# taz.de -- Gutachten im Weiße-Ring-Prozess: Im Zweifel für den Angeklagten
       
       > Gutachterin bestärkt die Zweifel an der Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen
       > Opfers. Der Mann der Dora M. belästigt haben soll, wird nicht
       > begutachtet.
       
 (IMG) Bild: Seine Glaubwürdigkeit wird nicht von einer Gutachterin geprüft: Detlef H.
       
       LÜBECK taz | Am vierten Prozesstag gegen den ehemaligen Leiter des Weißen
       Rings in Lübeck war die Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen. Erst am
       späten Nachmittag stellte die Gerichtspsychologin Gabriele Teichert ihr
       Gutachten vor – allerdings nicht über Detlef H., den Mann der auf der
       Anklagebank sitzt, weil er sich laut Anklage in seiner Funktion als
       Opferberater vor einer Klientin entblößt haben soll. Die Gutachterin
       beurteilte stattdessen die Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers, Dora M.
       
       Das Gutachten gilt als wegweisend dafür, wie das Urteil ausfallen könnte.
       Deshalb sieht es für Nebenklägerin M. nicht sehr gut aus. Teichert hatte
       den Prozess beobachtet und die Unterlagen dazu studiert, um zu analysieren,
       ob die Nebenklägerin Dora M. möglicherweise Ereignisse dramatisiere oder ob
       sie, bewusst oder unbewusst, Falschaussagen gemacht haben könnte.
       
       Das Fazit der Gutachterin: „Einige ihrer Aussagen sind schematisch, andere
       lassen sich gedächtnispsychologisch nicht zurückweisen“. Das lässt viel
       Raum für Interpretationen – möglich wäre auch, dass ihre Aussage nicht
       stimmt oder ihre Erinnerung trügt. Die Richterin Andrea Schulz fasst es so
       zusammen: „Es steht in Frage, aber es steht im Raum.“
       
       Viel ging es in diesem Zusammenhang um den Unterschied zwischen
       Glaubwürdigkeit, die sich auf das Ganze einer Person bezieht, und die
       Glaubhaftigkeit einer Einzelaussage. Die Gutachterin machte klar, dass sie
       sich nur auf den letzten Aspekt bezieht.
       
       ## Dora M. ist vorbestraft
       
       Ob sie dabei den Kontext wirklich ausblenden konnte? Dora M. hat Erfahrung
       mit Gerichten: Sie wurde zu einer Strafe auf Bewährung verurteilt, ein
       anderes Verfahren gegen sie, in dem es um Betrug ging, wurde eingestellt.
       Immer ging es dabei um Geld, vor allem um Schulden für Miet- und
       Energiekosten. Detlef H. stellt es so dar, als sei M. eine Betrügerin, der
       grundsätzlich nicht zu glauben sei. Die Strategie der Verteidigung war es,
       den Fokus immer wieder auf dieses Thema zu lenken.
       
       So nahm die Frage, ob Dora M. glaubwürdig ist, im Prozess sehr viel Raum
       ein. Der Slogan, mit dem die Opferhilfe-Organisation Weißer Ring 1976
       gegründet wurde, lautete: „Wenn alle den Täter jagen, wer bleibt dann beim
       Opfer?“ Im Prozess gegen den Ex-Weißer-Ring-Chef Detlef H. stellt sich aber
       die Frage: Wenn alle auf das (mutmaßliche) Opfer schauen, wer analysiert
       dann den (mutmaßlichen) Täter?
       
       Was Dora M.s Aussage potenziell stärkt, sind die Aussagen von 28 weiteren
       Frauen, die H. sexuelle Grenzüberschreitungen vorwerfen. Genau wie M.
       sprechen mehrere Frauen etwa davon, dass H. ihnen in einem
       Beratungsgespräch nahe gelegt habe, Geld als Prostituierte zu verdienen. In
       den Gerichtssaal hat es, etwa aufgrund von Verjährungen, nur dieser eine
       Fall geschafft. Der Prozess steht damit symbolisch als Stellvertreter für
       all die anderen Vorwürfe.
       
       Am dritten Prozesstag haben zwei dieser Frauen vor Gericht ausgesagt, um
       ein Verhaltensmuster des Angeklagten nachzuweisen. Aber davon, der
       Stimmigkeit seiner Version der Geschichte, von Detlef H.s Rolle als Mann
       und als Berater des Weißen Rings ist im Verfahren trotzdem nicht viel die
       Rede. Warum vom Gericht eine Psychologin bestellt wurde, um die
       Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers zu beurteilen, nicht aber für den
       mutmaßlichen Täter, das wollen Richterin und Staatsanwältin nicht
       beantworten.
       
       16 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friederike Grabitz
       
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