# taz.de -- Serien auf der Berlinale: Endlich Normalität
       
       > Die Berlinale will mit ihrer Serien-Sektion mehr Sichtbarkeit wagen und
       > Sexualität neu denken. Mit ihren Coming-of-Age-Formaten gelingt ihr das.
       
 (IMG) Bild: Kieran (Gary Carr, r.) und Gemma (Thalissa Teixeira, l.) lieben sich – und auch Ray (Ariane Labed)
       
       Streichel zuerst das Innere ihrer Schenkel und dann weiter über dem Rand
       ihrer Unterhose.“ So beginnt Selma (Nina Terese Rask) ihre Erklärung, wie
       man einer Frau Genuss verschaffen kann. Sie arbeitet in einem
       feministischen Callcenter und hat einen 15-jährigen Teenager am Telefon.
       
       Über eine Minute gehen ihre Schilderungen über die Stimulation der
       Klitoris. Ihre Kollegin Cathrine (Asta Kamma August) hört gebannt zu, ist
       sie doch frisch verliebt in Selma. Und sie ist in einer glücklichen
       Partnerschaft mit Simon, doch der hat irgendwie die Lust am Sex verloren.
       Es ist kompliziert. Die Regisseurin Amalie Næsby Fick und Autorin Clara
       Mendes erzählen in ihrer Webserie „Sex“ mit Miniepisoden (meist kürzer als
       15 Minuten) eine Liebes- und Sexgeschichte unter jungen Frauen. Ein
       bisschen wie „Druck“ oder „Sex Education“ – nur mit Hipstern aus
       Kopenhagen.
       
       „Sex“ ist eine der acht gezeigten Serien der diesjährigen Berlinale. Sie
       kommen aus Australien, Kanada, USA, Großbritannien, Frankreich,
       Deutschland, Österreich und Dänemark. In den vergangenen Jahre feierten
       unter anderem das „Breaking Bad“-Spin-off „Better Caul Saul“, aber auch
       deutsche Produktionen wie „4 Blocks“ ihre Premiere auf dem Filmfestival.
       Dieses Jahr lautet der eigene Anspruch: Sichtbarkeit wagen, Deutungshoheit
       bewahren, Sexualität neu denken.
       
       Es geht also um Repräsentation, die über das Zeigen von weißen,
       privilegierten Menschen hinausgeht, und Sexualität, die mehr als
       Heteronormativität fasst. Was im 21. Jahrhundert eine
       Selbstverständlichkeit sein sollte, ist bisher leider nur Wunschdenken.
       Studien zeigen immer wieder, dass der weiße Mann noch immer Film und
       Fernsehen dominiert. Sichtbarkeit von Frauen nimmt zwar zu, doch Schwarze
       und PoC kommen noch immer wenig vor, und wenn sie vorkommen, dann häufig in
       stereotypen Rollen.
       
       ## Dreiecksbeziehung statt Zweck-WG
       
       Eine Serie, die zeigt, wie es gehen kann, ist die britische BBC-Produktion
       „Trigonometry“. Darin geht es um den Rettungsassistenten Kieran (Gary Carr)
       und seine Freundin Gemma (Thalissa Teixeira), die sie sich selbst als
       „queer angry brown girl“ beschreibt und versucht, ihr Café zum Laufen zu
       bringen. Das Geld der beiden reicht nicht aus, deswegen holen sie sich Ray
       (Ariane Labed) als Mitbewohnerin. Aus der Zweck-WG entsteht schnell
       [1][eine Ménage à trois, eine Dreiecksbeziehung].
       
       Das Drama der griechischen Regisseurin Athina Rachel Tsangari bringt einen
       abwechselnd zum Lachen und Weinen, verhandelt dabei die Fragen: Liebe zu
       dritt, sind die drei jungen Menschen dazu bereit, und wie reagiert die
       Gesellschaft auf das Liebesmodell fern der Norm? Scheinbar nebenbei, aber
       trotzdem durchgehend präsent, werden Themen wie Gentrifizierung oder
       rassistische Alltagserfahrungen thematisiert.
       
       Dass das Ganze am Ende eine gewisse Leichtigkeit behält, liegt auch an den
       Dreharbeiten. Die Regisseurin erzählte, dass die Kamera ständig im
       Hintergrund lief und die Darsteller:innen nicht wussten, ob sie gerade
       gefilmt wurden oder nicht. Beide „Coming-of-Age“-Serien konzentrieren sich
       auf die vielschichtige weibliche Sexualität und zeigen, dass es noch immer
       etwas Besonderes ist, Frauen beim Pornos gucken oder Onanieren auf der
       Leinwand zu zeigen. Dabei ist das doch Normalität.
       
       Die Genres der sechs weiteren Serien ist vielfältig: Von Noir-Musicals
       („The Eddy“) bis Crimedrama („Mystery Road 2) ist alles dabei. Und dann ist
       da noch diese eine deutsch-österreichisch-tschechische Produktion.
       
       ## Serienschauen im 21. Jahrhundert
       
       Wer sich Wien so vorstellt, wie es in Serien gezeigt wird, muss denken, die
       österreichische Hauptstadt sei so etwas wie die Hölle auf Erden: düster und
       voller Gewalt. Letztes Jahr lief auf der Berlinale das die Miniserie „M –
       Eine Stadt sucht einen Mörder“, ein Remake von Fritz Langs Klassiker aus
       dem Jahr 1931, in dem eine Stadt im Chaos versinkt, nachdem drei Kinder
       verschwunden sind. Im Kopf blieben danach obskure Figuren und extrem
       brutale Szenen. Und auch dieses Jahr wird in Wien wieder gemordet. Dieses
       mal in der von Netflix und dem ORF produzierten Serie „Freud“.
       
       Der Protagonist kokst, trägt Bart, kann seine Miete nicht bezahlen; ist
       aber kein Berliner Hipster, sondern der junge Psychoanalytiker Sigmund
       Freud. Zuerst mutet die achtteilige Serie wie ein Biopic an. Es ist 1886,
       der junge Freud stellt seine neuen Ideen zum Unbewussten und den Einsatz
       von Hypnose vor, doch von Ärzten und Psychologen erntet er nur Häme.
       
       Spätestens in der zweiten Folge wird dann klar, dass die Serie es nicht so
       genau nehmen will mit den biografischen Fakten. Denn gemeinsam mit einem
       Medium und einem Polizisten beginnt Freud in einer mysteriösen Mordserie zu
       ermitteln. Dadurch wird die Serie, man kann es nicht anders sagen, ziemlich
       gaga. Die Mystery- und Horrorelemente überraschen nicht, wenn man einen
       Blick auf den Regisseur wirft. Der 40-jährige Marvin Kren ist mittlerweile
       vor allem als Regisseur von „4 Blocks“ bekannt, doch zuvor machte er mit
       den zwei Horrorfilmen „Blutgletscher“ und „Rammbock“ von sich reden.
       
       Herausfordernd ist auch die australische Serie „Stateless“, das Regiedebüt
       der Schauspielerin Cate Blanchett. Nicht weil sie konfus ist, sondern weil
       sich die ABC-Serie mit der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
       Australiens, mit Grenzkontrollen, mit der menschenunwürdigen Behandlung von
       Geflüchteten auseinandersetzt. Erzählt wird das aus der Perspektive eines
       Wärters, eines Asylsuchenden, aber auch einer privilegierten weißen Frau.
       Thematisch bedrückend, doch erzählerisch beeindruckend. Welche Vorteile das
       Storytelling von Serien gegenüber Filmen hat, zeigen die acht Produktionen
       allesamt.
       
       Vielschichtige Geschichten, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, diverse
       Casts. Das Ganze ist angepasst an das [2][Sehverhalten im 21. Jahrhundert].
       Es funktioniert auf großer Leinwand, aber auch auf dem Smartphone. Gerne
       mehr davon.
       
       29 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
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