# taz.de -- Vergessene Geheimsprache Rotwelsch: Das Erbe
       
       > Als Harvard-Professor Martin Puchner zu der Sprache Rotwelsch
       > recherchiert, stößt er auf Familiengeheimnisse und Abgründe der
       > Geschichte.
       
 (IMG) Bild: Martin Puchner in der Bibliothek der American Academy in Berlin
       
       Da ist dieser geheimnisvolle Raum, das Arbeitszimmer des Onkels,
       vollgestopft mit Büchern bis unter die Decke. An einer Wand hängen Geigen,
       Bratschen, eine Laute. Der Geruch von Zigarillos liegt in der Luft. Neben
       dem Schreibtisch steht eine Chaiselongue mit einer Vorrichtung, in die man
       ein aufgeschlagenes Buch hinter einer Glasscheibe einklemmen kann, um es im
       Liegen über dem Kopf zu lesen.
       
       Er ist sechs, vielleicht sieben Jahre alt und mit seinen Eltern zu Besuch
       in der großen Altbauwohnung in München-Schwabing. Der Onkel, ein kräftiger
       Mann mit rötlichem Bart, zieht aus den Regalen immer wieder
       Nachschlagewerke, liest Wörter vor, die Deutsch klingen und doch keinen
       Sinn ergeben.
       
       Es ist eine Geheimsprache, die kaum mehr jemand kennt, Rotwelsch, die
       Sprache der Landstreicher und Fahrenden. Und sein Onkel, Günter Puchner,
       hat beschlossen, sie in diesem Arbeitszimmer vor dem Aussterben zu retten.
       
       Der Onkel hat ein Privatarchiv zusammengetragen, so gut wie jedes Buch, das
       Rotwelsch nur irgendwo erwähnt. Dazu Bände über die Geschichte des
       Jiddischen, aus dem Rotwelsch viele Wörter entlehnt hat. Und Bücher über
       Migration und Untergrunddialekte in Berlin, Wien oder Prag. Er hat
       Zettelkästen angelegt, mit Hunderten Vokabeln und Redewendungen, akkurat
       mit Schreibmaschine auf Karteikarten getippt, samt hochdeutscher
       Übersetzung.
       
       Und er hat bekannte Stellen der Weltliteratur ins Rotwelsch übertragen:
       „Ich gable, Krönchen, bei der kauz’gen Lamp“, sagt Romeo da in Shakespeares
       Balkonszene zu Julia – „Ich schwöre, Fräulein, bei dem heil’gen Mond.“
       
       ## „Mit Wörtern rumspielen“
       
       Wenn Martin Puchner heute, mehr als vierzig Jahre später, über die
       Erinnerungen an seinen Onkel spricht, klingt die Begeisterung des Kindes
       noch durch. „Das hörte sich alles sehr witzig an. Man konnte mit diesen
       Wörtern rumspielen, und dass es eine Geheimsprache war, machte es
       spannend.“ Er freute sich, wenn er Freunden erklären konnte, dass sie
       Rotwelsch-Wörter verwandten, die ins Deutsche gewandert waren. „Moos“ für
       Geld, „Bulle“ für Polizist.
       
       Er lernte auch Geheimzeichen auswendig, Zinken genannt, verschlüsselte
       Navigationshilfen für das Leben auf der Straße. Bettler, Hausierer und
       Fahrende hinterließen sie an Zäunen oder Hausfassaden, um einander
       mitzuteilen, wo ein bissiger Hund wachte, wo es sich lohnen könnte, um
       Essen zu bitten. Der Onkel zeichnete die Zinken mit Bleistift auf Papier
       und erklärte ihre Bedeutung.
       
       Anfang der 80er Jahre stirbt der Onkel, ganz plötzlich mit Mitte vierzig an
       einem Hirnschlag, es ist ein Schock für die Familie. Martin Puchner ist da
       zwölf. Das geheimnisvolle Arbeitszimmer und die seltsamen Wörter
       verschwinden aus seinem Leben.
       
       Erst viele Jahre später wird er das Erbe des Onkels antreten. Er übernimmt
       nicht nur die Manuskripte, Zettelkästen und selbst erstellten Wörterbücher,
       sondern macht sich auch auf die Suche nach der verschwundenen Sprache.
       Diese Suche wird ihn tief hinein in die eigene Familiengeschichte und
       Abgründe deutscher Geistesgeschichte führen.
       
       ## Von Nürnberg nach Harvard
       
       Es ist ein kühler, grauer Tag Anfang Mai. Martin Puchner sitzt an einem
       dunklen Holztisch in der Bibliothek der American Academy in Berlin. Aus den
       Fenstern blickt man auf den Wannsee, böiger Wind treibt weiße Segelboote
       vor sich her. Martin Puchner, fünfzig Jahre alt, ist heute Professor für
       Literatur in Harvard, er hat gerade ein Freisemester. Mit einem Stipendium
       der American Academy ist er in Berlin, um an einem Buch über seine
       Rotwelsch-Recherchen zu schreiben.
       
       An dem großen Tisch wirkt er sehr schmal, dunkles Hemd, Brille mit grauem
       Gestell. Beim Reden ziehen seine Hände Linien in die Luft, seine Sätze
       beendet er oft mit einem nachgeschobenen „Genau“.
       
       Nach den Spielereien der Kindheit habe er Rotwelsch fast vergessen, erzählt
       Puchner. „In der Pubertät ist man ja mit anderem beschäftigt.“ Er wächst in
       einem Reihenhaus in Nürnberg auf, die Mutter Grundschullehrerin, der Vater
       – der Bruder des Onkels – arbeitet als Architekt. Nach dem Abitur beginnt
       er Sprachen und Literatur zu studieren, erst in Konstanz, dann in Bologna,
       schließlich mit einem Stipendium in Kalifornien.
       
       Er interessiert sich für Sprachphilosophie, das Spätwerk von Ludwig
       Wittgenstein fasziniert ihn, vor allem dessen Satz: „Sprache ist eine
       Lebensform.“ Er will in den USA bleiben, bewirbt sich für verschiedene
       Doktorandenprogramme und bekommt einen Platz in Harvard.
       
       ## Ein Bibliotheksfund mit Folgen
       
       Es ist 1995, als er an einem Abend in der Uni-Bibliothek eine irritierende
       Entdeckung macht. Die Bibliothek von Harvard hat einen legendären Ruf, sie
       ist das größte Unibibliothekssystem der Welt. Allein im Hauptgebäude, der
       Widener Library, stehen mehr als drei Millionen Bücher, verteilt auf 92
       Regalkilometer in zehn Etagen. Ein Labyrinth, das man am besten nur mit
       einem Kompass, einem Sandwich und einer Signalpfeife betrete, witzelte eine
       Historikerin einmal.
       
       An diesem Abend ist es spät geworden, erinnert sich Martin Puchner. Er kann
       sich nicht mehr auf den Text konzentrieren, der vor ihm liegt. Er denkt
       über die riesigen Bestände nach, auf die hier alle so stolz sind. Er
       beschließt, die Bibliothek zu testen. Sein Großvater war Archivar und
       Historiker in München, promovierte 1932 mit einer Arbeit zur Herkunft der
       Namen oberbayerischer Klöster – was würde Widener wohl von ihm haben?
       
       Im Katalog findet er tatsächlich die Doktorarbeit von Karl Puchner, dazu
       einige Aufsätze zur Namensforschung, untergebracht in einem unterirdischen
       Raum, Pusey 3, in dem Quellen zur Kirchengeschichte archiviert werden. Er
       fährt in den Keller, läuft durch einen gekachelten Gang, steigt in einen
       weiteren Aufzug, fährt noch einmal drei Stockwerke nach unten. Hier, am
       wohl tiefsten Punkt der Bibliothek, lagern die Texte seines Großvaters in
       Rollregalen.
       
       Er blättert durch die Dissertation, liest einige Seiten an – ziemlich
       dröges Zeug, selbst für jemanden, der es gewohnt ist, sperrige Texte zu
       lesen. In einer Zeitschrift des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde
       findet er einen Artikel von 1934, das Papier vergilbt, die Schrift in
       Fraktur: „Familiennamen als Rassemerkmale“.
       
       ## „Verjudung“ und „Tarnnamen“
       
       Als er zu lesen beginnt, erschrickt er. Sein Großvater beklagt in dem Text
       die „Verjudung unseres gesamten öffentlichen und kultürlichen Lebens“.
       Viele Juden hätten „Tarnnamen“ angenommen, die deutsch klängen oder
       ursprünglich deutsch gewesen seien. Um die „fremdrassige Gruppe“ von den
       „Deutschstämmigen“ nun wieder eindeutig zu trennen, brauche es Experten –
       die Namensforscher.
       
       Der Aufsatz fordert, dass eine „Judenkartei“ angelegt werden müsste, um
       alle Juden und ihre Namen zu erfassen. Außerdem sollte es Juden verboten
       werden, ihren Namen zu ändern.
       
       Karl Puchner skizziert hier 1934 für sein Fachgebiet ein Programm, das
       Schritte des Vernichtungswerks der Nazis vorwegnimmt. Vier Jahre später
       wird ein Gesetz erlassen, das Juden, deren Vornamen nicht jüdisch genug
       klingen, dazu zwingt, Israel oder Sara als Vornamen anzunehmen, um sie
       identifizieren zu können.
       
       Der Abend in der Bibliothek verstört Martin Puchner. Sein Großvater, der in
       seinen Erinnerungen in einem großen Sessel sitzt und, ganz altersschwacher
       Patriarch, mit dem Gehstock die Großmutter herumdirigiert, der gestorben
       ist, als er noch ein Kind war – dieser Mann war nicht einfach Mitläufer,
       sondern überzeugter Nazi? Und noch etwas trifft ihn. In dem Text wird auch
       gegen Rotwelsch gehetzt, die große Liebe seines Onkels, dem Sohn des
       Großvaters.
       
       ## Wissen, das die Vergangenheit verändert
       
       Das Judentum sei „engstens mit dem Gaunertum verbunden“, weshalb Rotwelsch
       als Gaunersprache hebräische Wörter nutze, schreibt der Großvater. Er
       bedauert, dass Ausdrücke aus dem Rotwelsch ins Deutsche gewandert sind.
       „Leider hat sogar unsere Umgangssprache manche Wörter dieser trüben Quelle
       entnommen.“
       
       Der nationalsozialistische Namensforscher verachtet alles, was sich mischt.
       Wie „Rassen“ sollen in seinem Weltbild auch Sprachen möglichst rein und
       klar getrennt bleiben. Rotwelsch, das sich aus verschiedenen Sprachen
       bedient, passt da genau ins Feindbild.
       
       Es gibt Wissen, das den Blick auf die Vergangenheit für immer verändert.
       Nach diesem Bibliotheksfund ist sein Großvater für ihn nie mehr nur der
       Mann im Lehnsessel, erzählt Martin Puchner. Und auch Rotwelsch hat seine
       Leichtigkeit verloren. Da ist noch die Erinnerung an das Spielerische, aber
       es stellen sich jetzt auch Fragen.
       
       Kannte sein Onkel die Vergangenheit seines Vaters? Hat er sich deshalb so
       für die verschwundene Sprache engagiert?
       
       In den 60er Jahren hatte Günter Puchner begonnen, sich mit Rotwelsch zu
       beschäftigen. Was zuerst zum Geist von 68 zu passen schien, das Aufmüpfige
       einer Gaunersprache, nahm nach und nach einen immer größeren Teil in seinem
       Leben ein. Er hatte Musik studiert, als Komponist von Stücken Neuer Musik
       erste Erfolge gefeiert. Das gab er auf, um sich irgendwann ganz der Sprache
       zu widmen. War es der Versuch einer Wiedergutmachung?
       
       ## Ein Besuch des Vaters
       
       Kurz nach dem Abend in der Bibliothek besucht Martin Puchners Vater ihn in
       Harvard. Sie gehen in einen irischen Pub, rufen gegen den Lärm des vollen
       Studentenlokals an, sprechen über den Großvater. Er habe von dem Aufsatz
       nichts gewusst, sagt der Vater, er erinnert sich aber an ein Ereignis in
       den 60ern.
       
       In einer Dunkelkammer vergrößert er damals alte Familienfotos, er will
       einen Fotokalender machen. Auf einem Bild von 1937 ist Karl Puchner mit
       einem Anstecker am Revers zu sehen. Als der stark vergrößerte Abzug langsam
       sichtbar wird, erkennt er: Darauf ist ein Hakenkreuz. Er erzählt es seinem
       Bruder, zusammen konfrontieren sie ihren Vater, es gibt Streit. Karl
       Puchner redet sich heraus, den Anstecker hätten damals alle getragen.
       
       In vielen deutschen Familien werden zu dieser Zeit Fragen nach der
       Nazivergangenheit der Eltern gestellt. Aber danach passiert auch bei den
       Puchners das, was in den Nachkriegsjahrzehnten so oft passiert: Es wird
       irgendwann nicht mehr darüber geredet, die Episode gerät im
       Familiengedächtnis wieder in Vergessenheit.
       
       Und Rotwelsch? Dass sich der Großvater und der Onkel jemals darüber
       unterhielten, sich gar stritten – daran kann sich der Vater nicht erinnern.
       
       ## „Nimm das Zeug“
       
       Das Gespräch im Pub ist das letzte Mal, dass Martin Puchner mit seinem
       Vater über die Familie sprechen kann. Einige Monate nach dem Besuch in
       Harvard hat sein Vater einen Segelunfall. Auf einem bayerischen See
       kentert sein Boot in einem Sturm. Er trägt eine Rettungsweste, ist aber so
       in die Leinen verheddert, dass sie ihn unter Wasser halten. Als der
       Rettungshubschrauber eintrifft, ist es zu spät.
       
       Die Zeit danach beschreibt Martin Puchner heute als „Nebel“, er kann sich
       nicht mehr genau erinnern, wie er die Tage nach der Beerdigung, die Wochen
       zu Hause in Nürnberg verbringt. Er geht öfter zum Grab, spricht dort mit
       dem toten Vater und kommt irgendwann auch wieder auf Rotwelsch. Der
       Großvater ist tot, genauso der Onkel, nun auch der Vater. Wen könnte er
       dazu noch befragen?
       
       Er besucht seine Tante, die Witwe seines Onkels, in der Schwabinger
       Altbauwohnung. Sie spricht, so beschreibt Martin Puchner es heute aus der
       Erinnerung, nur ungern über Rotwelsch. Für sie hat die Obsession ihres
       Mannes seine Karriere und die gemeinsame Ehe zerstört. Viele Abende hatte
       sie mit der Schreibmaschine Wörterbücher erstellt und Vokabeln auf
       Karteikarten getippt, die ihr Mann ihr diktierte.
       
       „Nimm das ganze Zeug mit, ich will’s nicht mehr“, sagt sie zu ihrem Neffen.
       Es sind sieben Umzugskisten mit den Aufzeichnungen des Onkels, darin
       Zettelkästen, Kladden, Manuskripte, Briefwechsel, Gedichte in Rotwelsch und
       selbst verfasste Wörterbücher. Die große Bibliothek mit Hunderten Büchern
       zum Thema bleibt in der Schwabinger Altbauwohnung.
       
       „Für mich war das ein Stück Trauerarbeit“, sagt Martin Puchner. „Ich fühlte
       mich so auch meinem Vater näher, wenn ich die Aufzeichnungen meines Onkels
       anschaute.“ Er verschifft die Kisten nach Massachusetts, nimmt sie bei
       jedem Umzug mit, stellt sie immer wieder auf den Dachboden. „15-mal habe
       ich sie sicher umgezogen.“
       
       ## Die Geschichte der Geheimsprache
       
       Als Literaturwissenschaftler ist er es gewohnt, viel Zeit in Archiven zu
       verbringen. Er beschäftigt sich zunächst mit Sprachphilosophie und Theater,
       wird später Herausgeber der renommierten „Norton Anthologie der
       Weltliteratur“ und forscht dazu, wie mündliche Erzählungen erstmals
       niedergeschrieben wurden, wie Literatur ursprünglich entstand. Auf Deutsch
       ist gerade sein Buch „Die Macht der Schrift“ erschienen.
       
       Es dauert aber Jahrzehnte, bis er sich daran wagt, sich Rotwelsch mit
       derselben Akribie zu widmen. Seit knapp fünf Jahren arbeitet er an einem
       Manuskript, in dem er die Geschichte der Geheimsprache und die seiner
       Familie rekonstruiert, die so eng damit verwoben ist. An der American
       Academy will er das Buch beenden, eine erste Fassung konnte die taz für
       diesen Text einsehen.
       
       Im Spätmittelalter entsteht Rotwelsch als eine Mischung aus Deutsch,
       Jiddisch und Hebräisch. Streng genommen gilt es nicht als richtige Sprache,
       weil es keine eigene Grammatik besitzt, sondern die deutsche nutzt. Nur die
       Bedeutung der Wörter ist verdreht.
       
       Eine erste Hochphase erlebt Rotwelsch nach dem Dreißigjährigen Krieg, als
       zahlreiche entlassene Söldner und heimatlos Gewordene herumziehen,
       zeitweise bis zu einem Viertel der Bevölkerung.
       
       ## Erkennungszeichen eines bestimmten Milieus
       
       Rotwelsch ist das Erkennungszeichen eines bestimmten Milieus – und eine
       rein gesprochene Sprache. Die wenigen schriftlichen Quellen, die
       existieren, stammen von erbitterten Rotwelsch-Gegnern. In den Kisten, die
       Martin Puchner von seinem Onkel übernimmt, finden sich Aufzeichnungen
       mehrerer Generationen von Polizisten, die versucht haben, die Sprache zu
       entschlüsseln.
       
       Er ist skeptisch bei diesen Quellen, in die Dokumente sind alte
       Herrschaftsstrukturen eingeschrieben, Menschen ohne festen Wohnsitz gelten
       schnell als kriminell – und trotzdem sind diese Aufzeichnungen oft die
       einzige Möglichkeit, die Entwicklung der Sprache zu verfolgen.
       
       Zu jenen, die Rotwelsch schon früh bekämpfen, zählt auch Martin Luther.
       1528 gibt er ein „Buch der Vaganten“ neu heraus, das „Liber vagatorum“. Der
       ursprüngliche Autor ist unbekannt. Das Buch warnt vor Tricks und
       Täuschungen, die Bettler nutzen, um Almosen zu erschleichen.
       
       Luther fügt dem „Liber vagatorum“ eine Liste mit Rotwelsch-Begriffen und
       ihre Übersetzung hinzu. Und er schreibt ein Vorwort. Darin heißt es:
       Rotwelsch komme „von den Juden“, was in Luthers Welt mit seinem manifesten
       Antisemitismus nichts Gutes bedeutet.
       
       Auch wenn aus dem Jiddischen und Hebräischen viele Wörter entlehnt und mit
       einer neuen Bedeutung versehen wurden, waren die Rotwelsch-Sprecher, nach
       allem was man heute weiß, in der Mehrheit nicht jüdisch. [1][Luther
       begründet hier eine antisemitisch aufgeladene Erzählung, auf die im
       Nationalsozialismus Karl Puchner und andere zurückgreifen].
       
       ## Regionale Rotwelsch-Dialekte
       
       Im 18. und 19. Jahrhundert benutzen nicht nur Landstreicher und Hausierer,
       sondern auch Mitglieder von Räuberbanden Rotwelsch, daher sein Ruf als
       Gaunersprache. Ende des 19. Jahrhunderts werden viele Rotwelsch-Sprecher
       sesshaft – teils freiwillig, teils von den Behörden dazu gezwungen. Das
       Rotwelsch-Vokabular vermischt sich mit regionalen Mundarten, [2][es
       entstehen zahlreiche Rotwelsch-Dialekte].
       
       Die Nazis verwandeln eine lebendige Sprache dann in eine sterbende, indem
       sie das Milieu zerstören, das sie spricht. Fahrende, Landstreicher,
       Kleinganoven – nach 1933 gelten diese Menschen als „Ballastexistenzen“ oder
       „Asoziale“, sie zählen zu den Ersten, die in Konzentrationslager gesperrt
       werden. Mit ihnen verschwindet ihre Art zu leben – und ihre Sprache.
       
       „Der Versuch meines Onkels, mit dem Niederschreiben und der Übersetzung
       klassischer Literatur eine Sprache zu retten, ist auch ein Kunstprojekt,
       weil es diese Form der Fixiertheit beim Rotwelsch so nie gab“, sagt Martin
       Puchner. Er selbst könne Rotwelsch zwar teils lesen, die Bedeutung
       einzelner Wörter herleiten. „Aber ich kann kein Gespräch darin führen. Mit
       wem auch?“
       
       Zu seinen Recherchen gehört für ihn aber nicht nur die Geschichte der
       Geheimsprache, sondern auch die seines Großvaters. So gründlich er sucht:
       Er findet keinen anderen Text des Großvaters, der Rotwelsch noch einmal
       erwähnt. Und auch keinen weiteren, der so antisemitisch durchtränkt ist. In
       einem Aufsatz aus den 1930er Jahren gibt es zwei, drei Absätze im selben
       Stil, dann nichts mehr.
       
       Nach 1945 macht Karl Puchner Karriere, 1960 steigt er zum Direktor des
       bayerischen Staatsarchivs in München auf. Außerdem unterrichtet er
       Namensforschung am historischen Seminar der
       Ludwig-Maximilians-Universität.
       
       ## Die Akte von Karl Puchner
       
       Um sich seinem Großvater anzunähern, macht Martin Puchner das, was sein
       Beruf ist – er sichtet alte Dokumente und Texte. „Ins Bayerische
       Staatsarchiv bin ich 2016 einmal reinmarschiert und habe nachgefragt, was
       die zu meinem Großvater haben“, erzählt er.
       
       Die Mitarbeiter sind zu ihm sehr freundlich. „Ihr Großvater war ja
       Direktor, natürlich haben wir da einiges.“ In einem Lesesaal wartet er eine
       Weile, dann fährt ein Mann einen Rolltisch vor, darauf Stapel von Papieren,
       Hunderte von Seiten, die Akte von Karl Puchner.
       
       Darin finden sich Beurteilungen des jungen Archivars aus den 30er Jahren.
       Vorgesetzte loben ihn als fleißig, energisch, eine positive Erscheinung. Im
       selben Ordner liegt aber auch ein Formular, mit dem Karl Puchner mitteilt,
       dass er der NSDAP beigetreten ist, Mitgliedsnummer 267.450, Beitrittsjahr
       1930. Drei Jahre vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.
       
       Trotz seines bisherigen Wissens – der frühe Beitritt trifft Martin Puchner.
       Zuvor hatte er sich gefragt, ob der Großvater nur als Karrierist die
       Nazi-Ideologie übernommen hatte, ohne daran zu glauben. Nun bleibt
       eigentlich kein Zweifel, er muss ein überzeugter Nazi gewesen sein.
       
       Seiner Karriere im Staatsarchiv hilft das politische Engagement, 1934
       bekommt er direkt nach der Referendarzeit eine Stelle, noch zeitlich
       befristet. In den Begründungen für kleinere Beförderungen weisen
       Vorgesetzte lobend auf den frühen Parteieintritt hin.
       
       ## Plötzlich nur noch Mitläufer
       
       1939 wird Karl Puchner eingezogen, an der Westfront verwundet. Er übernimmt
       Archivaraufgaben in den besetzten Niederlanden. Über den Krieg erzählen die
       Papiere im Staatsarchiv wenig. Mehr über die Zeit danach: Sie zeigen, wie
       Karl Puchner härteren Strafen bei der Entnazifizierung entging. Er will
       jetzt nur noch Mitläufer gewesen sein.
       
       In einer Erklärung vom Juli 1945 schreibt er, er sei der NSDAP erst 1933
       „auf ausdrücklichen Wunsch meines Chefs“ beigetreten. Er habe zwar 1930
       „einer Hitlerversammlung in München als junger Student“ beigewohnt, dort
       auch seine Adresse in eine Liste eingetragen, aber nicht die Mitgliedschaft
       beantragt.
       
       Und die niedrige Mitgliedsnummer? Der Großvater schreibt: „Ich kann mir das
       nur so erklären, dass die Ortsgruppe der Partei 1930 meine Anschrift
       weitergab in dem Bestreben, möglichst viele Mitglieder aufweisen zu
       können.“ Er präsentiert auch einen Mitgliedsantrag von 1933. Was er
       verschweigt: Es war sein zweiter Aufnahmeantrag, seine bisherige Ortsgruppe
       hatte sich zu diesem Zeitpunkt aufgelöst.
       
       Mit Beginn des Kalten Kriegs lässt das Interesse der Amerikaner an einer
       konsequenten Entnazifizierung in ihrer Besatzungszone spürbar nach. Davon
       profitiert auch Karl Puchner. Seine Vorgesetzten setzen sich für ihn ein.
       Im Mai 1948 wird er als „Mitläufer“ eingestuft und zur Zahlung von 600 Mark
       verurteilt. Er erhält seine alte Stelle zurück, bald darauf wird er
       verbeamtet.
       
       ## Die Macht von Archiven
       
       Während er in der Nazizeit für sein Fachgebiet eine herausgehobene
       Bedeutung beanspruchte, weil es so nützlich beim Aufspüren von „Tarnnamen“
       sei, gibt er sich nun demütig. In seinen Arbeiten betont er fortan, dass es
       sich bei der Namensforschung lediglich um eine Hilfswissenschaft handle,
       dass es darum gehe, für andere Historiker die Quellen zu erschließen. Über
       Rotwelsch schreibt er nie mehr.
       
       Was seinen Enkel auch irritiert, als er die Dokumente sichtet: Der
       Großvater war mehr als zehn Jahre lang Direktor dieses Staatsarchivs, er
       hätte leicht Unliebsames aus der eigenen Akte verschwinden lassen können.
       „Dafür war er aber wohl zu sehr Archivar“, sagt Martin Puchner. „Sämtliche
       Familienmitglieder hätten diese Akte einsehen können, aber man macht das
       vielleicht nur, wenn man wie ein Wissenschaftler denkt und arbeitet.“
       
       Die Recherche in der eigenen Familie lässt Martin Puchner die Macht von
       Archiven spüren. Das, was er da erfährt, ändert seine Sicht auf die eigene
       Vergangenheit. Er erlebt aber auch die Grenzen der Akten und alten Texte.
       Manches lässt sich nicht beantworten.
       
       So findet er keinen Beleg, dass die Rotwelsch-Besessenheit des Onkels eine
       direkte Reaktion auf die Vergangenheit des Großvaters war. Briefe des
       Onkels aus den 70ern, in denen er bei einem Verleger für ein Rotwelsch-Buch
       warb, belegen, dass er dies als Beitrag zur [3][Nazi-Aufarbeitung] verstand
       – aber hatte das etwas mit seinem Vater zu tun?
       
       ## Worüber die Dokumente schweigen
       
       Und noch eine Frage beschäftigt Martin Puchner: Wie dachte der Großvater
       nach 1945 über die eigene Vergangenheit? Blieb er ein überzeugter Nazi,
       ohne sich je wieder dazu zu äußern? Oder bereute er sein Handeln? Aus den
       Dokumenten lässt sich das nicht rekonstruieren.
       
       Es gibt noch ein Familienmitglied, das mehr darüber wissen könnte, die
       einzige Tochter des Großvaters, die jüngere Schwester von Martin Puchners
       Onkel und Vater. Doch sie direkt darauf anzusprechen – davor schreckt
       Martin Puchner zurück, als er ihr bei einem Treffen gegenübersitzt.
       
       Er hat selbst erfahren, was das Wissen um die Vergangenheit bewirken kann.
       Hat er das Recht, ihren Blick auf den eigenen Vater und alle Erinnerungen,
       die damit verbunden sind, so grundlegend zu verändern? Er sagt nichts.
       
       Im Sommer kehrt Martin Puchner aus Berlin nach Harvard zurück. Er schickt
       eine E-Mail mit Fotos, auf denen man die Zettelkästen und Stapel mit
       Rotwelsch-Gedichten des Onkels sieht. Sie sind auf einem Tisch in seinem
       Arbeitszimmer verteilt. „Ich bin besonders erfreut, jetzt das gesamte
       Archiv wieder vor mir zu haben“, schreibt er dazu. Es klingt, als spreche
       er von Familienmitgliedern.
       
       6 Sep 2019
       
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       ## AUTOREN
       
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