       des Wirtschaftens vorzustellen. Doch die mangelnde Vorstellungskraft
       einiger sollte uns nicht davon abhalten, diese Debatte mit Vehemenz zu
       führen. Wie hältst du es mit der Wirtschaft? Diese Frage ist gerade in
       Zeiten des globalisierten Kapitalismus zentral für die Zukunft der SPD.
       Gerade für uns Jüngere.
       
       Nun gehört es zur Jobbeschreibung eines deutschen Juso-Vorsitzenden, linke
       Vorschläge zu machen. Doch auch im Mutterland des Kapitalismus, den USA,
       sorgt derzeit die junge Abgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez mit
       sozialistischen Thesen für Furore. Bei der britischen Labour Party punktete
       derweil Jeremy Corbyn mit seiner kapitalismuskritischen Politik gerade bei
       Jüngeren.
       
       Die Begeisterung für eine andere Wirtschaftspolitik hat handfeste Gründe:
       In den letzten Jahrzehnten ist die Schere zwischen Arm und Reich immer
       weiter auseinandergegangen. Die „Chancengerechtigkeit“ ist in Deutschland
       dramatisch zurückgegangen. Wir haben eine Wirtschaft geschaffen, die eine
       extreme globale Ungleichheit zur Folge hat. Unsere derzeitige
       Wirtschaftsform ist dabei, unsere Lebensgrundlage zu zerstören. Doch nicht
       nur die Wirtschaft ist gespalten, sondern auch unsere Demokratie. Die
       unteren Einkommen beteiligen sich immer weniger bei Wahlen und innerhalb
       von Parteien. Langfristig lässt sich eine Gesellschaft so nicht
       zusammenhalten. Wann, wenn nicht jetzt, sollen wir in der SPD diese Debatte
       führen?
       
       Die jungen Menschen spüren als Erste, dass die Größe der gesellschaftlichen
       Fragen und die Größe der Antworten der Sozialdemokratie immer weiter
       auseinandergehen. Während wir parteiintern Spiegelstrichdebatten führen,
       verändert sich die Gesellschaft da draußen grundlegend. Es wird daher Zeit,
       dass die SPD [2][endlich wieder die großen gesellschaftlichen Fragen, die
       Systemfrage, stellt].
       
       ## Klare Agenda für die Sozialdemokratie
       
       Es wird Zeit für einen neuen reflektierten Kapitalismus. Dieser bricht klar
       mit dem Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte. Er ist eine Rückbesinnung
       auf das Godesberger Programm, das im Jahr 1959 die SPD als Volkspartei
       etablierte. Der österreichische Ökonom Nikolaus Kowall arbeitet aus dem
       Godesberger Programm vier Richtlinien heraus. Erstens: Privateigentum ist
       erlaubt, aber eine Vermögenskonzentration gilt es zu verhindern. Zweitens
       muss Privateigentum durch öffentliche Beteiligung und Mitbestimmung
       eingehegt werden. Drittens soll die Wirtschaft ein Hybrid aus privater und
       öffentlicher Wirtschaft sein. Viertens bekennt sich die Sozialdemokratie
       zur Marktwirtschaft – aber nur mit dem Primat der Politik.
       
       Gleicht man nun diese vier zentralen Vorgaben ab mit der
       sozialdemokratische Politik des zurückliegenden Jahrzehnts, dann erkennt
       man schnell, wie weit sich die SPD vom Godesberger Programm entfernt hat.
       Nehmen wir das Beispiel der digitalen Wirtschaft. In keinem anderen Bereich
       lässt sich das Ausbleiben staatlicher Regulierung mit einer solchen
       Vehemenz beobachten. Wir erleben derzeit, wie die großen amerikanischen
       Datenkonzerne einen unglaublichen Reichtum, den Zugang zur Presse, die
       Gestaltung der Debattenräume und eine erschreckende Erkenntnis über unsere
       Leben auf sich vereinen. Mit sozialer Marktwirtschaft hat das nur noch
       wenig zu tun.
       
       Legt man die vier Prinzipien des neuen reflektierten Kapitalismus zugrunde,
       ergibt sich daraus eine klare wirtschaftspolitische Agenda für die
       Sozialdemokratie. Laut Godesberger Programm gilt es eine
       Vermögensakkumulation zu verhindern. Deshalb wird es Zeit, Facebook und
       andere Datenkonzerne zu zerschlagen. Der monetäre sowie der Datenreichtum
       der großen amerikanischen Konzerne sind mit einem reflektierten
       Kapitalismus nicht zu vereinbaren. Darüber hinaus gilt es auch bei den
       Eigentumsformen der digitalen Wirtschaft anzusetzen. Der erfolgreiche
       Webbrowser Mozilla oder die Online-Enzyklopädie Wikipedia werden von
       Stiftungen getragen. Es ist also durchaus möglich, erfolgreiche
       Onlinedienste gemeinnützig zu gestalten.
       
       ## Schrille und extreme Meinungen
       
       Um eine Mischung aus Staats- und privaten Unternehmen im digitalen Raum zu
       schaffen, müsste man öffentlich-rechtliche Alternativen zu den rein
       privatwirtschaftlich organisierten sozialen Netzwerken anbieten, ein
       öffentlich-rechtliches soziales Netzwerk. Eines, bei dem die
       gesellschaftlichen vor den Kapitalinteressen stehen. Ein soziales Netzwerk,
       das den Interessen unserer Demokratie dient und ihnen nicht diametral
       gegenübersteht. Außerdem gilt es, im Digitalen das Primat der Politik
       wiederzuerlangen.
       
       Wie kein anderes Unternehmen hält uns Facebook vor Augen, was
       Techunternehmen ohne entsprechende Regulierung anrichten können. Die
       algorithmische Sortierung von Inhalten bei Facebook, die vor allem auf
       Interaktion basiert, ist eine Aufforderung zum Extremismus. Schrille und
       extreme Meinungen, die viel Widerspruch und Zustimmung erhalten, werden mit
       Aufmerksamkeit belohnt. Die Architektur des sozialen Netzwerks drängt den
       politischen Rand in die Mitte der Debatte. Ein reflektierter Kapitalismus
       hätte hier längst regulatorisch eingegriffen.
       
       Die Sozialdemokratie muss radikale Lösungen finden für eine Gesellschaft,
       die gerade einen radikalen Wandel durchmacht. Vor dieser großen
       Herausforderung steht die Partei jetzt. Der reflektierte Kapitalismus wäre
       zugleich die Rückbesinnung auf den Kern der Sozialdemokratie als
       Volkspartei. Für die geschundene SPD wäre das ein neuer, selbstbewusster
       Weg nach vorn.
       
       22 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
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