# taz.de -- Wahlkampf in Großbritannien: Zwischen Brexit und Klimaschutz
       
       > Im Wahlkreis Bristol West kämpfen Labour und Grüne um die Vormacht. Weder
       > Konservative noch Brexit-Partei spielen eine Rolle.
       
 (IMG) Bild: Easton in Bristol ist für den Künstler Banksy bekannt, der hier lebte
       
       BRISTOL WEST taz | Am Fuße eines 14-stöckigen Sozialwohnbaus räumt der
       62-jährige Jay Johns seinen Wagen aus. Lawrence Hill, dieser Bezirk von
       Bristol in Südwestengland, ist eine der ärmsten Gegenden des Landes. Im
       Wahlkampf versprechen Politiker*innen Großes. Glaubt Johns, dass es eine
       Partei gibt, die in seiner Gegend helfen kann? „Nein, wir sollten gar keine
       Politker*innen mehr wählen“, findet er.
       
       „Fuck all politicians“, heißt es auch im Anarcho-Pub Chelsea Inn im
       benachbarten Stadtteil Easton, der vor allem durch den Graffitikünstler
       Banksy bekannt wurde. Besser als in Lawrence Hill geht es den Leuten hier
       nicht.
       
       Rote Labour-Schilder stehen in den Vorgärten. Ihnen gegenüber kleben an
       Fensterscheiben Plakate der internationalen Klimaschutzbewegung Extinction
       Rebellion, auf anderen steht „Wählt Grün“. Bristol West ist einer der ganz
       wenigen Wahlkreise, wo Grüne und Labour gegeneinander um die Vormacht
       kämpfen.
       
       Die Grünen tun dies sogar mit dem Segen der Liberaldemokraten. Die beiden
       Parteien haben einen Wahlpakt geschlossen, sodass die Liberalen hier nicht
       antreten – was die Grünen wiederum zur einzigen Pro-EU-Partei macht – in
       einem Bezirk, wo 79,3 Prozent der Wählerschaft für den EU-Verbleib
       stimmten. 2016 gab es hier das dritthöchste Ergebnis für „Remain“ in
       Großbritannien.
       
       ## Das Hin und Her mit dem Brexit macht müde
       
       Die 75-jährige ehemalige Buchhalterin Ann Goodwin ist lebenslange
       Konservative und Brexitwählerin. Sie sei jedoch aufgrund des ewigen Hin und
       Her mit dem Brexit der Politiker*innen müde. Sie hält Labourchef Jeremy
       Corbyn für einen Rassisten, der nur die Oberklasse besteuern will. Boris
       Johnson seinerseits sei ein Clown, der nicht zum Amt des Premierministers
       tauge. Die Konsequenz? „Ich glaube, dass ich Grün wählen werde, weil ich
       mit dem Klimaschutz übereinstimme und weil es meine Generation ist, die der
       Umwelt besonders geschadet hat“, überrascht Goodwin.
       
       In der zum Jugendzentrum umfunktionierten alten Feuerwehrwache im
       Stadtzentrum diskutieren an diesem Abend 70 bis 80 junge Menschen im Alter
       von 15 und 21 Jahren mit vier Kandidaten. Eingeladen hat das Bristols
       Creative Youth Network, eine Organisation, die in ganz Bristol Jugendliche
       betreut. Alle Kandidaten bis auf den der Brexit-Partei sind gekommen, auch
       wenn nur die Grüne Carol Denyer und die Amtsinhaberin von Labour, Thangam
       Debbonaire, in Bristol West eine Chance haben.
       
       Mit einer Testwahl startet der Abend. Labour kommt auf 51 Prozent der
       Stimmen, Grüne und Liberaldemokraten auf je sieben, die Tories auf drei und
       die Brexitpartei auf fünf. Ganze 31 Prozent der Anwesenden sind
       unentschieden.
       
       Die 34-jährige Ingenieurin Carla Denyer ist eine von elf Grünen
       Stadträt*innen in Bristol. Sie hatte den Antrag gestellt, den Klimanotstand
       auszurufen. Der kam nicht nur in Bristol durch: Inzwischen gibt es
       Klimanotstandserklärungen in über 300 Stadtbehörden – Denyer hat damit
       bewiesen, dass sie progressive Politik auch als Mitglied einer politischen
       Minderheit erfolgreich verhandeln kann.
       
       ## Bisher steigt die Beliebtheit der Labour-Frau Debbonaire
       
       Die Labour-Abgeordnete Thangam Debbonaire ist Tochter eines
       indisch-sri-lankischen Vaters und einer englischen Mutter. 50 Prozent der
       Bevölkerung in Bristol haben keinen oder nur teilweise einen weißen
       britischen Hintergrund.
       
       Debbonaires Beliebtheit stieg bisher beständig. 2015 siegte sie mit 35,7,
       zwei Jahre später mit sagenhaften 65,7 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
       Ihre politischen Wurzeln, sagt sie, gehen auf die Familie ihrer Mutter
       zurück, die über mehrere Generationen in der Labourpartei aktiv war.
       
       Als ausgebildete Cellistin, die in Oxford und der Royal Academy of Music
       studierte, begann sie, in der Musiker*innengewerkschaft politisch aktiv zu
       werden, engagierte sich daneben für Opfer häuslicher Gewalt und wurde
       später nationale Kinderbeauftragte der Women’s Aid Federation, einer
       Stiftung zur Hilfe von Frauen in Bristol.
       
       Den Jugendlichen verspricht Debbonaire im Fall eines Laboursieges 30 Pfund
       Zuschuss für Lebenshaltungskosten beim Studium. Im Übrigen, sagt sie an die
       Grünen, sei es Labour gewesen, die als Erste in Großbritannien
       Klimaschutzgesetze verabschiedet hätte.
       
       Nach den Ansprachen rotieren die Abgeordneten dann in kleineren Gruppen, in
       denen die Jugendlichen direktere und persönlichere Fragen stellen können.
       Medienstudent Matt, 19, war vor der Veranstaltung noch für die
       Liberaldemokraten, doch nun will er Debbonaire wählen. Es sei die Mixtur
       aus zweitem Referendum und Zusicherungen zum Gesundheitssystem NHS. „Sie
       werden den USA verbieten, im Falle des Brexit die NHS aufzukaufen“, sagt
       er.
       
       Als alle Anwesenden schließlich ein zweites Mal um ihre Stimmen gebeten
       werden, ist Labours Anteil auf 64 Prozent angestiegen, der der Grünen auf
       12 Prozent. Für die Brexitpartei oder die Konservativen hat niemand mehr
       gestimmt. 17 Prozent der jungen Leute sind unentschieden geblieben.
       
       4 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn
       
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