# taz.de -- Kolonialgeschichte und Erinnerungskultur: Ein Platz an der Sonne
       
       > Die Kolonialgeschichte kehrt ins Bewusstsein zurück. Mark Terkessidis
       > fragt, was das für das Selbstverständnis der Bundesrepublik bedeutet.
       
 (IMG) Bild: Ein Schädel, der an Namibia zurückgegeben werden soll
       
       Die deutsche Kolonialgeschichte hat in der Erinnerungskultur der
       Bundesrepublik Deutschland lange Zeit kaum eine Rolle gespielt. Nicht nur
       nahm sich der überseeische Besitz des Deutschen Reichs im Vergleich zu dem
       imperialer Großmächte wie Großbritannien und Frankreich um einiges
       bescheidener aus und ging mit dem Vertrag von Versailles am Ende des Ersten
       Weltkriegs schon nach rund 35 Jahren verloren.
       
       Vor allem aber hat Deutschland mit dem Völkermord an den europäischen
       Juden ein Verbrechen singulär monströsen Ausmaßes begangen, neben dem sich
       koloniale Schuldzusammenhänge wie Peanuts auszunehmen scheinen, auch wenn
       man beides nicht gegeneinander aufrechnen kann.
       
       Nach langen Jahren des Verleugnens und Abwiegelns wurde so die Aufarbeitung
       der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und das inzwischen weitgehend
       konsequenzlose Bekenntnis zur historischen Schuld und Verantwortung für
       diese Geschichte zum erinnerungspolitischen Kern des bundesrepublikanischen
       Selbstverständnisses, in dessen Schatten nur wenig Platz blieb für andere
       Unrechtserfahrungen.
       
       Dass die deutsche koloniale und imperiale Geschichte seit einiger Zeit
       sichtbarer wird, verdankt sich nicht nur beharrlicher historischer
       Forschung und aktivistischen Initiativen von unten nebst den von ihnen
       angezettelten Debatten.
       
       Sei es der Kampf um die [1][Anerkennung des Völkermords an den Herero und
       Nama] im heutigen Namibia, die Auseinandersetzung um die Auslöschung
       kolonialherrlicher Straßennamen oder die [2][Debatten um das Humboldt
       Forum], dieses bemerkenswert missratene museale nationale
       Sinnstiftungsprojekt auf dem materiellen Rücken kolonialer Raubkunst und
       anders erworbener ethnografischer Artefakte – der Streit um koloniale und
       imperiale Machtzusammenhänge, transnationale Verstrickungen und
       postkoloniale Erblasten wird im öffentlichen Geschichtsdiskurs
       vernehmbarer.
       
       ## Vielheit an Vergangenheiten
       
       Doch auch die Gegenwart drückt auf unser historisches Selbstverständnis.
       Seit dem Jahr 2000 besitzen hier endlich auch Menschen mit
       Einwanderungsgeschichte Anspruch auf deutsche Staatsbürgerschaft und
       -rechte. Mit diesen Menschen, genauso wie mit denen, die hier Zuflucht
       suchen, wandert eine, die Republik in globale Konflikte verstrickende
       Vielheit an Vergangenheiten ein, die ebenfalls Berücksichtigung und
       Anerkennung in dem finden muss, was sich als erinnerungspolitischer Kitt
       dieser Gesellschaft bezeichnen ließe (im Sinne eines Streitraums unter
       Gleichberechtigten).
       
       Was bedeutet das Lautwerden dieser (post)kolonialen Stimmen der
       Vergangenheit und Gegenwart? Wie muss ein Geschichtsbewusstsein beschaffen
       sein, in dem beide Stimmen Gehör finden? Aber auch: Was ist das spezifisch
       Deutsche des deutschen Kolonialismus und Imperialismus, wo sind wir überall
       gewesen, was haben wir dort im rassistischen Missionierungs- und
       Gewaltsinne angerichtet? Wie spiegelt sich dies in der
       bundesrepublikanischen Einwanderungsgeschichte der Gegenwart?
       
       Aber auch: Was wird aus der Aufarbeitung des und Erinnerung an den
       Holocaust, wenn wir, wie schon Hannah Arendt 1951, seine Elemente und
       Ursprünge auch im imperialen Zeitalter und Bewusstsein verorten? Was, wenn
       wir den pangermanisch imprägnierten deutschen „Drang nach Osten/Lebensraum“
       als großes koloniales und imperiales Projekt Deutschlands benennen und
       dafür im Jetzt Verantwortung übernehmen?
       
       ## Anachronistische moralische Empörung
       
       Es sind solche großen Themen, die der Journalist, Migrations- und
       Rassismusforscher Mark Terkessidis in seinem neuen Buch, „Wessen Erinnerung
       zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ auszuloten versucht.
       Als Historikerin würde man sich zwar mehr analytische Kühle und weniger
       anachronistische moralische Empörung wünschen.
       
       Dennoch: Terkessidis ist ein streitbarer Denkanstoß gelungen, der zeigt,
       wie dringend es im Angesicht unserer Aktualität ist, dass wir endlich eine
       ernsthafte Debatte über die Frage führen, wie das historische Gedächtnis
       einer Gesellschaft beschaffen sein muss, die ihren Migrationshintergrund
       als Vordergrund anerkennt.
       
       16 Oct 2019
       
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