# taz.de -- Satire auf den Brexit: Knapp neben der Wirklichkeit
       
       > Ist Großbritannien so zu retten? Der Premierminister versucht es in „Die
       > Kakerlake“, einem Roman von Ian McEwan.
       
 (IMG) Bild: Das Königreich Absurdistan ist schwer zu überzeichnen. Johnson bei einer Wahlkampfveranstaltung
       
       Ian McEwan hat harte Konkurrenz, wenn es darum geht, aus dem Brexit eine
       Satire zu machen. Denn die erfolgreichste Sitcom lieferte das britische
       Unterhaus in diesem Jahr selbst. Das Schauspiel um Serienheld [1][John
       Bercow] („Oorrderr!“), Boris Johnson in seiner Rolle als Schurke und Philip
       Lee als Game Changer brach beim Sender BBC Parliament Rekorde; auch
       international hatte das „real-life House of Cards“ (The Guardian) viele
       Fans.
       
       Der britische Erfolgsautor [2][McEwan] („Abbitte“, „Saturday“) fährt in
       seinem satirischen Kurzroman „Die Kakerlake“ folgerichtig eine Menge
       Personal, Ideen und Szenarien auf, um das kaum zu Überhöhende zu überhöhen.
       Sein Protagonist ist Jim Sams, eine Kakerlake, die eines Morgens in der
       Downing Street 10 erwacht und sich in eine „ungeheure Kreatur“ verwandelt
       wiederfindet. Er hat eine Metamorphose zum Menschen vollzogen, und er ist
       kein Geringerer als Premierminister Großbritanniens.
       
       Sams kann kaum glauben, dass er nun dort das Sagen hat, wo er zuvor noch
       fasziniert als kleine Schabe hinter der Täfelung gelauscht hatte: „Ein wahr
       gewordener Traum wäre das, in dieser wöchentlichen Operette der primo uomo
       zu sein.“
       
       Jim Sams, natürlich als ein Wiederkehrer von Kafkas Gregor Samsa angelegt,
       gewöhnt sich schnell an die neue Gestalt und die neue Aufgabe. Er soll das
       britische Parlament und die Bevölkerung hinter sich bringen, um sie auf den
       „Reversalismus“-Kurs einzuschwören. Reversalismus, das ist das von Sams’
       Partei angestrebte neue Wirtschaftssystem, bei dem der Geldfluss umgekehrt
       wird. Es wird wie folgt beschrieben: Wer arbeiten geht, muss dafür
       bezahlen, wer hingegen einkauft, wird dafür entlohnt.
       
       ## Gute Jobs sind teuer
       
       Bargeld zu horten ist gesetzlich verboten, und was man aufs Bankkonto
       einzahlt, wird mit Negativzinsen belegt. Man soll dazu getrieben werden,
       möglichst schnell in einen guten Job zu investieren, aber gute Jobs sind
       teuer. Selbst der amerikanische Präsident Archie Tupper zeigt sich von dem
       lange verschmähten ökonomischen Konzept angetan!
       
       Auf dieser Grundlage entwirft McEwan einen sehr kurzweiligen Roman über den
       Kampf zwischen „Vordrehern“ (Reversalismus-Gegnern) und „Rückdrehern“
       (Reversalisten), der auf die alles entscheidende Wahl am 19. Dezember
       zusteuert. Wie bei dem Wahldatum liegt die Fiktion auch bei anderen Details
       nur knapp neben der Wirklichkeit, Sams und Tupper sind nah an den realen
       Vorbildern Boris Johnson und Trump gezeichnet.
       
       Nur einen MeToo-Skandal gab es im Wahlkampf bislang noch nicht, den strickt
       McEwan hier um die Nordirische Ministerin Jane Fish, die sich von Sams dazu
       hinreißen lässt, mit einem erfundenen Missbrauchsvorwurf seinen
       Gegenspieler, Außenminister Benedict St John, auszuschalten.
       
       Es gibt noch einige weitere hübsche Volten, die McEwan auf gerade mal 134
       Seiten ausbreitet, an Findungsreichtum und Finesse mangelt es ihm nicht. Es
       sind schöne kleine Spitzen drin, mit denen er die Gegenwart kommentiert,
       zum Beispiel zu öffentlichen Vorverurteilungen bei MeToo-Fällen oder warum
       Trumps (beziehungsweise Archie Tuppers) Tweets so faszinieren. „Reine Lyrik
       war das, eine solche Bedeutungsdichte, aufs Eleganteste gepaart mit
       leichtfüßiger Loslösung von allen Details“, denkt der neidische Premier Jim
       Sams.
       
       ## Die Reversalismus-Hymne
       
       Mit der grotesken Reversalismus-Theorie macht sich McEwan gekonnt über die
       Absurdität des Brexits und die Rückwärtsgewandtheit des Protektionismus
       lustig, da gelingen ihm einige Lacher, zum Beispiel, als Sams und seine
       Parteigenossen die Reversalismus-Hymne anstimmen („Walking back to
       happiness, wuppa oh yeah yeah“).
       
       An vielen anderen Stellen aber schafft er es nicht wirklich, das Königreich
       Absurdistan zu überzeichnen, weil die Realität komisch genug ist – bei den
       Unterhausszenen denkt man sich, man hätte auch BBC Parliament einschalten
       können, da braucht die Satire andere Mittel. Und der Kafka-Anfang führt im
       Grunde auch ins Leere.
       
       Andere Ideen scheinen fast ein bisschen verschenkt. So führt McEwan
       „Pheromon“ als Sprache ein. Pheromone als Lockstoffe sind ein
       Top-Kommunikationsmedium der Kakerlaken, sie lagern sie in ihrem Kot ab,
       was vielleicht nicht so viel Reichweite hat wie Twitter, aber mit
       Sicherheit nachhaltiger ist. Mit diesen Duftstoffen wäre erzählerisch
       sicher noch mehr gegangen, schließlich spielen sie auch im menschlichen
       Sexualverhalten eine Rolle. Aber McEwans Buch dürfte auch unter einem
       gewissen Zeitdruck entstanden sein.
       
       Und wie es jetzt in Großbritannien weitergeht? Auch davon erzählt „Die
       Kakerlake“: Der Reversalismus tritt in Kraft, am 1. Januar werden die
       Geschäfte gestürmt. Von da an wird zurückgedreht.
       
       13 Dec 2019
       
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