# taz.de -- Mein Fenster zum Hof: Die Fremd-Vertrauten
       
       > In den großen Mietshäusern stapeln sich die Leben Wohnung auf Wohnung.
       > Die Leute darin bleiben unbekannt. Aber die Sicht auf sie ist ein Halt.
       
 (IMG) Bild: Nicht nur die Wohnung ist das Zuhause sondern auch der Blick auf das, was darum herum ist
       
       Drüben sind sie ausgezogen und haben ihren Alltag mitgenommen. Die
       Fremd-Vertrauten von Gegenüber. Der Blick aus dem Fenster war der Blick auf
       sie. Ihren Balkon, ihre Gewohnheit. Man kannte sich, ohne sich nah zu sein.
       Teilte das Leben durch die Jahre.
       
       Es war sicher, wann sie das Licht löschten. Wie sie den Balkon nutzten. Der
       Mann saß abends nach der Arbeit alleine dort. Das war die Zeit für ihn.
       Später, kurz vor der Dunkelheit, setzten sie sich zu zweit zusammen.
       Irgendwann war ein Kind dabei. Im Frühling legten sie es in Windeln auf
       eine Decke auf den Balkon, als sollte es den ersten Wind spüren. Nach der
       Geburt pflanzten sie mehr Blumen, als wollten sie ihre Freude auch nach
       außen zeigen. Ihr unbekanntes Leben zeigte sich in seinen Rändern im Hof,
       lief parallel zu den anderen Leben, die sich in den großen Mietshäusern
       stapeln. Zu Wohnung auf Wohnung. Balkon auf Balkon.
       
       Und dann plötzlich waren sie fort. Einfach verschwunden. Als wäre ihnen
       keiner der unsichtbaren Blicke, der unbekannten Fensterbilder wichtig
       gewesen. Sie gaben nicht Bescheid, als sie gingen. Dabei war die Sicht auf
       sie über Jahre ein gewohnter Halt.
       
       Und fremde Menschen zogen ein. Die Neuen öffnen die Fenster auf andere
       Weise. Sie lassen sie nicht auf Kipp, sie stoßen sie ganz auf. Sie ziehen
       die Vorhänge zu fremden Zeiten auf. Sie pflanzen große Blumen. Sie lassen
       ihr Licht bis spät brennen, sitzen lang auf dem Balkon, schwarze Umrisse im
       Sonnenuntergang.
       
       Wo sind die alten Gegenüber, wem zeigen sie sich nun? Sie fehlen. So
       unbekannt gehörten sie zum eigenen Leben. Nicht nur die Wohnung ist das
       Zuhause, sondern auch der Blick auf das, was man von zu Hause aus sieht.
       
       Dann passierte etwas. Ein Sommerfest im Hof: Die Neuen kommen hinunter. Ja,
       sie sind die von Gegenüber. Sie geben die Hand, laden ein auf ihren Balkon.
       Aus dem Blick zu ihnen wird eine Begegnung. Es ist leicht.
       
       Schräg unter den Neuen wohnt eine ältere Frau. Sie sitzt den ganzen Tag am
       Fenster. Von morgens früh bis abends geht ihr Blick hinaus zum Hof. Zu
       Wohnung über Wohnung, Balkon über Balkon.
       
       Sie raucht viel, sie hustet laut. Ein tiefer, ungesunder Husten, den sie in
       den Hof hinausschleudert. Sie ruft mit heiserer Stimme zu den Kindern,
       manchmal wirft sie Münzen zu ihnen hinunter. Die meisten aus dem Hof hasten
       vor ihrem einsamen Blick in ihre Wohnung. Wenn sie jemanden zum
       Stehenbleiben bringt, hat sie viel zu erzählen.
       
       Dann auf einmal wird der Husten der Frau härter. Sie sitzt weniger am
       Fenster und wenn, sieht sie traurig aus. Dann plötzlich ist sie fort.
       
       Sie hat nicht Bescheid gegeben, als sie ging. Als hätte sie nicht gewusst,
       dass es zu ihrem Blick auch einen Blick auf sie gab. Sie fehlt. Die Sicht
       auf sie im Hof war über die Jahre ein gewohnter Halt.
       
       Ein paar Wochen später wird ihr Balkon abgeräumt. Eine professionelle Firma
       putzt und saugt, saniert ihr Leben weg.
       
       Ein Mann im Hof schaut hinauf zur Wohnung der Frau. Sie sei an Krebs
       gestorben, im Krankenhaus. Er sagt, man müsse als Nachbarn besser
       zusammenhalten. Ein Nicken.
       
       Ja. Warum geht man nicht öfter rüber, erzählt von seiner Sicht: Sie sehen
       traurig aus. Warum eigentlich? Ihr habt ein Kind bekommen? Herzlichen
       Glückwunsch! Es ist schön, wie euer Lachen über den Hof klingt. Warum habt
       ihr eure Blumen vertrocknen lassen, als ihr in Urlaub gewesen wart? Wir
       hätten doch gegossen.
       
       In die Wohnung der älteren Frau ziehen nun neue Nachbarn. Sie befestigen
       Jalousien, leben ein Leben, das sich kaum in seinen Rändern zeigt. Ein
       glattes Fensterbild, das noch mehr von dem verbirgt, was parallel in all
       den Wohnungen passiert.
       
       Drüben im vierten Stock macht der Nachbar jetzt morgens Kniebeugen auf dem
       Balkon. 15 Kniebeugen. Immer 15. Langsam wie zum Mitzählen. Er hält sich
       dabei am Geländer fest. Dann geht er wieder hinein. Warum hat er damit
       begonnen? Und soll man hier, vielleicht hier wirklich klingeln, wenn sich
       etwas ändert? Es ist ja wichtig zu wissen, was passiert, bevor das
       Fremd-Vertraute plötzlich aufhört.
       
       8 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kolumne Zwischen Menschen
 (DIR) Schwerpunkt Wohnen ist Heimat
 (DIR) Wohnen
 (DIR) Balkon
 (DIR) Nachbarn
 (DIR) Sternschnuppen
 (DIR) Trauer
 (DIR) Familie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Perseiden-Nacht auf dem Friedhof: Hinter den Wolken
       
       In der Perseiden-Nacht trafen sich Menschen zum Sternschnuppen-Gucken auf
       dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg – trotz schlechter Aussichten.
       
 (DIR) Kolumne Zwischen Menschen: Ungeschützte Tränen
       
       Es ist merkwürdig, Menschen in der Öffentlichkeit weinen zu sehen. Die
       Hülle ist zerbrochen, die sonst im öffentlichen Leben die Emotionen
       verbirgt.
       
 (DIR) Kolumne Zwischen Menschen: Im unsortierten Teil des Lebens
       
       Wenn man Gebrauchtes kauft, bekommt man eine Geschichte geschenkt. Diese
       hier führt über einen Keller zu einer Verzauberung.