# taz.de -- Jahrestag des Mauerfalls: Unruhe in der Wurzelregion
       
       > Der Mauerfall jährt sich mal wieder. Ein Anlass, routiniert die Ostler zu
       > streicheln? Das wird diesmal nicht mehr funktionieren.
       
 (IMG) Bild: Diagnose: Entzündete Ost-West-Beziehungen
       
       Nicht mehr lange und Deutschland hat es mal wieder geschafft. Noch ein
       bisschen den Tag des Mauerfalls begehen, ein paar warmen Reden lauschen und
       sehr oft das Wort Freiheit im Munde führen – und dann tschüss bis in fünf
       Jahren, ihr lieben ostdeutschen Landsleute!
       
       Wenn die Feierlichkeiten überstanden sind, kann Westdeutschland zurück zu
       sich selbst finden und auch endlich wieder damit aufhören, die Brüder und
       Schwestern verstehen zu müssen oder nach Interesse und Gefühlen zu
       schürfen, die schlicht nicht vorhanden sind. Und die Ostdeutschen finden
       zurück in diesen Zustand des subventionierten Grummelns und
       Sich-unterlegen-Fühlens, den sie nun auch schon seit dreißig Jahren
       pflegen.
       
       Nur leider gibt es im Jahr 2019 ein Problem: Der Osten wählt sich in diesem
       Herbst gleich drei neue Landtage. Und danach wird die Bundesrepublik sehr
       wahrscheinlich ganz anders diskutieren müssen, als sie es gewohnt war:
       offener, härter, wahrhaftiger. Am besten, wir fangen gleich damit an.
       
       Die Prognosen, was die Demokratiefähigkeit der alles andere als neuen
       „neuen Länder“ angeht, sind bescheiden. Beunruhigend viele Bürgerinnen und
       Bürger dort fühlen sich berufen, Protest zu wählen. Und mit Protest meinen
       sie auch stramm rechte Ideologen, die zwar überwiegend westdeutscher
       Provenienz sind, sich aber zu Sachwaltern der Wende aufzuschwingen
       versuchen. So gleichgültig scheint manchen Ostdeutschen 1989 zu sein, dass
       sie mittlerweile bereit sind, dieses bedeutende Lebensereignis gegen
       ranzigen Ideologiequark einzutauschen.
       
       ## Ein Thema wie Zahnschmerzen
       
       Die Ergebnisse in Brandenburg, Sachsen und Thüringen werden weitreichende
       Folgen für das gesamte Land haben. Die ganze schöne Demokratie ist in
       Gefahr: Was in den Landtagen von Potsdam, Dresden und Erfurt passiert, wer
       dort künftig in welchen Koalitionen die Geschicke der Bürgerinnen und
       Bürger lenken wird, hat unmittelbaren Einfluss auf das gesamte föderale
       System. Und das sind: wir alle.
       
       Diese ganze Ostdeutschland-Westdeutschland-Debatte ist ein Thema wie
       Zahnschmerzen. Wenn man nix dran macht, wird es nur schlimmer – aber auch
       wenn man sich drum kümmert, kann es sehr hässlich werden. Der weitaus
       angenehmste Zustand ist doch immer noch der dazwischen: wenn es schön ruhig
       ist in der Wurzelregion.
       
       In den zurückliegenden Monaten war mustergültig zu beobachten, wie sich der
       immer wiederkehrende Kreislauf aus anfänglichem Interesse am Osten,
       ausschweifender Diagnostik, gut gemeinten Behandlungsvorschlägen und
       Rumdoktern vollzogen hat. Letzter Teil der Befassung mit dem Thema werden
       die Feiern zu 30 Jahren Mauerfall sein. Danach wird man versuchen, das
       Operationsgebiet ruhigzustellen: mit noch ein paar Straßen, die ins
       abgehängte Nichts führen, ein paar hundert Jobs in Polizei und Verwaltung,
       mit Telemedizin und Rufbussen. Alles nett gemeint, aber eben nicht mehr als
       ein paar Tupfer auf eine offen klaffende Wunde.
       
       Dabei tut es die ganze Zeit weh. Osten und Westen sind nach dreißig Jahren
       bestenfalls locker verbunden, von Zusammenwachsen kann leider noch immer
       keine Rede sein. Man kennt sich mittlerweile, stellenweise schätzt und mag
       man einander. Durchaus, ja. Aber Liebe wird das nicht mehr. Müsste es ja
       auch nicht. Andere Länder sind auch getrennt nach Regionen, Reichtum,
       Bildung. Das Problem der Deutschen ist, dass sich der Riss vertieft.
       Weniger bei den Fakten als bei den Gefühlen. Bei den sogenannten
       Identitäten, dem heißen Scheiß der politischen Metadebatte.
       
       ## Gefühle lassen sich nicht wegdiskutieren
       
       Dreißig Jahre nach dem Mauerfall hat sich das Gefühl einer ostdeutschen
       Identität eben gerade nicht zugunsten einer Bundesbürgerlichkeit für
       jedermann aufgelöst. Im Gegenteil. Laut einer aktuellen Studie des
       Allensbach-Instituts im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat
       sich in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und
       Thüringen das ostdeutsche Identitätsgefühl wieder verstärkt. Das in Rede
       stehende Gefühl beschreibt den subjektiven Eindruck der 1.228 Befragten,
       „abgehängt“ zu sein, „zweitklassig“.
       
       27 Prozent stimmen der Aussage zu, „dass es vielen anderen in Deutschland
       immer besser geht, aber mir nicht“. In Westdeutschland sehen das 18 Prozent
       der Befragten so. Auch im Land des Aufstiegsversprechens für jedermann ist
       das immerhin ein knappes Fünftel.
       
       Auch der Anteil derjenigen, die sagen, es gebe große Unterschiede in den
       Lebensverhältnissen zwischen Ost und West, ist im Osten in den letzten fünf
       Jahren gestiegen: von 64 Prozent auf 74. Aus etwa zwei Dritteln sind also
       binnen weniger Jahre nahezu drei Viertel geworden. Im Westen liegt dieser
       Anteil hingegen seit 2014 stabil bei 43 Prozent.
       
       Man könnte nun sagen: Das sind Gefühle, Leute, lasst euch doch nicht davon
       leiten! Aber wie es so ist mit den Gefühlen: sie lassen sich eher nicht
       wegdiskutieren. Und tatsächlich geht es den Leuten in Ostdeutschland auf
       Nachfrage weniger um Stimmungen als um Fakten. 57 Prozent der Befragten
       sehen ihre Benachteiligung nicht in nicht vergoldeten Kirchturmspitzen,
       sondern im Ärztemangel. 54 Prozent nennen Abwanderung und 40 Prozent
       fehlende Jobs als Merkmale der ostdeutschen Zweitklassigkeit.
       
       ## It´s the economy, stupid!
       
       Leider, leider haben sie damit auch noch recht. Ebenfalls im Juli hat die
       Bundesregierung ihren [1][Deutschlandatlas] vorgestellt. Auf bedenklich
       vielen der 56 dort abgebildeten Karten sieht es aus, als gäbe es noch immer
       zwei deutsche Staaten. Bei den Minijobbern und der Verschuldung der
       Privathaushalte sind die Ostdeutschen ganz vorne mit dabei, ebenso bei den
       AbgängerInnen ohne Hauptschulabschluss und den über 65-Jährigen. Ganz
       hinten wiederum ist der Osten bei den Steuereinnahmen und den Einkommen der
       Privathaushalte und beim Bruttoinlandsprodukt. Tja. It’s the economy,
       stupid!
       
       Das Gefährliche daran: Der Osten rückt aufgrund dieser – durchaus
       faktenbasierten – Gefühle nach rechts und wird immer stärker zur
       entzündlichen Region. Die Wahlergebnisse dort könnten das ganze Land
       infizieren, die gesamte parlamentarische Demokratie destabilisieren. Weil
       viele das spüren – und manche Länder und Kommunen es auch schon so erfahren
       –, schwankt die öffentliche Debatte zwischen Leugnen und Alarm. Es wird
       argumentiert und gestritten, gebeten und gedroht, analysiert und verworfen.
       Ost wird gegen West ausgespielt, Links gegen Rechts, Minorität gegen
       Majorität. Alles ohne Ergebnis und so lange und nervenzerfetzend, dass es
       alsbald angenehmer ist, das Thema wieder beiseitezulegen.
       
       Mit dem Osten hat sich der Westen ein handfestes Problem angelacht. Aus
       anfänglicher Euphorie, stellenweise sogar Bewunderung und Respekt für die
       Ostdeutschen wuchsen im Laufe der Jahrzehnte Unverständnis und durchaus
       Verachtung. Wer falsch wählt, wird abgestraft: Urlaubsentzug für
       Mecklenburg-Vorpommern, Hotelstornierung für Sachsen, Spargelwarnung für
       Brandenburg. All dies aus jener erlernten kapitalistischen Haltung heraus,
       der Osten, die Ostdeutschen seien Kostgänger des Westens, sie gehörten
       monetär bestraft für ihre Demokratieferne.
       
       Ein in letzter Zeit sehr beliebtes Argument ist, [2][es gebe den Osten
       eigentlich gar nicht]. Oder – auch interessant – wer sich als OstdeutscheR
       verstehe, dies sogar für relevant für die eigene Sicht auf die Welt
       erachte, verstehe sich selbst als Teil einer „völkischen
       Schicksalsgemeinschaft“. [3][Gruppenzugehörigkeit gleich rechte Denke] –
       wer findet, dass die Treuhand eine Menge Scheiße gebaut hat, greift auch
       Geflüchtetenunterkünfte an – so in etwa.
       
       ## Es fehlt nurnoch das Töpfchen-Gleichnis
       
       Manche machen es sich ganz einfach und behaupten, was da [4][1989 in der
       DDR] passiert ist, sei gar keine Revolution gewesen. Und dass der Osten
       heute nach rechts kippt, sei im Grunde nichts Neues, sondern lediglich die
       Fortführung der totalitären Nazi-Honecker-AfD-Linie. Da fehlt nur noch das
       gute alte Töpfchen-Gleichnis des niedersächsischen Kriminologen Christian
       Pfeiffer, laut dem gern ein bisschen Nazis spielt, wer zusammen Töpfchen an
       Töpfchen im sozialistischen Kindergarten geschissen hat.
       
       Das ist alles in allem ganz lustig und unterhaltsam. Es soll und muss
       diskutiert werden – das Land wird nicht dümmer darüber. Aber wäre es nicht
       weitaus besser, wenn es dreißig Jahre nach dem Mauerfall tatsächlich noch
       einmal interessant würde. Der Bundespräsident hat kürzlich von einem „neuen
       Solidarpakt“ gesprochen. Frank-Walter Steinmeier meinte damit „nicht den
       Solidarpakt der Milliarden, sondern eher einen Solidarpakt der Anerkennung,
       der Wertschätzung, der offenen Ohren und vielleicht auch des offenen
       Austausches“.
       
       Man hörte es und dachte: Aha, oho, die WestlerInnen sollen sich jetzt also
       für die OstlerInnen interessieren. Aber was, wenn der Bundespräsident
       tatsächlich beide Seiten gemeint hätte? Kaum auszudenken, was sich ändern
       könnte in diesem Land, wenn alle mal aus ihren Schmollecken rauskämen.
       
       Diese Idee ist alt und wartet seit 25 Jahren auf ihre Umsetzung. Zum
       fünften Jahrestag des Mauerfalls nämlich hatte schon der damalige
       Bundespräsident Roman Herzog vorgeschlagen, „dass wir uns austauschen und
       dabei unsere Einheit finden“. Seine Sentenz vom „Geschichten-Erzählen“ ist
       über die Jahrzehnte zur nahezu entleerten Floskel geworden. Steinmeiers
       Vorgänger hat aber auch noch etwas weiteres Kluges gesagt. „Am Ende kann
       ein Volk – wie übrigens das ganze Europa – nicht mit zwei verschiedenen
       Geschichten leben, sondern es muß eine einheitliche, ehrliche und nach
       keiner Seite geschönte Geschichte daraus werden.“ Wenn dies gelänge,
       könnten Ost- und Westdeutsche es tatsächlich noch hinkriegen miteinander.
       Und der Tag des Mauerfalls wäre tatsächlich mehr als irgendein freier Tag.
       
       11 Aug 2019
       
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