# taz.de -- Berlins koloniale Vergangenheit: „Ein Denkmal ist zu wenig“
       
       > Das Abgeordnetenhaus entwickelt derzeit ein Konzept zu Erinnerung an die
       > deutsche Kolonialvergangenheit. Der Grüne Daniel Wesener über Ziel und
       > Zweck.
       
 (IMG) Bild: Der Grüne Daniel Wesener 2019 im Berliner Abgeordnetenhaus
       
       taz: Herr Wesener, vor Kurzem hat das Abgeordnetenhaus den Senat
       aufgefordert, ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept zu entwickeln, das
       Berlins Rolle als einstige Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs und damit
       seine koloniale Vergangenheit reflektiert. Heißt das: Ein Denkmal muss her? 
       
       Daniel Wesener: Das wäre uns zu wenig. Unser Antrag hat einen sehr viel
       umfassenderen Anspruch. Wir stellen fest, dass die Erinnerung an die
       deutsche Kolonialvergangenheit insgesamt sehr lückenhaft ist. Bei vielen
       hat sich der Eindruck festgesetzt, dass Deutschland eigentlich gar keine
       richtige Kolonialmacht war – oder wenn überhaupt, dann nur für kurze Zeit
       und ohne größere Auswirkungen. Und dass die Dinge, die dabei geschehen
       sind, auch nicht illegitim, sondern im weitesten Sinne einem
       zivilisatorischen Auftrag geschuldet waren. Das heißt, hier fehlt das
       Wissen über das Wesen und die Verbrechen des deutschen Kolonialismus. Weder
       die brutale Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands noch der Völkermord an
       den Herero und Nama ist Teil unserer kollektiven Erinnerung.
       
       Wie wollen Sie das ändern? 
       
       Wir wollen das Wissen um unsere historische Verantwortung wieder bewusst
       machen, ebenso wie die Frage, was das fürs Hier und Heute bedeutet. Was
       sind die Langzeitwirkungen des Kolonialismus? Welche seiner Stereotype und
       Denkweisen haben sich erhalten? Was hat das mit Diskriminierung und
       Rassismus heutzutage zu tun? Es geht uns nicht allein um ein Denkmal, das
       man baut, um ein Thema abzuhaken, sondern um aktive Erinnerungsarbeit, die
       niemals abgeschlossen sein wird – und zwar in allen Bereichen, von der
       Wissenschaft über die Bildung bis zur Gedenkkultur.
       
       Aber ist diese Erinnerungsarbeit Ländersache? 
       
       Ich höre oft das Argument: Das hat doch gar nichts mit Berlin zu tun, die
       Erinnerung und Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus fällt doch nicht in
       unsere Zuständigkeit als Bundesland. Nein, andersrum wird ein Schuh daraus:
       Jeder öffentliche Akteur muss im Rahmen seiner Zuständigkeiten einen Teil
       beitragen. Berlin ist eine Stadt, die mit der deutschen
       Kolonialvergangenheit in besonderer Weise verknüpft ist. Vor 135 Jahren
       fand hier die sogenannte Kongokonferenz statt. Wir haben viele solcher Orte
       in Berlin, wo deutsche Kolonialgeschichte geschrieben und ihre Verbrechen
       verantwortet wurden.
       
       Es gibt auch Bereiche, die in der Verantwortung des Landes liegen, etwa
       Bildung. 
       
       Genau. Im bundesdeutschen Föderalismus liegt die Zuständigkeit für Bildung,
       Schulen und Hochschulen und damit auch für Lehrinhalte und
       Forschungsschwerpunkte bei den Ländern. Aber auch die Stiftung Preußischer
       Kulturbesitz und ihre großen Sammlungsbestände mit kolonialer Raubkunst
       werden nicht alleine von der Kulturstaatsministerin verantwortet – auch die
       Länder sind an der Finanzierung und im Stiftungsrat beteiligt.
       
       Was könnte Berlin da besser machen als der Bund – oder auch als andere
       deutsche Städte? 
       
       Berlin konnte bislang nicht für sich in Anspruch nehmen, vorneweg zu sein.
       Das wollen wir mit einem gesamtstädtischen postkolonialen Aufarbeitungs-
       und Erinnerungskonzept ändern.
       
       Wie weit sind denn die Museen in Berlin? 
       
       Es wäre falsch, der Berliner Museumslandschaft pauschal vorzuwerfen, dass
       gar nichts passiert. Aber es tut sich viel zu wenig, auch weil die
       Ressourcen fehlen. Und bei einigen Häusern ist und bleibt die Bereitschaft
       zur Dekolonisierung eher begrenzt. Es fällt gerade ethnologischen Museen
       nach wie vor sehr schwer zu reflektieren, in welcher Tradition sie stehen.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Zum Beispiel bei besagter Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Der Name ist
       Programm: Dort redet man in der ganzen Raubkunst-Debatte ja nicht zufällig
       lieber über Zirkulation …
       
       … ein Begriff, der die Frage nach den Besitzrechten umgehen will … 
       
       … als über Restitution.
       
       Haben diese Leute Angst vor leeren Museen? 
       
       Es gibt andere, sehr langlebige Narrative, die bis heute benutzt werden, um
       das Recht von Herkunftsgesellschaften auf Rückgabe von Kulturgütern aus
       kolonialen Kontexten in Zweifel zu ziehen. Dazu gehört etwa die Erzählung,
       heutige afrikanische Gesellschaften wären nicht dazu in der Lage,
       Kunstobjekte adäquat auszustellen. Unter der Hand wird auch suggeriert,
       diese würden dann illegal verkauft und endgültig verlorengehen. Es wird
       auch gerne angeführt, dass die Herkunftsgesellschaften oder ihre
       staatlichen Vertreter bis dato ja gar keine offiziellen Restitutionsanträge
       eingereicht hätten und so weiter und so fort. Das heißt: Wir haben es mit
       diversen Abwehrmechanismen und falschen Argumenten zu tun, die alle einfach
       zu widerlegen sind.
       
       Ja? 
       
       Natürlich. Wie sollen Herkunftsgesellschaften die Rückgabe von Kulturgütern
       fordern, wenn sie nur in den seltensten Fällen wissen, wo welche dieser
       Objekte in europäischen Depots lagern, etwa weil sie keinen Einblick in die
       Inventarlisten haben? Auch deshalb braucht es eine Umkehr der Beweislast.
       Und natürlich gibt es Museen, darunter mehrere Neubauprojekte in
       afrikanischen Ländern mit modernster Ausstellungstechnik. Was ich
       persönlich bei den Vorbehalten gegen Restitutionen am wenigsten verstehe,
       ist, dass wir es in der Regel ja gar nicht mit herausgehobenen Artefakten
       zu tun haben, die in Dauerausstellungen gezeigt werden. Es handelt sich um
       Objekte, die zu den über 90 Prozent Sammlungsbestand gehören, den eine
       Öffentlichkeit noch nie zu Gesicht bekommen hat. Etliche Museen geben ja
       selbst an, dass sie gar nicht genau wissen, was alles in ihren Depots
       schlummert.
       
       Wie sieht es beim Medizinhistorischen Museum der Charité aus, wo ja in
       letzter Zeit einige Rückgaben durch die Presse gingen? 
       
       Auch bei der überfälligen Rückgabe menschlicher Gebeine sind wir von einer
       neuen Qualität in der Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften noch
       weit entfernt. Jede der bisherigen Rückgaben wurde von Protesten der
       Nachkommen und der Zivilgesellschaft begleitet – ich finde, zu Recht. Das
       zeigt insbesondere der Fall Namibia: Die Bundesregierung befürwortet
       offiziell zwar solche Rückführungen, weigert sich aber nach wie vor, die
       deutsche Verantwortung für den Völkermord anzuerkennen – ganz zu schweigen
       von der Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Das ist doch bigott.
       
       Liegt diese Langsamkeit auch an der Geschichte der deutschen Ethnologie,
       die sich eher als Retterin sieht? 
       
       Der fällt es wie vielen wissenschaftlichen Disziplinen und Institutionen
       sehr schwer, mit Kritik an ihrer Identität und Geschichte adäquat
       umzugehen. Die deutsche Ethnologie ist heute sicherlich nicht mehr so
       eurozentrisch wie vor 50 Jahren, aber eben auch nicht postkolonial. Wäre
       sie es, müsste sie sich als Fach wohl sehr grundsätzlich infrage stellen.
       
       Es heißt, wir können doch froh sein, dass Forscher wie Alexander von
       Humboldt unterwegs gewesen sind, weil sonst nichts von dem, was er
       gesammelt hat, bewahrt worden wäre. 
       
       Wenn dem so ist, dann ist es auch das Recht der Herkunftsgesellschaften,
       dass dieser Teil ihres kulturellen Erbes vor Ort gezeigt werden kann. Es
       gibt Schätzungen, dass ein Großteil des Kulturerbes des afrikanischen
       Kontinents nicht mehr dort, sondern in europäischen und US-amerikanischen
       Sammlungen bewahrt wird. Man stelle sich vor, das würde uns, also der
       Bundesrepublik, so ergehen: Wir würden das sicherlich als einen
       unerträglichen Zustand empfinden. Die regelmäßigen Diskussionen um deutsche
       Kunstschätze, die heute in der Eremitage in St. Petersburg lagern, machen
       deutlich, dass wir in dieser Frage mit zweierlei Maß messen.
       
       Könnte Berlin auch deshalb Vorreiter in Sachen Aufarbeitung von
       Kolonialismus werden, weil es hier viele zivilgesellschaftliche Initiativen
       gibt, die sich schon lang mit dem Thema beschäftigen und viel Knowhow
       haben? 
       
       Ja. Wir vollziehen in Politik und Gesellschaft schmerzhaft nach, was diese
       Initiativen angestoßen haben: sei es die Forderung nach der Änderung von
       Straßennamen, mit denen in Berlin bis heute Kolonialverbrecher geehrt
       werden, sei es die Kritik am Humboldt Forum. Es kann nicht sein, dass
       überwiegend weiße Gesellschaften für alle definieren, was Kolonialismus ist
       und wie daran erinnert werden soll.
       
       Leidet auch das Humboldt Forum unter diesem Konstruktionsfehler? 
       
       Das Humboldt Forum hat in jeder Hinsicht ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die
       postkoloniale Thematik war ja anfangs gar nicht Teil dieses Großprojekts,
       sondern wurde ihm erst durch die Kritik von außen aufgezwungen.
       Sinnbildlich für dieses Problem steht der Bau mit seiner Fassade. Ich sehe
       bis heute nicht, wie man Globalgeschichte aus einer postkolonialen
       Perspektive in der Replik eines barocken Hohenzollern-Schlosses
       thematisieren kann; erst recht nicht angesichts der ungeklärten Provenienz
       und Besitzverhältnisse vieler Objekte aus kolonialen Kontexten, die dort
       ausgestellt werden sollen.
       
       Was halten Sie von Stimmen afrikanischer Historiker, die sagen, Europa
       habe kein Recht auf Rückgabe? 
       
       Europa hätte kein Recht, Restitutionen als Ablasshandel zu betreiben nach
       dem Motto: alles in große Kisten verpacken, vor Ort abwerfen und gut ist.
       Aber ich kenne keine Rückgabe-Befürworter in Afrika oder Europa, die sich
       das so einfach machen würden.
       
       Trotzdem sprechen derzeit mehr Menschen über Restitution als beispielsweise
       über die ungerechten Handelsbeziehungen zwischen Europa und seinen
       ehemaligen Kolonien. 
       
       Der mediale Fokus auf die Rückgabe-Thematik ist tatsächlich ein Problem. Es
       hat offenbar ein größeres mediales Erregungspotenzial zu suggerieren, dass
       man uns die Nofretete weg nehmen will, als zu hinterfragen, warum die
       deutsche Kolonialvergangenheit in den schulischen Lehrplänen oder im
       öffentlichen Gedenken so gut wie keine Rolle spielt. Deshalb machen wir in
       unserem Antrag auch deutlich, dass es bei der Aufarbeitung und Erinnerung
       des Kolonialismus um sehr viel mehr geht.
       
       Haben Sie nie das Gefühl, mit kleiner Symbolpolitik gegen große Windmühlen
       zu kämpfen? 
       
       Wir begnügen uns ja nicht mit reiner Symbolik. Aber ich finde auch nicht,
       dass Symbolpolitik zwingend etwas Schlechtes ist. Eine offizielle
       Entschuldigung der Bundesregierung bei den Herero und Nama wäre sicherlich
       nur ein erster kleiner Schritt – aber mehr als in den letzten hundert
       Jahren passiert ist und damit ein Anfang.
       
       14 Oct 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
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