# taz.de -- Koloniales Erbe in der Fotografie: Geschichte beim Namen nennen
       
       > Die Universität Harvard besitzt historische Aufnahmen von schwarzen
       > Sklaven. Jetzt ist eine Debatte entbrannt: Darf sie die Bilder weiter
       > vermarkten?
       
 (IMG) Bild: Tamara Lanier hält ein Bild von Renty hoch, ihrem Vorfahren, 1850 entstanden, als er ein Sklave war
       
       Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ein Ausstellungskatalog nach dreißig
       Jahren noch einmal als „Anniversary Edition“ aufgelegt wird. Offenkundig
       kam das von den Ethnologen Melissa Banta und Curtis M. Hinsley verfasste
       Katalogbuch „From Site to Sight“ aber im Jahr 1986 gerade zur rechten Zeit.
       [1][Anthropologische oder, wie man in Deutschland eher sagte,
       völkerkundliche Forschungen bedienten sich bereits zur Mitte des 19.
       Jahrhunderts der Fotografie.] Doch erst in den 1980er Jahren verlagerten
       sich die Akzente: Es wurde endlich damit begonnen, die anthropologischen
       Fotoarchive kritisch zu bewerten.
       
       „Der geraubte Schatten“ hieß 1989 eine Ausstellung im Münchner Stadtmuseum,
       die den kolonialistischen Spuren einer solchen Mediengeschichte nachging.
       Der von Thomas Theye herausgegebene Katalog ist längst ein Standardwerk.
       
       Zwar erschien „From Site to Sight“ nach dreißig Jahren mit einem
       umfassenden neuen Vorwort, das Bild auf dem Umschlag jedoch blieb dasselbe.
       Diese Fotografie eines afroamerikanischen Mannes mittleren Alters ist
       erkennbar sorgfältig eingerichtet. Das Modell sitzt kerzengerade, ist genau
       in die Bildmitte gerückt und präzise ausgeleuchtet. Die reglose Haltung und
       der starre Blick mögen um 1850, als das Bild entstand, den Konventionen des
       fotografischen Porträts entsprochen haben; gewiss aber nicht die Tatsache,
       dass der Mann nackt war.
       
       ## Fotografien wider Willen
       
       Auf beklemmende Weise bestätigt sich in dieser Daguerreotypie das Wort vom
       geraubten Schatten. Susanne Regener hat für solche Aufnahmen den
       treffsicheren Begriff „Fotografien wider Willen“ geprägt.
       
       Geschichte ereignet sich nicht abstrakt, sondern wird von Personen
       getragen. Diese Personen haben Nachfahren. #FreeRenty heißt eine von
       Studierenden der Harvard University angestoßene Initiative, die diese
       einfache Tatsache in eine produktive Provokation übersetzt.
       
       „Stellen Sie sich vor“, heißt es auf der Website [2][harvardfreerenty.com],
       „ein Mitglied ihrer Familie wäre gegen seinen Willen fotografiert worden,
       und diese Aufnahmen wären öffentlich ausgestellt und immer wieder aufs Neue
       publiziert worden – und Sie könnten nichts dagegen tun.“ Beschrieben ist
       damit die Situation von Tamara Lanier, einer Nachfahrin von Renty, des 1850
       fotografierten Mannes. Seit fast zehn Jahren geht sie vergeblich gegen das
       Peabody Museum of Archaeology and Ethnology der Harvard University vor.
       
       ## Verankert im kollektiven Gedächtnis
       
       Es ist kein Zufall, dass sich jene Aktivist:innen, die nun Lanier zur
       Seite springen, auf Renty und seine Tochter Delia konzentrieren. Seit ihrer
       Wiederentdeckung vor mehr als vierzig Jahren gehören die ihnen
       abgezwungenen Fotografien zum kollektiven Gedächtnis der Vereinigten
       Staaten. Vollkommen abgelöst von ihrem ursprünglichen Zusammenhang, sind
       die Aufnahmen machtvolle Schlagbilder für die Zeit vor dem Amerikanischen
       Bürgerkrieg.
       
       Sie gehören zu einem Konvolut von 15 Daguerreotypien, die auf Bestellung
       des Schweizer Anthropologen Louis Agassiz auf einer Plantage in Columbia,
       South Carolina, angefertigt wurden. Vor die Kamera gezwungen wurden zwei
       Sklavinnen und fünf Sklaven, hinter ihr stand der Fotograf Joseph T. Zealy.
       
       Agassiz war im Jahr 1846 an die Harvard University berufen worden. Als
       Professor für Zoologie und Geografie war er einer der namhaftesten
       Vertreter der sogenannten Polygenesis-Theorie. Sie geht von der Annahme
       aus, dass zwischen verschiedenen Menschenrassen unterschieden werden muss,
       Weiße und Schwarze also unmöglich einen gemeinsamen genealogischen Ursprung
       teilen können.
       
       Wissenschaftliche Theoreme und rassistische Motive vermischten sich bei
       Agassiz auf unentwirrbare Weise. Um seine Annahmen beweisen zu können,
       begab er sich mehrfach auf Forschungsreisen; Mitte der 1860er Jahre etwa
       nach Brasilien, fünfzehn Jahre zuvor aber bereits nach South Carolina.
       
       ## Ein rassekundliches Archiv
       
       Die in seinem Auftrag entstandenen Fotografien dürften einen Eindruck davon
       vermitteln, wie er in seinen Feldforschungen vorging. Alle sieben
       Abgebildeten wurden nach einheitlichem Maßstab aufgenommen, en face, im
       Profil und stets nackt. Auf diese Weise wurden ihre entblößten Körper, wie
       Allan Sekula dies nannte, zum Gegenstand des rassenkundlichen Archivs.
       
       Für sich genommen ist all dies wenig überraschend. Die Bildgeschichte der
       Anthropologie ist auf prekäre Weise überreich an solchen Aufnahmen. Eines
       jedoch ist in Zealys Daguerreotypien ausgesprochen ungewöhnlich. Bevor der
       Fotograf seinem Auftraggeber die bestellten Fotografien nach Massachusetts
       schickte, hatte er jedem Bild nicht allein einen Hinweis auf die ethnische
       Herkunft der Dargestellten hinzugefügt – dafür dürfte sich der
       Rassenforscher Agassiz interessiert haben.
       
       Doch reichen Zealys Beschriftungen weiter. Sorgfältig vermerkte er die
       Vornamen aller Sklavinnen und Sklaven: Jack, Jem, Fassena, Renty, Alfred,
       Drana und Delia. An die Stelle ihres Nachnamens aber rückte er die
       wiederkehrende Formel: „belonging to F. W. Green, Columbia, SC“.
       
       ## Die Forderungen der Aktivisten
       
       Was immer Zealys Motive gewesen sein mögen, die Bilder in so genauer Weise
       zu beschriften, für die Initiative #FreeRenty gibt das nun die Möglichkeit,
       Geschichte beim Namen zu nehmen. Tatsächlich reichen die Forderungen der
       Aktivisten sehr weit: In einem ersten Schritt soll die Harvard University
       diese Daguerreotypien nicht länger ausstellen, ihre Zirkulation in
       Publikationen unterbinden und keinerlei finanziellen Gewinn auf der Basis
       des Copyrights mehr erzielen. Sodann aber verlangt die Initiative, dass
       alle Fotografien an die heutigen Nachfahren der Abgebildeten übergeben
       werden.
       
       Lawrence Bacow, seit Kurzem Präsident von Harvard, hat sich gegen diese
       Forderung bereits ausdrücklich verwahrt. Es gebe keinerlei rechtliche
       Bedenken, dass es sich um einen legitimen Besitz des Universitätsmuseums
       handle. Schwer zu glauben, dass Bacow nicht wusste, dass er mit einem
       solchen Statement eine Gegenfrage provozieren würde: Vom Rechtlichen
       abgesehen – wie eigentlich verhält es sich mit den ethischen Aspekten
       dieser Aufnahmen?
       
       Der Hashtag zeigt es an: #FreeRenty ist längst zu einer Sache der Social
       Media geworden. Bald soll die Auseinandersetzung vor Gericht getragen
       werden. Wie immer ein solcher Prozess ausgehen wird, die
       Universitätszeitung The Harvard Crimson hat die Grundsatzfrage dahinter
       bereits als Schlagzeile gedruckt: „Should Harvard Students and Alumni Be So
       Proud?“ Wie stehen heutige Studierende eigentlich zur Geschichte ihrer
       Hochschule?
       
       Vor 170 Jahren hatte der Rassenkundler Agassiz gewiss nicht damit
       gerechnet, dass die von ihm bestellten Fotografien einmal das
       Selbstverständnis seiner Universität infrage stellen könnten. Doch ist es
       höchste Zeit, dass sich die US-amerikanischen Elitehochschulen ihrem
       rassistischen Erbe stellen. In seinem brillanten Buch „Ebony & Ivy. Race,
       Slavery, and the Troubled History of America’s Universities“ hatte der
       Historiker Craig Steven Wilder bereits 2013 gezeigt, dass sie alle vom
       Sklavenhandel finanziell unmittelbar profitiert haben. #FreeRenty ist kaum
       mehr als ein notwendiger Anfang.
       
       12 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Rassistische-Wissenschaft/!5047937
 (DIR) [2] https://www.harvardfreerenty.com/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Steffen Siegel
       
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