# taz.de -- Stadtentwicklung in Berlin-Neukölln: In einem Dorf unserer Zeit
       
       > Im Böhmischen Dorf in Neukölln werkeln Start-upper an Ideen, die man
       > nicht anfassen kann. Wie verändern sie die Dorfgemeinschaft?
       
 (IMG) Bild: Coole Location für Co-Worker: Die Bürogelegenheiten von Unicorn im Böhmischen Dorf in Neukölln
       
       Den habe ich selbst am Wohnzimmertisch gebastelt“, sagt Benjamin Nick.
       „Meine Frau hat sich totgelacht, weil ich handwerklich nicht besonders
       begabt bin.“ Nick deutet auf das größte Fenster, fast schon eine Art
       Schaufenster im hochmodern sanierten Innenhof um ein ehemaliges Wohnhaus
       und eine ehemalige Scheune herum. Mitten im Raum hinter der Glasfront hängt
       ein riesiges, weißes Exemplar eines Herrnhuter Sterns, der Ursprung des
       Weihnachtsterns sozusagen, eine Art Symbol für den Stern von Bethlehem. Vor
       160 Jahren erfunden, streng und geometrisch, aber auch die Verkörperung von
       Besinnlichkeit. Etwas besorgt, als könne er wieder herunterfallen,
       versichert Nick: „Der Stern in der Brüdergemeine ist viel größer.“
       
       Fast scheint es, als wolle Benjamin Nick mit dem Vergleich der beiden
       Sterne die Verhältnisse wieder ins Lot bringen. Denn Nick ist Sprecher des
       Coworking-Anbieters Unicorn. Im Sommer 2019 wurde das Unicorn-Village in
       der Richardstraße 85/86 im Böhmischen Dorf in Neukölln eröffnet. Seitdem
       arbeiten um den schmucken Hof hinter den glänzenden Fassaden und in
       geschmackvoll eingerichteten Büros meist junge Menschen aus Neukölln und
       von anderswo, mit befristeten Mietverträgen und an Produkten, die man oft
       nicht anfassen kann.
       
       Das hat vieles verändert hier. Denn bislang wurde das Zusammenleben im Dorf
       noch immer von den Nachfahren der protestantischen Glaubensflüchtlinge aus
       Böhmen geprägt. Im 18. Jahrhundert, vor fast 300 Jahren also, kamen sie aus
       dem heutigen Tschechien zuerst nach Herrrnhut in der Oberlausitz und dann
       auch nach Rixdorf in Neukölln. Bei den böhmischen Brüdern schreiben die
       Gemeindemitglieder bis heute Lebensläufe auf. Damit der Pfarrer dann auf
       den Beerdigungen daraus lesen kann, für alle anderen. Geändert hat sich
       daran nur eine Kleinigkeit: Der Pfarrer hilft ihnen heute nicht mehr beim
       Schreiben.
       
       Der Herrnhuter Stern, den Nick am Wohnzimmertisch gebastelt hat, ist eine
       Geste. Sie soll wohl sagen: Wir sind uns bewusst, dass wir hier die Neuen
       sind, die hier weder Lebensläufe schreiben noch beerdigt werden. Wir sind
       uns bewusst, dass wir aber dennoch auf geschichtsträchtigem Boden arbeiten.
       Benjamin Nick würde es nur anders formulieren. Für ihn ist der Stern ein
       Beispiel von „Storytelling“.
       
       Anders geworden ist vieles auch für Brigitta Polinna. Sie lebt mit ihrer
       Familie im Rücken des Unicorn Villages von Nick in der Kirchgasse. „Hübsch
       finde ich es schon, was die draus gemacht haben“, sagt sie. „Dass die
       Seitenflügel, wo mal Ställe drin waren, für Coworking genutzt werden,
       dagegen habe ich gar nichts. 'Ne Scheune wird heute eben nicht mehr für Heu
       und Stroh benutzt“, fügt sie so trocken wie realistisch an. Aber dann macht
       die Frau, die ebenfalls schon an ihrem Lebenslauf geschrieben hat, eine
       längere Pause. „Was ich bedaure ist, dass in den Vorderhäusern nicht
       wenigstens eine Familie mit Kindern wohnt. Dass ein bisschen Leben da ist.“
       
       Benjamin Nick und Brigitta Polinna. Der Sprecher der Coworker, der in jeden
       Satz mindestens einen Anglizismus schmuggelt, und die Nachfahrin der
       böhmischen Einwanderer, die bis heute die Traditionen von Böhmisch-Rixdorf
       pflegt. Geschichte und Bindung auf der einen, moderne Arbeitswelt und
       Sharing auf der anderen Seite. In der Kirchgasse im Böhmischen Dorf prallen
       beide Welten aufeinander. Und zwischen ihnen liegt lediglich eine fünf
       Meter breite Kopfsteinpflastergasse.
       
       Brigitta Polinna empfängt am Gartentor. Im Wintergarten, der einmal der Hof
       war zwischen dem Vorderhaus an der Kirchgasse und der Scheune, hat sie den
       Kaffeetisch gedeckt. „Das Anwesen wurde seit Generationen in der Familie
       weitergegeben“, sagt Polinna, ganz Dame, mit Königin-Luise-Brosche am
       Pullover. „Meine Urgroßmutter hat hier noch vor dem Krieg gewohnt und
       Landwirtschaft betrieben. Als der Uropa starb, wohnte meine Großmutter
       allein hier. Da hieß es, die könne das nicht allein bewirtschaften, also
       ist noch Tante Lieschen mit ihrem Mann dazugekommen.“
       
       Wenn Polinna erzählt, wird alles Geschichte. Die Porträtaufnahmen und die
       Fotos, die an der Wand des Wintergartens hängen, die Brüdergemeine nebenan,
       dort, wo in der Adventszeit der große Stern hängt. „1751 wurde unser Haus
       gebaut“, sagt sie stolz. „Wir sind jetzt hier in der elften Generation.“
       Mehr Tradition geht nicht, das Haus von Brigitta Polinna ist lebendige
       Vergangenheit.
       
       Polinna hat ihre Kindheit in der Kirchgasse verbracht, das war, als noch
       die Tanten dort wohnten. „Es war eine schöne Kindheit, aber alles war auch
       ärmlich. Die Toilette war auf dem Hof. Durch alle Fenster hat es gezogen,
       es gab kein fließendes Wasser. Wo der Wintergarten ist, stand eine Pumpe.“
       
       Als die Tanten starben, zog Polinna mit ihrem Mann in die Kirchgasse,
       seitdem trägt sie die Tradition weiter, auch wenn sie nicht mehr
       Tschechisch spricht, wie es die böhmischen Einwanderer bis 1900 taten,
       sondern berlinert. „Den Namen Polinna habe ich von meinem Mann“, erklärt
       sie, „der kam aus Ostpreußen. Das Böhmische ist von meiner Familie
       väterlicherseits.“
       
       Seit Polinna in die Kirchgasse gezogen ist, hat sie gesammelt, was mit den
       Böhmen zusammenhängt. Vieles davon ist im Museum zu sehen, das im
       ehemaligen Schulhaus von Böhmisch-Rixdorf untergebracht ist. Brigitta
       Polinna hat es zusammen mit Gleichgesinnten aus der christlichen
       Brüdergemeine 2005 gegründet. Gerne hätte sie Kunstgeschichte studiert.
       Weil sie das Abitur nicht geschafft hat, hat sie eine Ausbildung in der
       Damenschneiderei abgeschlossen, dann bei einer Kostümbildnerin fürs Theater
       gearbeitet. Seit 1981 betreibt sie eine Puppenklinik in der Richardstraße.
       
       ## Neidisch auf die Böhmen
       
       Gleich neben der Schule steht an der platzartigen Biegung der Kirchgasse
       das Denkmal für den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. „Der Soldatenkönig
       hat die Böhmen nach Rixdorf geholt“, erzählt Polinna. Ganz konfliktfrei
       verlief die Ansiedlung der Glaubensflüchtlinge nicht, weiß sie: „Die
       Deutsch-Rixdorfer waren damals sehr neidisch, weil die Böhmen vom König
       etwas geschenkt bekommen haben und sie nicht. Aber beim ersten Brand 1849
       haben sie den Böhmen geholfen, sie haben sie untergebracht, bis deren
       Häuser wieder repariert waren.“
       
       Von Deutsch-Rixdorf stehen heute nur noch die Häuser. In Böhmisch-Rixdorf
       aber sind auch noch die Nachkommen der Menschen von damals da. „Von den 18
       Familien aus dem Jahre 1737 leben heute noch Nachfahren von sechs Familien
       in den Gehöften“, sagt Polinna. „Es waren ursprünglich 18 Grundstücke,
       jeweils zwei wurden mit Doppelhäusern bebaut. Der König war sehr sparsam.
       Die Häuser wurden so gebaut, dass sie mit dem Giebel zur Straße stehen. So
       hat er bei jeder Familie ein ganzes Dach gespart. Die Zimmer sind alle vier
       Meter breit. Man ging vorne rein und ist durch die Zimmer nach hinten
       durch. Vorne war zur Straße hin die gute Stube.“
       
       Als der Soldatenkönig starb, wandten sich die Kinder der Einwanderer an
       dessen Sohn. „Bei Friedrich dem Großen mussten die Böhmen schriftlich
       anfragen, ob ihre Kinder auf den Gärten noch mal ein kleines Haus bauen
       dürfen“, weiß Polinna. „Und dann gab es eine Order, mit der das erlaubt
       wurde.“
       
       ## „Da geht es vor allem um Geld, Geld, Geld.“
       
       Bevor Polinna weitererzählt, gewährt sie einen kurzen Blick in ihren
       idyllischen Garten, wo man sich auch mitten im Winter eher in einer
       Reportage der Zeitschrift Landlust wähnt als mitten im schnellen
       Szeneviertel Neukölln, diesem sozialen Labor, in dem irgendwie alles geht.
       An der Pergola wächst Blauregen, im Blumenbeet stehen Hortensien.
       
       Vom Gartentor überblickt Polinna die Kirchgasse. Von den beiden Gebäuden,
       in denen Unicorn sein Coworking-Village betreibt, sieht sie nur die
       sanierten Scheunentore. „Ursprünglich lebte da eine bäuerliche Familie“,
       weiß sie über die Nachbargrundstücke. Später zog eine Autowerkstatt dort
       ein, die beiden Grundstücke wurden zusammengefasst und auch zusammen
       verkauft, sagt Polinna.
       
       Den Preis, den Unicorn für die beiden Grundstücke zahlen musste, kennt
       Polinna nicht. „Aber der Effekt ist jetzt der, dass viele Anwohner denken,
       sie kriegen für ihr Haus eine Million oder mehr. Da ist mit einem Mal eine
       gewisses Wunschdenken entstanden. Da geht es vor allem um Geld, Geld,
       Geld.“
       
       Die Geschichte mit dem Verkauf, ist sie sich sicher, wird sich wiederholen.
       „Viele Eigentümer, die jetzt drin wohnen, sind in meinem Alter. Die Kinder
       haben studiert, und wenn sie außerhalb Berlins eine schicke Stelle gekriegt
       haben, dann haben sie keine Ambitionen mehr, hierher zurückzukommen. Das
       wäre dann das Ende des Dorfes.“
       
       Das Dorf von Benjamin Nick ist erst ein halbes Jahr alt. Im Unicorn-Village
       geht der Blick deshalb nicht zurück, sondern nach vorne. „Das produzierende
       Gewerbe nimmt in Berlin ab“, erklärt der Unicorn-Sprecher, „aber die
       Servicelandschaft wächst. Deshalb sind Büros ein wichtiger
       Wirtschaftsfaktor für die Stadt.“
       
       Die Zukunft der Bürolandschaft in Berlin kann Nick besser erklären als
       einen Stern am Küchentisch basteln. Und er kann auch die Frage beantworten,
       warum Coworking-Unternehmen wie Unicorn die richtige Antwort sind auf den
       Wandel in der Arbeitswelt. „Im Moment macht der flexible Arbeitsraum in
       Deutschland 3 bis 5 Prozent aus“, sagt Nick. „Es gibt Agenturen im Westteil
       der Stadt, die seit 1960 zu fünft ein Büro von 600 Quadratmetern nutzen. Da
       sitzen dann zwei Hanseln in riesigen Meetingräumen mit lederbezogenen
       Konferenzsesseln. Wir dagegen schaffen es, an diesem Ort an die 280 Leute
       unterzubringen. Das ist effektiver.“
       
       Unicorn, auf Deutsch Einhorn, verfügt in Berlin, Potsdam, München, Köln,
       Hamburg und Lissabon über 21 Standorte mit Büros, von denen derzeit 16
       geöffnet sind. Nächstes Jahr wird das Unternehmen sein größtes Büro
       eröffnen, knapp 6.000 Quadratmeter im Neubau auf der einst heiß umkämpften
       Cuvry-Brache in Kreuzberg.
       
       ## Dünnes Eis der Gegenwart
       
       Nick hat sich gut vorbereitet auf das Treffen mit der taz. Wörter wie
       „Awareness“ und „Spaces“ purzeln ihm nur so aus dem Mund, aber auch die
       anderen, die sympathischen wie „Nachhaltigkeit“ und „Einbeziehung“. Er
       steht im Hof der beiden ehemaligen böhmischen Häuser, umgeben vom
       elfenbeinweißem Anstrich der Fassaden und den mattroten
       Biberschwanzziegeln, von topmodernen Gauben und riesigen Fensterflächen.
       
       Stolz weist er auf den neu gepflasterten Hof – die Steine haben schon
       einmal irgendwo in Neukölln gelegen –, zeigt die hölzernen Hochbeete, die
       vom Comenius-Garten nebenan begrünt werden, dem Nachbarschaftspark auf der
       gegenüberliegenden Seite der Richardstraße, der vom Förderkreis Böhmisches
       Dorf getragen wird. Mit 2.000 Coworkern ist Nicks Firma eher eine von den
       kleinen. Sein Unternehmen solle „gesund wachsen“, betont Nick.
       
       So geschichtsträchtig der Boden ist, auf dem das Village gewachsen ist, so
       dünn ist freilich das Eis der Gegenwart, das es trägt. Das ist Benjamin
       Nick durchaus bewusst. „Wenn man von Nachbarschaften umgeben ist wie hier
       in Neukölln, legt man viel Wert darauf, diese nicht zu überfahren“, betont
       er, als sei es ihm wirklich ein Anliegen, das Böhmische Dorf nicht in ein
       Potemkinsches Dorf zu verwandeln. Denn was echt ist und was nur Fassade,
       das ist in diesem Aufeinanderprallen der Welten an der Kirchgasse noch
       nicht entschieden.
       
       ## Kaffee vom Community Barista
       
       Also berichtet Nick vom Weihnachtsmarkt mit Glühwein umsonst im Dezember
       und vom Kaffee, den hier jeder kriegt, der sich durch die Tür traut.
       Serviert wird er vom Community Barista, der wie an allen Standorten von
       Unicorn für die Mieter Latte „bis zum Umfallen“ kocht. „Noch nie hat
       Unicorn Wohnraum verdrängt“, betont Nick, „immer nur wurden Flächen
       angemietet, die schon vorher gewerblich genutzt wurden.“ Die Büros im
       Neubau auf der Cuvry-Brache seien die große Ausnahme.
       
       „Unser Geschäftsmodell beruht darauf, jungen Start-ups die Möglichkeit zu
       bieten, mit wenig Risiko Bürofläche zu mieten. Bei einem normalen
       Gewerbemietvertrag müssen sie fünf Jahre mieten.“ Start-ups seien aber im
       Schnitt nur eineinhalb Jahre durchfinanziert. Hinzu kommen die
       Einrichtungskosten, Internet, Streichen, Möbel. „Das bekommen sie bei uns
       dazu.“ Im Augenblick arbeiten im Unicorn Village Firmen mit 3 bis 35
       Mitarbeitern. Für einen Tisch zahlen sie ab 320 Euro im Monat aufwärts.
       Alle, die im Sommer kamen, sind noch immer hier. „Ein Viertel der Mieter“,
       sagt Nick stolz, „sind Neuköllner Firmen.“
       
       Jochen Biedermann ist Neu-Neuköllner. „Als ich 2001 in den Bezirk zog“,
       sagt er, „wurde ich noch schief angeguckt. Das führte dann zu einer
       Trotzreaktion. Ich hab angefangen, mich mit der Geschichte von Neukölln zu
       beschäftigen.“
       
       Und zu der gehört auch die Geschichte von Böhmisch-Rixdorf. „Das Böhmische
       Dorf ist für Neukölln total wichtig“, weiß Biedermann, und kommt auch ohne
       Wörter wie Storytelling aus. „Man kann da ganz viel Neuköllner Geschichte
       erzählen. Zum Beispiel, wie sich eine Parallelgesellschaft, die die Böhmen
       waren, integriert hat.“ Ein böhmisches Dorf im Wortsinne, also eines, wo
       man nicht recht weiß, was es eigentlich ist, ist es dennoch geblieben.
       „Wenn man von der lauten, krawalligen Karl-Marx-Straße kommt“, lacht
       Biedermann, „denkt man: Huch, wo bin ich denn hier gelandet?“
       
       ## Das Historische könnte verloren gehen
       
       Jochen Biedermann ist nicht nur Neuköllner. Der Grüne ist auch Stadtrat für
       Stadtentwicklung, Soziales und Bürgerdienste. Als solcher war er mit dem
       Umbau der Autowerkstatt in der Richardstraße 85/86 zum Unicorn Village
       befasst. „Ich habe es nicht verhindern können“, sagt er offen. „Von der
       Denkmalsituation her war das, was da stand, eine Nachkriegsgarage, die
       nichts mit der historischen Situation zu tun hatte. Bei der Sanierung durch
       Unicorn hat der Denkmalschutz dagegen eine ganze Reihe seiner Ziele
       verwirklichen können.“
       
       Dass auch Neukölln für Coworking-Anbieter interessant geworden ist, erfährt
       Biedermann tagtäglich. „Coworking und Mikroapartments sind die beiden
       ersten Ideen, die Projektentwickler an mich herantragen“, verrät er. „Bei
       Mikroapartments kann man noch steuern, bei Coworking ist es schwieriger.
       Wir werden Coworking bei Sinn Leffers haben, im ehemaligen Umspannwerk in
       der Richardstraße. Das ist das, was allen einfällt, bei jedem Gebäude
       oberhalb des ersten OG.“
       
       Problematisch fände es Biedermann, wenn durch den Einzug der Moderne das
       Historische verloren ginge. Doch genau dieses Schicksal droht dem
       Böhmischen Dorf. „Ich fürchte, dass nun auch Böhmisch-Rixdorf in den
       Strudel des Immobilienmarkts gezogen wird“, sagt Biedermann. „Mit
       Sicherheit ist es so, dass der Verkauf an Unicorn diese Entwicklung
       beschleunigen wird. Damit geht dann auch ein Stück Tradition und Identität
       verloren.“
       
       Biedermann sagt aber auch: „Ich fürchte, das ist der Lauf der Dinge. Ich
       wüsste nicht, wie man das aufhalten kann. Wenn die Kinder das nicht wollen
       oder wenn sie durch die Lage auf dem Immobilienmarkt von dem Geld so sehr
       gelockt werden, dann wüsste ich nicht, wie man jemanden zwingen könnte, das
       nicht zu verkaufen.“
       
       Was aber bleibt, wenn keine Nachfahren der Böhmen mehr auf den
       Kolonistengrundstücken leben? Wer und was erinnert dann noch an die
       Geschichte von Böhmisch-Rixdorf? Das Museum im alten Schulgebäude? Das
       Denkmal für den Soldatenkönig? Woran will man sich eigentlich noch
       erinnern?
       
       Die Trotzreaktion, die Jochen Biedermann an sich beobachtet hat, gehört
       auch der Vergangenheit an, hat er festgestellt. „Inzwischen ist es hip und
       cool, in Neukölln zu wohnen. Wenn ich in meiner Studienzeit auf Partys war
       und gefragt wurde: Wo wohnst du so?, wurde ich kritisch gemustert. Hast du
       keine Angst? Traust du dich nach Hause? Neulich habe ich ein ähnliches
       Gespräch gehört, da war die Antwort: Boah, das kannst du dir leisten? Damit
       nimmt meines Erachtens aber auch die Identifikation ein Stück weit ab.“
       
       Auch Brigitta Polinna klagt über das Verschwinden der Identifikation. Dem
       neuen, unverbindlichen Neukölln steht sie skeptisch gegenüber: den
       Hinterlassenschaften der Menschen, die sich in der Nacht in der stillen
       Nachbarschaft treffen, dem vielen Geld, das alles kaputt machen könnte.
       Gleichzeitig erinnert sie sich aber nicht nur an die heilen Seiten der
       Welt, in der sie aufgewachsen ist, sondern auch an die Enge in der
       Brüdergemeine, das bis 1900 geltende Tanzverbot etwa. Sie sieht auch die
       Menschen, die jetzt ganz ohne solche Zwänge hier Wurzeln schlagen könnten.
       Andere Wurzeln sind das.
       
       Orte, die sich verändern, Menschen, die an neue Orte ziehen, neues
       Arbeiten, das eher flüchtig ist als ortsgebunden: Dafür steht die eine
       Seite der schmalen Kirchgasse. Steht die andere also für eine Welt, die nur
       noch in der Vergangenheit zu leben scheint, die sich ihre Andersartigkeit
       bewahrt hat, obwohl die Jungen bereit zu sein scheinen, diese Vergangenheit
       für ein Leben anderswo einzutauschen? Oder gehört diese Welt gar nicht der
       Vergangenheit an? Taugt sie vielleicht sogar als Labor für eine neue
       Dörflichkeit in der Großstadt?
       
       An einem grauen Winternachmittag steht Brigitta Polinna, inklusive
       Königin-Luise-Brosche, am Tresen ihrer Puppenklinik, nur wenige Häuser
       entfernt vom Unicorn Village. Auf dem Tresen steht ein großes Glas voll
       zerborstener Puppenköpfe, im Regal an der Wand stapeln sich bunte
       Plastikkörbe, voll mit kleinen Armen, Beinen und Köpfen aus Gummi, Stoff
       oder Zelluloid.
       
       Seit 1981 kuriert Polinna hier alle Arten von Leiden. Für eine gelernte
       Schneiderin wie sie sei es „Furzkram“ gewesen, das zu lernen, erzählt sie
       mit dem Charme einer Berliner Göre und hebt an zu einer Rede über die
       Puppensammler, die sich anhört wie ein Abgesang. Immer weniger gebe es von
       ihnen und dann seien auch noch die Preise für schöne, alte Puppen von
       Käthe Kruse oder Schildkröt in den Keller gegangen.
       
       Noch ist sie nicht ganz fertig mit diesem Trauergesang, da betritt ein
       blasser 30-Jähriger mit groben, verkleckerten Arbeitskleidern aus Cord,
       dunklen Rastas und britischem Akzent ihren Laden. Er wirkt, als sei er
       gerade aus einem Atelier gefallen, und fragt prompt nach seinen „letzten
       Puppen“, die er hier vor Kurzem in Reparatur gegeben hat. Polinna macht
       sich auf die Suche, wird fündig, legt zwei Oberkörper und Köpfe auf den
       Tisch. Es entspinnt sich ein ebenso langwieriger wie vorsichtig tastender
       Dialog, das leise Murmeln der beiden wirkt fast konspirativ.
       
       „In meiner 40-jährigen Praxis konnte noch jeder Fall gelöst werden“,
       beschwichtigt sie den Kunden. „Können Sie warten?“, fragt sie ihn. „Wie
       lange denn?“, will er wissen. „Ein, anderthalb Jahre sind hier gar nichts“,
       erwidert sie bestimmt. „Was wird es denn kosten?“, fragt er unsicher. „Das
       weiß ich noch nicht. „Vielleicht einen Zehner“, antwortet sie, woraufhin
       der Mann schon zufriedener wirkt. Die beiden sind ein Dream-Team in Sachen
       Wertschätzung für Altes.
       
       So wie die Leute von gestern sehnen sich auch Leute von heute eben manchmal
       danach, an Dingen festzuhalten. Und auch an Orten, selbst wenn sie dort
       weder geboren noch aufgewachsen sind. Selbst wenn das dann wie bei Benjamin
       Nick von Unicorn nur noch „Storytelling“ heißt.
       
       ## Nette Neuköllner Mitte 20
       
       „Ich glaube nicht, dass man den Fortschritt aufhalten kann, aber man kann
       ihn mitgestalten“, sagt Nick, und führt zu einem von drei Start-ups, die
       seit einigen Monaten umsonst im Village arbeiten dürfen, weil sie eine
       Ausschreibung gewonnen haben. Es handelt sich um die Firma Youflake, die
       Getreidequetschen verkauft: Müsli zum Selberflocken mit fancy Namen wie
       „Nackte Tatsachen“ und „Buch ohne Weizen“, dazu werden Toppings angeboten
       namens „Cherry Berry Chocolady“ oder „Solar Flower Power Protein Topping“.
       
       Die Mitarbeiter sehen aus, wie nette Neuköllner Mitte 20 eben so aussehen.
       Bevor sie im Village gelandet sind, haben sie von ihrem Wohnzimmer aus
       gearbeitet, sagen sie. „Es würde mich ziemlich stressen, wenn ich jeden
       Morgen zum Alex fahren müsste“, sagt der eine ganz einfach und klingt dabei
       deutlich zurückgelehnter als sein Müsli. Übers Böhmische Dorf weiß er nicht
       viel. „Es ist trotzdem sehr schön, hier zu leben und zu arbeiten“, sagt der
       andere der beiden.
       
       Vielleicht ist für ihn das Böhmische Dorf nur eine coole, aber
       austauschbare Kulisse. Dass der Mann sich aber im Böhmischen Dorf auch zu
       Hause fühlt: Vielleicht kann das auch ein Anfang für etwas anderes sein.
       
       15 Feb 2020
       
       ## AUTOREN
       
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 (DIR) Kampf gegen Wohnungsnot in Niedersachsen: Genug Platz wäre ja
       
       In Niedersachsen gibt es zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Die SPD will
       deshalb eine Landeswohnungsbaugesellschaft gründen, die CDU ist strikt
       dagegen.