# taz.de -- Unterwegs in einem überfüllten Zug: Die Welt im Brennglas
       
       > Durchsage des Zugführers: „An alle, die stehen: Bitte verlassen Sie den
       > Zug. Wir fahren sonst nicht weiter.“ Ein Raunen geht durch den Zug. Und
       > jetzt?
       
 (IMG) Bild: Ein wiederkehrendes Phänomen: Überfüllter Zug, hier in Hamburg im Jahr 2014
       
       Ich sitze in einem Abteil. Ich sitze in einem Experiment. Ich stelle mir
       vor, dass nur dieses Abteil durch die Welt gischt. Als wäre da nur der Zug
       und die Welt. Wie in „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, wo es nur
       die Loks und die Insel Lummerland gibt.
       
       Ich sitze schon seit Stunden in diesem Zug, der weit aus dem Süden nach
       Hamburg fährt. Es ist ein Sonntag nach einem Brückentag. Der Zug ist voll.
       Draußen in den Gängen stehen die Menschen. Ich bin froh, einen Platz zu
       haben, in einem Sechser-Abteil, als „Sonderabteil“ in der Leuchtanzeige
       beschriftet. Als wäre dieses Abteil wirklich eine Fantasie.
       
       Im Zug sind die Anzeigen für die Reservierungen ausgefallen. Wir sechs im
       Abteil hoffen, dass niemand zusteigt, der hier reserviert hat. Dann kommt
       die nächste Station: Eine Frau mit riesigem Koffer bleibt vor unserem
       Abteil stehen: „Wagen 6, Platz 86. Sehr schön, das ist meiner.“ Wir alle
       haben den gleichen Gedanken: Hoffentlich ist es nicht mein Platz.
       
       Die Frau neben mir hat die Niete gezogen. 86. Wie in einem Spiel verlässt
       sie die Welt.
       
       Die Passagierin kommt mit dem Koffer rein und schaut auffordernd einen
       jungen Mann an. Er wuchtet ihren Koffer hoch. Sie setzt sich und presst die
       Lippen aufeinander. Ich spüre, wie unsympathisch mir ihre rechthaberische
       Art ist, dass ihr ein Stück dieser Welt gehört, nur weil sie es reserviert
       hat.
       
       Eine Durchsage ertönt nun: „Wir fahren noch nicht los“, sagt der Zugführer.
       „Der Zug ist zu voll. Er stellt ein Sicherheitsrisiko dar. Ich bitte alle
       Reisenden, die stehen, auszusteigen.“
       
       Ein Raunen geht durch die Gänge. Die Menschen schauen erschrocken. Als
       würden sie, wenn sie aussteigen, tatsächlich in ein Lummerland katapultiert
       werden, wo es nichts gibt, außer dem wegfahrenden Zug. Unsere Welt teilt
       sich nun in drei Kategorien: Die Menschen mit Reservierung. Die Menschen
       ohne Reservierung mit einem Platz. Die Menschen in den Gängen – die
       Unerwünschten.
       
       Vor unserem Abteil im Gang steht eine junge Frau. Sie schaut ängstlich. „Wo
       soll ich denn jetzt hin“, sagt sie. Es ist Sonntagnachmittag. Draußen
       regnet es. Niemand steigt aus. Wieder kommt die Durchsage: „An alle, die
       stehen. Bitte verlassen Sie den Zug. Wir fahren sonst nicht weiter.“
       
       „Vielleicht steige ich aus“, überlegt auf einmal eine Frau mit feinem
       Mantel neben mir. „Ich muss eh noch umsteigen. Vielleicht kann ich das ja
       schon von hier. Dann sind wir eine weniger.“ „Seien Sie lieber vorsichtig“,
       sagt die Frau mit der Reservierung. „Wer weiß, ob noch andere Züge fahren.“
       „Was passiert denn, wenn niemand aussteigt?“, frage ich. „Dann rufen sie
       die Polizei. Die zieht die Menschen aus den Gängen“, sagt die Frau mit
       Reservierung.
       
       Zwischen unseren Sitzen im Abteil ist eine Holzablage, breit genug für
       jemanden zum Sitzen. Ich schaue die junge Frau im Gang an: „Hier, setz dich
       doch zu uns rein. Dann musst du nicht raus.“ Die Frau kommt dazu, wir
       rücken zusammen. „Ich war noch nie zu siebt unterwegs“, sagt die Frau mit
       der Reservierung. Sie lacht. Die Stimmung im Abteil entspannt sich.
       Schokolade geht rum. Wir gefallen uns darin, nett zueinander zu sein, als
       hätten wir dem System so eins auswischen können.
       
       Doch der Zug steht. Keiner geht. Und deswegen geht es nicht voran. Als wäre
       diese Szene eine Metapher für große Fragen der Gesellschaft: Wer nimmt
       persönliche Einbuße für das Weiterkommen der Gemeinschaft in Kauf? Wenn nur
       jeder an sich denkt, leiden am Ende alle darunter. Doch alle warten ab.
       Keiner traut sich mehr, auf Toilette zu gehen. Als könnte einem der Platz
       unter dem Hintern weggezogen werden, sobald er nicht mehr beschützt wird.
       
       „Ich gehe“, sagt die Frau im Mantel neben mir plötzlich. Die anderen
       schauen sie ungläubig an, als wäre sie blöd oder etwas naiv.
       
       „Doch“, sagt sie fest. „Ich gehe. Sonst wird es ja nicht besser, sonst geht
       ja gar nichts los.“ Sie betritt den Flur. Sofort schlüpft jemand aus dem
       Gang auf ihren Platz. Ich bin beeindruckt. Die Frau macht deutlich, dass
       jedes Anrecht auch ein willkürliches ist. Dass draußen nicht Lummerland
       ist. Draußen ist das Leben, mit dem wir alle in unserer eigenen kleinen
       Welt verbunden sind.
       
       11 Oct 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
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