# taz.de -- 2019 – Jahr der Proteste: Beharrlicher Demonstrant
       
       > In Beirut stehen 2019 Hunderttausende gegen Korruption und
       > Vetternwirtschaft auf. Einer von ihnen ist der arbeitslose Grafikdesigner
       > Hady Ezzedin.
       
 (IMG) Bild: Nicht nur Webdesigner, Demonstrant und Olivenbauer, sondern auch Maler: Hady Ezzedin
       
       BEIRUT taz | Hady Ezzedin steht auf einem Gehweg und atmet tief ein und
       wieder aus. Montags, mittwochs und freitags macht er mit befreundeten
       Aktivist*innen um 10 Uhr morgens Yoga auf den Straßen im Herzen der Stadt.
       Statt Sportklamotten trägt er Jeans und eine Strickjacke, als Yogamatte
       benutzt Ezzedin seinen Schlafsack. Der dient ihm nachts als Decke, denn
       seit zehn Wochen schläft er in einem weißen Einpersonenzelt auf einer
       Kunstrasenfläche in der Innenstadt.
       
       Bisher war es undenkbar, dass Menschen im schicken Downtown Beiruts
       Wasserpfeifen auf Plastikstühlen rauchen, Fußball spielen oder musizieren.
       Doch am 17. Oktober 2019 versammelten sich Tausende Menschen um den
       zentralen Märtyrerplatz, als bekannt wurde, dass eine Steuer auf die
       Nutzung des Nachrichtendienstes WhatsApp erhoben werden soll. Seitdem
       protestieren die Libanes*innen gegen die Politik, die zu Lasten der Armen
       geht und die Reichen bevorzugt. Im Libanon gehen die politische und
       wirtschaftliche Elite Hand in Hand; die neoliberale Politik bereichert
       Bankiers, Bauunternehmer*innen und Politiker*innen gleichermaßen.
       
       „Ich habe beschlossen zu protestieren, weil dieses korrupte System alles
       zerstört hat“, sagt Ezzedin. „Die finanzielle Lage des Landes ist immer
       schlechter geworden, die Menschen werden ärmer, seit dem Ende des
       Bürgerkrieges, seit 30 Jahren, sind die alten Warlords in
       Führungspositionen. Sie kontrollieren alles: die Universitäten, die Medien
       und Banken. Sie machen schlechte Geschäfte und stehlen dem Land Geld.“
       
       Der 34-Jährige Hady Ezzedin ist studierter Grafikdesigner. Doch einen Job
       oder eine Krankenversicherung hat er nicht. „Ich habe viele Jahre ohne
       Arbeit verbracht. Ich hatte temporäre Jobs, wie Oliven zu pflücken. Mein
       Cousin hat eine Plantage mit Olivenbäumen und ich habe ihm geholfen. Drei
       Wochen bevor die Revolution begann, habe ich in einem Supermarkt als Packer
       gearbeitet. Aber ohne Lohn, ich habe nur Trinkgeld bekommen, von den
       Menschen, denen ich ihren Einkauf zum Auto gebracht habe. Dann wollten sie,
       dass ich noch mehr Stunden ohne Lohn arbeite.“ Ezzedin ging zum
       Arbeitsministerium, beschwerte sich. „Ich habe ihnen gesagt, dass das
       ungerecht ist. Aber sie haben nichts gemacht. Also habe ich gekündigt.“
       
       ## Vom Olivenflücker zum Dauerdemonstranten
       
       Er lebt in Abbasiye, einem kleinen Ort im Südlibanon. „Die ersten Tage war
       es im Süden sehr gewalttätig. Anhänger von Nabih Berri, dem korrupten
       Parlamentssprecher, attackierten Männer und Frauen und schlugen sie mit
       Waffen. Ich war in Abbasiye und habe Oliven gepflückt, da habe ich Schüsse
       gehört. Ich habe beschlossen, nach Beirut zu gehen, weil Beirut wichtiger
       ist, denn es ist die Hauptstadt.“
       
       Drei Tage arbeitete Ezzedin weiter auf dem Feld seines Cousins. „Mein
       Cousin ist 24 und er unterstützt die Revolution. Aber er hat beschlossen,
       im Ort zu bleiben und nicht zu protestieren. Ich habe versucht, ihn zu
       überreden: Komm, wir gehen gemeinsam. Aber er wollte nicht.“
       
       Am 20. Oktober, am vierten Tag der Proteste, geht Hady Ezzedin nach Beirut.
       „Seitdem bin ich hier. Ich kam ohne jegliche Intention. In den ersten zwei
       Wochen sah es so aus, als ob der Wandel sehr nah ist. Knapp eine Millionen
       Menschen kamen hier in dieses Areal.“
       
       Anstatt bei Bekannten schläft er auf dem Kunstrasen neben der
       Märtyrerstatue, die an die Gefallenen im ersten Weltkrieg erinnert. „Ich
       bin ohne Wechselklamotten gekommen und habe letztendlich drei Nächte so
       verbracht. Dann haben Menschen ein Camp gebaut, ich habe Leute getroffen
       und wir sind Freunde geworden.“ Die Aktivist*innen schlafen auf
       Schaumstoffmatratzen in Zelten rund um die Statue und neben dem Grab des
       ehemaligen Ministerpräsidenten. „Die Zelte sind Spenden. Wir sind knapp 50
       Menschen. Wir haben beschlossen, hier zu bleiben und niemals
       zurückzugehen.“ Die Proteste sind zu seinem Job geworden, Ezzedin hat kein
       Einkommen. „Es gibt keinen Grund für mich, Geld auszugeben. Auf dem
       Parkplatz hier gibt es eine Küche, dort teilen Freiwillige jeden Tag Essen
       aus.“
       
       Der Parkplatz, die Betonplatten, der Kunstrasen um die Märtyrerstatue – sie
       sind zu seinem Mikrokosmos geworden. „Wir möchten der Regierung zeigen,
       dass wir hier bleiben. In diesem Areal gehören viele öffentliche Plätze der
       Regierung, in der Nähe sind das Regierungsgebäude und das Parlament. Wir
       wollen Druck ausüben und uns die Plätze zurückholen.“
       
       Über eine WhatsApp-Gruppe informiert sich Ezzedin über Aktionen. Mal
       begleitet er Proteste von Jurist*innen, die für eine unabhängige Justiz auf
       die Straße gehen oder reist in die Berge, um die Rodung von Bäumen für ein
       Damm-Projekt aufzuhalten. Doch Hady Ezzedin stellt sich nicht vor die
       Kameras, er ruft nicht in ein Megafon oder steht bei Märschen in der ersten
       Reihe. Er schlägt nicht mit einem Löffel auf einen Topf, um Lärm zu machen
       oder wirft Steine. Seine Form des Protests ist Beharrlichkeit.
       
       Am ersten November steht er mit Pinsel und Farbeimern vor einer Betonwand
       neben der Märtyrerstatue. Ezzedin malt einen Fluss umringt von Bäumen, auf
       einem Berg die libanesische Nationalflagge, rot-weiß mit Zeder, darüber
       geht die Sonne auf. „Zu malen entspannt mich. Zu Hause male ich auf
       Leinwand, aber im Südlibanon interessiert sich niemand für Malerei.“
       
       ## Der Konflikt mit der Familie
       
       Der 34-Jährige hat drei Brüder und zwei Schwestern, lebt mit Mutter,
       Schwester und einem Bruder zusammen. Der Vater ist verstorben. „Meine
       Mutter glaubt an die Regierung, sie mag diesen Typ, der heißt Hassan
       Nasrallah.“ Nasrallah ist Generalsekretär der schiitischen Hisbollah, die
       an der Regierung beteiligt ist und sich mit einer eigenen Miliz als
       Widerstandsbewegung gegen Israel darstellt. „Meine Mutter glaubt, Nasrallah
       ist einer von den Guten. Ich habe ihr gesagt: Nein! Er ist auch korrupt, er
       lügt und sollte die Regierung verlassen. Selbst meine Brüder und meine
       Schwester unterstützen die Hisbollah. Es macht mich wütend und traurig,
       aber ich möchte nicht mit ihnen streiten.“
       
       Als Ezzedin noch jünger war, ging er in die Moschee, um zu beten und war
       Mitglied in der Pfadfindergruppe der Hisbollah. In seinem Pass ist er als
       Schiit ausgewiesen, aber gläubig ist er nicht. „Das ist eine große Lüge.
       Ich glaube nicht daran, Schiit, Sunnit, Druse oder Christ zu sein. Das ist
       ein korruptes System, von Geburt an wird man einer religiösen Gruppe
       zugeordnet. Wir sind doch alle Libanesen. Ich respektiere Leute, die
       gläubig sind. Aber lasst die Religion in der Kirche oder Moschee.“
       
       Ezzedin war noch ein junger Man, da beschloss er, nicht mehr zu den
       Pfadfindern zu gehen. „Ich bin ausgetreten, denn in der Pfadfindergruppe
       bereiten sie dich darauf vor, Mitglied in der Hisbollah zu werden. Ich habe
       aufgehört, in die Moschee zu gehen und dieser Kultur anzugehören. Ich habe
       gefühlt, dass es nicht meine eigene Wahl gewesen ist. Ich bin ruhig, habe
       nicht diskutiert oder gekämpft. Aber ich war wütend und verärgert und
       traurig. Hier ist es fast schon normal, sich depressiv zu fühlen. Viele
       Menschen nehmen Medikamente dagegen, reden aber nicht darüber. Auch ich bin
       depressiv geworden, fühlte mich ängstlich und blieb zu Hause.“
       
       Mit seiner Mutter redet er nicht über seine Gefühle. „Sie glaubt, die
       Hisbollah verteidigt den Libanon im Kampf gegen Israel. Ich glaube, die
       libanesische Armee sollte uns verteidigen, nicht die Milizen der Hisbollah.
       Vergangenes Jahr habe ich ihr gesagt, sie sollte nicht wählen gehen und sie
       war überzeugt. Aber dann hat Hassan Nasrallah im Fernsehen gesprochen und
       sie ist doch gegangen und hat ihn gewählt. Sie lebt noch in der Mentalität
       aus den Zeiten des Bürgerkriegs, nach der Christen und Muslime sich hassen.
       Meine Tante wurde im Krieg von Christen getötet. Meine Mutter erinnert sich
       daran, sie lebt in der Vergangenheit, aber ich gehöre einer neuen
       Generation an. Ich lebe im Hier und Jetzt.“
       
       ## Die Mission ist noch nicht erfüllt
       
       Das Malen, Tai Chi und Yoga helfen ihm, mit negativen Gefühlen umzugehen.
       Auf dem Platz in Beirut hat Hady Ezzedin Menschen gefunden, denen er sich
       zugehörig fühlt. Doch als unverheirateter Mann im Libanon wird von ihm
       erwartet, sich um seine Mutter zu kümmern. Stattdessen campt er 80
       Kilometer entfernt in der Hauptstadt. „Meine Mutter ist etwas enttäuscht
       und traurig, weil ich die Heimat verlassen habe. Meine Schwester ruft mich
       oft an und sagt: Hady, komm zurück nach Hause. Du hast deine Mission
       erfüllt. Aber ich antworte: Nein, meine Schwester. Das ist meine
       Entscheidung und ich bleibe. Ich sage ihr: Wenn ich jetzt zurückgehe, wie
       kann sich etwas verändern?“
       
       Als Antwort auf die Proteste sind Ministerpräsident Saad Hariri und seine
       Regierung Ende Oktober zurückgetreten. Neuer Chef einer Übergangsregierung,
       die Neuwahlen vorbereiten soll, ist Hassan Diab, ein Universitätsprofessor
       und ehemaliger Bildungsminister. Für Hady Ezzedin ist das nicht genug.
       
       Er sagt entschlossen: „Ich glaube, es wird Jahre brauchen, bis wir einen
       echten Wandel sehen. Aber Aufgeben und nach Hause gehen? Nein. Ich werde
       hier bleiben, bis das Ziel erreicht ist: das ganze System abzuschaffen. Ich
       bleibe, bis wir eine neue Regierung haben, die uns Protestierende
       repräsentiert.“
       
       31 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Neumann
       
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