# taz.de -- Giftiges Pestizid an Zitrusfrüchten: Gefahr für ungeborene Kinder
       
       > Seit Jahren setzen Bauern in vielen Ländern das Pestizid Chlorpyrifos
       > ein. Nun sagt die EU-Lebensmittelbehörde: Das Insektengift dürfte gar
       > nicht zugelassen sein.
       
 (IMG) Bild: Erfrischend – und potenziell gefährlich: mit Chlorpyrifos behandelte Orangen
       
       BERLIN taz | Chlorpyrifos ist ein Klassiker unter den Pestiziden. Seit den
       1960er Jahren töten Bauern in vielen Staaten mit dem Wirkstoff
       [1][Schildläuse], Raupen oder andere Schädlinge. Immer hieß es von
       Herstellern und Behörden: Alles geprüft, kein Risiko.
       
       Das war ein fataler Irrtum. Denn erst jetzt hat die EU-Behörde für
       Lebensmittelsicherheit (Efsa) Chlorpyrifos als zu gefährlich eingestuft.
       Das Insektizid [2][könne ungeborene Kinder schädigen], erklärte das Amt in
       einem Anfang August veröffentlichten Gutachten. Zudem sei nicht hinreichend
       auszuschließen, dass das in Deutschland seit 1973 genehmigte Insektengift
       das Erbgut beeinträchtigt. Deshalb könnten keine sicheren Grenzwerte
       festgelegt werden und Chlorpyrifos dürfe nicht zugelassen sein, so die
       Behörde.
       
       Sie beruft sich vor allem auf Hinweise aus einem Tierversuch, dass die
       Substanz Gehirnen von ungeborenen Kindern schade. Da sie schon vorlagen,
       als die EU das Mittel zuließ, sagen Kritiker: Die Zulassungsbehörden
       schützen Verbraucher und Landwirte unzureichend vor gefährlichen Pestiziden
       – so wie beim unter Krebsverdacht stehenden Unkrautvernichter Glyphosat.
       
       In Deutschland darf Chlorpyrifos anders als in [3][Spanien, Polen und 18
       weiteren EU-Ländern] seit 2015 nicht mehr gespritzt werden. Laut Bundesamt
       für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit wurde das Pestizid aber
       beispielsweise 2017 vor allem in importierten [4][Orangen, Mandarinen sowie
       Grapefruits] gefunden. 44 Prozent der untersuchten Grapefruits und 37
       Prozent der analysierten Orangen waren demnach positiv. Treffer gab es auch
       etwa bei Äpfeln, Spargel und Tafelweintrauben.
       
       ## Unkritische Behörden
       
       Der Efsa zufolge war Chlorpyrifos [5][eines der 2017 am häufigsten
       gefundenen Pestizide] in Lebensmitteln. Das Bundesagrarministerium stellte
       aber schon im Juli 2017 fest, bei Chlorpyrifos werde aufgrund der
       gemessenen Rückstände „[6][eine akute Beeinträchtigung der Gesundheit als
       möglich erachtet]“.
       
       „Der Fall Chlorpyrifos zeigt ähnlich wie bei Glyphosat und den
       Bienenkillern Neonikotinoiden, dass die Zulassungsverfahren nicht
       einwandfrei funktionieren“, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Harald
       Ebner der taz. „Offensichtlich haben die Behörden bei Chlorpyrifos
       unkritisch die Herstellerschlussfolgerungen über Tierversuche mit dem Stoff
       übernommen.“ Das scheine gang und gäbe zu sein bei Pestizidzulassungen in
       der EU.
       
       Tatsächlich hatte ein Ausschuss der Europäischen Kommission und der
       Mitgliedstaaten 2005 festgestellt, dass Chlorpyrifos alle gesetzlichen
       Anforderungen erfülle, also sicher sei. Daraufhin beschlossen sie eine
       [7][Verordnung, um den Stoff zu erlauben.]
       
       Zuvor hatte Spanien über mehrere Jahre hinweg die Chemikalie im Auftrag der
       EU überprüft. Wie immer bei solchen Verfahren in Europa, den USA oder
       Kanada beriefen sich die spanischen Regierungsexperten vor allem auf
       Studien, die Hersteller des Pestizids in Auftrag gegeben und für die
       Behörden zusammengefasst hatten.
       
       ## Kleine Gehirne
       
       „Chlorpyrifos hätte niemals zugelassen werden dürfen“, sagt der Grüne
       Ebner. Die Zulassungsbehörden hätten „übersehen“, dass schon 1998 eine vom
       Hersteller Dow beauftragte Studie Belege für die hirnschädigende Wirkung
       von Chlorpyrifos geliefert habe.
       
       Tatsächlich bestätigt die jeglicher Nähe zu Umweltschützern unverdächtige
       Efsa: Die Spanier hatten die Studie falsch eingeschätzt. Es sei
       besorgniserregend, dass in dem Versuch die Kleinhirne derjenigen Ratten
       kleiner gewesen seien, deren Eltern Chlorpyrifos gefressen hatten, schreibt
       die EU-Behörde. Das spanische Amt dagegen hatte kein Problem gesehen.
       Lediglich die Ratten mit extrem hohen Dosen des Pestizids hätten weniger
       gewogen.
       
       Offenbar hatte sich die Behörde nur auf den Ergebnisbericht des Herstellers
       verlassen. Wissenschaftler um den Chemiker Axel Mie von der schwedischen
       Medizin-Universität Karolinska-Institut dagegen werteten die Rohdaten, also
       zum Beispiel die Gehirngewichte, selbst aus. Im vergangenen Jahr
       veröffentlichten sie ihr Fazit: [8][Die Kleinhirne von Jungratten waren
       kleiner], selbst wenn ihre Mütter nur sehr geringen Chlorpyrifos-Mengen
       ausgesetzt waren.
       
       Dies habe die Versuchszusammenfassung schlichtweg nicht erwähnt,
       berichteten die Forscher in der Fachzeitschrift Environmental Health. Der
       Hersteller habe „irreführende“ Angaben gemacht. Die spanische Behörde hat
       das nicht gemerkt. Sie antwortete bis Redaktionsschluss nicht auf eine
       Bitte der taz um Stellungnahme.
       
       ## Zulassung verlängert, weil zu langsam
       
       Wie stark Pestizide wie Chlorpyrifos aus der Gruppe der Organophosphate
       Menschen schädigen können, legen besonders drei Studien aus den Jahren 2005
       bis 2016 über Personen mit und ohne Kontakt zu solchen Stoffen nahe. Laut
       EU-Lebensmittelbehörde belegen die Untersuchungen kognitive und
       Verhaltensdefizite bei Kindern, die im Mutterleib dieser Pestizidart
       ausgesetzt werden. „Es ist ein Skandal, dass Chlorpyrifos trotzdem
       zugelassen wurde“, sagt Peter Clausing, Vorstandsmitglied der
       Umweltorganisation Pestizid-Aktionsnetzwerk.
       
       Doch damit nicht genug: Eigentlich hätte die EU-Zulassung am 30. Juni 2016
       auslaufen sollen. Doch Hersteller Dow beantragte, die Genehmigung zu
       erneuern. Aber die Behörden schafften es nicht, rechtzeitig darüber zu
       entscheiden. Deshalb verlängerte die EU die Zulassung [9][durch
       Verordnungen] dreimal, zuletzt bis Ende Januar 2020.
       
       Kein einziges Mal prüften die Behörden die Risiken. Auch nicht, als die
       kritische Auswertung der Tierversuche schon veröffentlicht war. Der Grund
       für die Verlängerungen war den Verordnungen zufolge einzig, dass „sich die
       Bewertung dieser Wirkstoffe aus Gründen verzögert hat, die die
       Antragsteller nicht zu verantworten haben“. Solche „blinden“ Zulassungen
       gibt es auch für andere Pestizide, die zum Beispiel im Verdacht stehen,
       Krebs auszulösen.
       
       Der Vorgang erinnert an den Umgang der Behörden mit dem
       Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat. Auch hier wollten die Zulassungsämter,
       allen voran das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung, keine
       relevanten Hinweise auf Gesundheitsrisiken in Tierversuchen erkannt haben.
       Externe Wissenschaftler machten aber auf erhöhte Tumorraten aufmerksam. Im
       Unterschied zu Glyphosat hat bei Chlorpyrifos sogar eine Behörde den Stoff
       als zu gefährlich eingestuft.
       
       ## Das am besten geprüfte Pestizid der Welt!
       
       Wie bei Glyphosat weist die Industrie auch die Vorwürfe gegen Chlorpyrifos
       vehement zurück: „Kein Wirkstoff ist gründlicher untersucht worden als
       Chlorpyrifos“, teilte der taz József Máté, Sprecher des
       US-Agrarchemiekonzerns Corteva, mit, in dem Dow nach einer Fusion
       aufgegangen ist. Genau jenes Argument hatten Glyphosat-Verteidiger für ihr
       Produkt benutzt – was die Frage aufwirft, welches Pestizid denn nun
       wirklich am besten geprüft wurde.
       
       Corteva jedenfalls schreibt weiter: „Die Efsa-Schlussfolgerungen stimmen
       nicht überein mit denen anderer wichtiger Regulierungsbehörden wie der
       US-Umweltbehörde, der australischen APVMA oder der
       Weltgesundheitsorganisation.“
       
       Dänemarks Regierung beispielsweise überzeugt das nicht. Sie droht bereits
       mit einem [10][nationalen Importverbot] für mit Chlorpyrifos behandelte
       Lebensmittel, wie die Onlinezeitung EUObserver berichtete. Der deutsche
       Grüne Ebner forderte daraufhin, dass sich die Bundesrepublik der dänischen
       Initiative anschließt.
       
       Doch davon ist Bundesagrarministerin Julia Klöckner weit entfernt. In einer
       Stellungnahme für die taz verweist das Ministerium der CDU-Politikerin
       darauf, dass die EU mehrmals die erlaubten Mengen des Pestizids in
       Lebensmitteln gesenkt habe. Gerade überprüfe sie die Genehmigung für
       Chlorpyrifos. Tatsächlich teilte Anca Păduraru, Sprecherin der
       EU-Kommission, der taz mit: „Die Kommission wird den Mitgliedsländern
       vorschlagen, die Zulassung der Substanz nicht zu verlängern.“
       
       ## EU-Kommission verteidigt EU-Regulierung
       
       Kritik am Zulassungssystem wies Păduraru zurück. Gerade wegen „des
       funktionierenden EU-Systems und der EU-Regulierung“ könne die Kommission
       den Mitgliedstaaten Verordnungsentwürfe vorlegen, um, wenn nötig, die
       Zulassung eines Wirkstoffs auslaufen zu lassen.
       
       Ebner sieht das ganz anders: „Der Fall Chlorpyrifos zeigt auch, dass wir
       dringend eine umfassende Reform der Pestizid-Zulassungsverfahren brauchen“,
       sagt der Grünen-Abgeordnete. Es verlasse sich zu stark auf
       Herstellerangaben.
       
       „Die Studien müssen künftig vollkommen herstellerunabhängig durchgeführt
       werden, finanziert über Gebühren der Antragsteller“, verlangt Ebner. „Nur
       so kann wirklich verhindert werden, dass wichtige Erkenntnisse verschleiert
       werden.“ Der Parlamentarier kritisierte, Hersteller würden die Studien
       selbst quasi vorschreiben und die Behörden das dann nur noch zum größten
       Teil einfach übernehmen. „Auch ohne jede Absicht wird dabei allzu leicht
       etwas übersehen.“
       
       26 Aug 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.cropscience.bayer.com/en/crop-compendium/pests-diseases-weeds/pests/aonidiella-aurantii
 (DIR) [2] https://www.efsa.europa.eu/de/efsajournal/pub/5809
 (DIR) [3] https://ec.europa.eu/food/plant/pesticides/eu-pesticides-database/public/?event=activesubstance.detail&language=EN&selectedID=1130
 (DIR) [4] https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/01_Lebensmittel/nbpsm/07_nbpsm_2017/psmr-2017-tab-24-surveillance_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=2
 (DIR) [5] https://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/pub/5743
 (DIR) [6] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Rueckstaende/Bericht_PSM-Rueckstaende_Exposition.pdf?__blob=publicationFile
 (DIR) [7] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=uriserv%3AOJ.L_.2005.279.01.0063.01.DEU
 (DIR) [8] https://ehjournal.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12940-018-0421-y
 (DIR) [9] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX%3A32018R1796&from=EN
 (DIR) [10] https://euobserver.com/environment/145650
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jost Maurin
       
       ## TAGS
       
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