# taz.de -- Politische Krisen in Südamerika: Der Krawallkontinent
       
       > Lateinamerika wird zur Zeit von Protesten erschüttert. Was sagen die
       > Bilder von den brennenden Barrikaden? Und wie hängen sie zusammen? Eine
       > Analyse.
       
 (IMG) Bild: Staat gegen Bürger: Demonstranten treffen in Valparaiso, Chile, auf Sicherheitskräfte
       
       BERLIN taz | Brennende Barrikaden, Tränengas, wütende Menschen auf der
       Straße, prügelnde Polizisten. Die Bilder gleichen sich, die in den letzten
       zwei Wochen aus Ecuador, Bolivien und Chile um die Welt gegangen sind. Es
       ist eine Zeit der Umbrüche in Lateinamerika, und das liegt nur zum kleinen
       Teil daran, dass 2019 das zweite Super-Wahljahr des Kontinents in Folge
       ist.
       
       Auch die Pendeltheorie – auf den Neoliberalismus der 1990er folgte der
       „Linksruck“ der 2000er Jahre, in den letzten fünf Jahren abgelöst durch
       einen neuen Rechtstrend – erklärt nicht, was sich auf dem Subkontinent
       wirklich abspielt.
       
       In Ecuador sitzt die Enttäuschung darüber tief, dass mit Lenín Moreno
       eigentlich ein Mann gewählt wurde, der im Kern versprach, die Politik
       seines Vorgängers Rafael Correa fortzusetzen, das aber weniger
       intransparent, weniger autoritär, kurz: demokratischer. Einmal an der
       Macht, orientierte sich der neue Staatschef jedoch anders.
       
       „Als Linker gewählt und an der Macht rechts abgebogen“, lautet die
       Standardkritik an Moreno. Die Ankündigung, die seit vielen Jahrzehnten
       bestehenden Subventionen für Kraftstoff zu streichen, war der Auslöser für
       die größten Demonstrationen und die heftigsten Auseinandersetzungen, die
       Ecuador seit vielen Jahren erlebt hat. Es ist dem noch immer hohen
       Organisationsgrad der Indigenen zu verdanken, dass sie binnen Tagen mit
       Moreno [1][einen Kompromiss aushandeln konnten, der die Unruhen vorerst
       beendete.]
       
       Doch der Konflikt ist damit nicht gelöst. Dass die Regierung in den
       Folgetagen nichts Besseres zu tun hatte, als erklärte Gegner mit einer
       Verhaftungswelle zu überziehen, dürfte nicht geholfen haben.
       
       ## Was „Links“ eigentlich bedeutet, hat sich verändert
       
       Gerade Ecuador aber zeigt, wie sehr sich verschoben hat, was in
       Lateinamerika eigentlich als „links“ bezeichnet wird. Rafael Correa
       inszenierte sich international gern als Linker, agierte im Bündnis mit
       Venezuela, gewährte Wikileaks-Gründer Julian Assange Asyl in Ecuadors
       Botschaft in London. Um aber seine Sozialpolitik zu finanzieren – und den
       Staatsapparat mit Gefolgsleuten aufzublähen –, setzte er strikt auf
       maximale Rohstoffausbeutung und hebelte demokratische Mechanismen aus, als
       es um die Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark ging.
       
       Damit ist Correa nicht allein. Lateinamerikas Rechtsregierungen, etwa die
       kolumbianische, auch unter Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos,
       setzen von jeher auf die Ausbeutung der Rohstoffe. Seit Jahrzehnten
       verstößt Kolumbien gegen die eigene Verfassung, die indigenen und
       afrokolumbianischen Gemeinden kollektiven Landbesitz zuspricht.
       
       Stattdessen werden die Menschen mit Gewalt vertrieben, ihre Ländereien für
       Viehzucht, Ölpalmenplantagen oder Bergbau in Beschlag genommen. Wer sich
       wehrt, riskiert sein Leben. Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair
       Bolsonaro geht noch weiter, indem er ganz offiziell jegliche Schutzrechte
       etwa für den Amazonas-Regenwald außer Kraft setzen will.
       
       Und: Wo Rechte regieren, bleiben die Gewinne aus den Unternehmen in
       privater Hand und werden oft an den Steuern vorbei außer Landes geschafft.
       Die Panama-Papers sprachen da auch für Lateinamerika Bände.
       
       ## Venezolanische Verhältnisse
       
       Aber auch keine der Linksregierungen der 2000er Jahre hat es geschafft, die
       meisten nicht einmal versucht, das Wirtschaftsmodell ihrer Länder
       grundsätzlich in Frage zu stellen oder umzubauen. Der Extremfall war sicher
       Venezuela, das Land mit den höchsten Rohölvorkommen weltweit: Hugo Chávez
       schaffte es, die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA unter vollständige
       Kontrolle zu bringen – und schöpfte deren Gewinne so radikal ab, dass nach
       wenigen Jahren die Förderung zusammenbrach, weil nichts mehr investiert
       wurde.
       
       Mit dem Geld finanzierte er seine Sozialprogramme, baute Parallelstrukturen
       zu den staatlichen Institutionen. Er kaufte internationale politische
       Loyalitäten, indem er billiges Erdöl an befreundete Staaten wie Kuba und
       Nicaragua lieferte. Venezuela war schon immer abhängig vom Öl – aber unter
       Chávez erreichte das ungekannte Dimensionen. Venezuela produzierte nichts
       mehr, importierte alles.
       
       In dem Moment, als die Ölpreise fielen, war Venezuelas „Sozialismus des 21.
       Jahrhunderts“ ökonomisch am Ende. Auf die sinkende Zustimmung zur
       Regierung, die sich in der Niederlage bei den Parlamentswahlen Ende 2015
       manifestierte, reagierte Chávez’ Nachfolger mit der Entmachtung des
       Parlamentes. Die politische Krise dauert bis heute an. Wenn rechte
       Populisten den Menschen Angst vor Linken machen wollen, warnen sie weltweit
       vor „venezolanischen Verhältnissen“.
       
       Wenige Jahre nach Chávez war Boliviens Präsident Evo Morales an die Macht
       gekommen. Vorangegangen war eine Zeit des Aufbaus zivilgesellschaftlicher
       und gewerkschaftlicher Strukturen vor allem im indigenen Hochland
       Boliviens. Der erste indigene Präsident eines mehrheitlich von Indigenen
       bewohnten Landes – das war ein Hoffnungsschimmer. Und tatsächlich leitete
       Morales Reformen ein, die das Land grundlegend verändert haben.
       
       ## Es geht um 30 Jahre, nicht um 30 Pesos
       
       Im Außenhandel hängt auch Bolivien vom Rohstoffexport ab, vor allem von Gas
       und Mineralien. Diese Sektoren hat Morales so weit unter staatliche
       Kontrolle gebracht, dass ein Großteil der Gewinne im Land bleibt. Daneben
       ist die Wirtschaft der kleinen und mittleren Produzenten und Händler die
       zweite Säule der Ökonomie. Die Armut ist gesunken, so etwas wie ein
       Sozialstaat entstanden.
       
       Nur: Auch Morales kommt mit demokratischen Spielregeln nicht zurande. Ob es
       bei der Wahl vom vergangenen Sonntag nun [2][organisierten Wahlbetrug gab –
       wonach es aussieht – oder nicht]: Morales hätte gar nicht erst wieder
       kandidieren dürfen. Dass er mithilfe der ihm gewogenen Justiz das
       verfassungsrechtliche Verbot der erneuten Wiederwahl aushebeln ließ und
       damit ganz offen den im Verfassungsreferendum von 2016 ausgedrückten
       Mehrheitswillen ignorierte, ist eine Todsünde gegen die Demokratie, gegen
       stabile rechtsstaatliche Institutionen. Irgendwann wird Morales weg sein,
       dann wird sich das rächen.
       
       Das Gegenbeispiel zu den linken Regierungsversuchen ist Chile. Seit dem
       Ende der Pinochet-Diktatur 1990 wurden mehrfach Regierungen gewählt, die
       mit dem Versprechen antraten, die große soziale Ungleichheit des im Prinzip
       reichen Landes zu bekämpfen. Vergeblich. Am von der Diktatur eingeführten
       strikt neoliberalen Modell hat sich nichts geändert. Selbst die Verfassung
       der Diktatur konnte bis heute nicht erneuert werden.
       
       Der Spruch der Demonstrierenden auf den Straßen von Santiago oder
       Valparaíso, „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre!“, meint genau
       das. Nicht die Anhebung der U-Bahn-Preise um 30 Pesos, die die Proteste
       ausgelöst hatte und inzwischen zurückgenommen ist, macht die
       Unzufriedenheit aus. Sondern [3][ein System, in dem sich einige wenige
       schamlos bereichern, die Mehrheit aber unter immer höheren
       Lebenshaltungskosten leidet.]
       
       Dass der rechte Präsident Sebastián Piñera zunächst einen „Krieg“ ausrief,
       den Ausnahmezustand erklärte und Polizei und Militär gegen die
       Demonstrierenden hetzte, ist geradezu das Sinnbild dafür, dass die
       wichtigste Hinterlassenschaft der Diktatur fortbesteht – und im Zweifel
       noch immer brutal verteidigt wird.
       
       Was also sagen die Bilder der brennenden Barrikaden aus Chile, Ecuador und
       Bolivien nun wirklich? Erstens krankt Lateinamerika wie schon seit vielen
       Jahrzehnten an zu einseitig auf den Rohstoffexport ausgerichteten
       Wirtschaftsmodellen. Zweitens hat es die Redemokratisierung seit dem Ende
       der Militärdiktaturen nicht vermocht, stabile Institutionen zu schaffen,
       die sowohl gegen Ausplünderung durch Korruption wie auch gegen autoritäres
       Aushebeln der Gewaltenteilung gefeit wären. Und drittens: Es gibt
       Gegenwehr. Die Menschen haben noch nicht aufgegeben.
       
       25 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Pickert
       
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