# taz.de -- Türkische Politik in der Coronakrise: Chance für die AKP-Agenda
       
       > HDP-regierte Gemeinden unter Zwangsverwaltung, keine Amnestie für
       > politische Gefangene: Die AKP sieht das Coronavirus als Chance. Ein
       > Kommentar.
       
 (IMG) Bild: Die HDP-regierte Gemeinde Batman wurde am 23. März unter Zwangsverwaltung gestellt
       
       Während die AKP-Regierung zusammen mit ihrem nationalistischen
       Koalitionspartner MHP zu Zusammenhalt und Solidarität zur Eindämmung des
       sich immer weiter ausbreitenden Coronavirus aufruft, versucht sie weiterhin
       ihre politischen Gegner gezielt auszuschalten. „Wir können das Virus als
       Chance begreifen“, sagte Präsident Erdoğan bereits in einer Ansprache im
       Februar. Inzwischen wird immer klarer, dass es vor allem die Kurdenpolitik
       ist, bei der er das Virus als Chance sieht.
       
       Selbst in Zeiten von Corona kann die HDP nicht dem Visier der AKP
       entkommen. Bei den Regionalwahlen im vergangenen März gewann die Partei in
       65 Gemeinden der kurdischen Gebiete. Doch schon kurz darauf wurden viele
       der gewählten Bürgermeister*innen mit fadenscheinigen Anschuldigungen ins
       Gefängnis gesteckt und ihre Stellen mit Zwangsverwaltern besetzt. Diese
       Politik der Zwangsverwaltung setzt die AKP selbst in der Coronakrise fort.
       
       Am Morgen des 23. März hat das Innenministerium die Bürgermeister*innen der
       acht HDP-regierten Gemeinden Batman, Ergani, Eğil, Lice, Silvan, Güroymak,
       Halfeli und Gökçebağ von ihren Posten suspendiert und die Gemeinden unter
       Zwangsverwaltung gestellt. Auch die stellvertretenden Bürgermeister*innen
       sitzen in Untersuchungshaft. Damit hat die Regierung alle ursprünglich von
       der HDP regierten Gemeinden, bis auf sechs, unter ihre Kontrolle gebracht.
       
       Den Maßnahmen fehle jegliche rechtliche Grundlage, sagte die
       HDP-Abgeordnete Ayşe Acar Başaran in ihrer Erklärung zu den aktuellen
       Entwicklungen, die sie trotz der Polizeiangriffe vor dem Rathaus der
       südosttürkischen Gemeinde Batman abgab.
       
       ## Jegliche Kritik wird mit Drohungen geahndet
       
       Grund für die Amtsenthebung seien “Mitgliedschaft in einer
       Terrororganisation“ und „Terrorpropaganda“, heißt es in einer Erklärung des
       Innenministeriums. Mit diesem Beschluss wurden nicht nur die kurdischen
       Wähler*innen ihres Willens beraubt, sondern es wurden auch die Maßnahmen,
       die die Stadtverwaltung von Batman gegen die Ausbreitung des Coronavirus
       ergriffen hatten, auf Eis gelegt.
       
       Einen Tag vor der Amtsenthebung hatte die Stadtverwaltung erklärt, dass die
       Wasserversorgung wegen der Epidemie vorübergehen kostenlos sein werde.
       Außerdem wurden in den sozialen Medien umfassende Desinfektionsmaßnahmen
       bekannt gegeben, wie sie kaum in einer anderen türkischen Stadt zu finden
       sind.
       
       Die gleiche Herangehensweise an strukturelle Probleme, allen voran die
       Kurdenfrage, lässt sich bei der AKP auch in der Bekämpfung des Coronavirus
       erkennen. Um die Meinung der Massen zu steuern, werden die regierungsnahen
       Medien manipuliert, jegliche Kritik an der intransparenten
       Gesundheitspolitik wird mit Drohungen und Erpressung geahndet.
       
       Sogar die vertrauenswürdigste Ärztevereinigung der Türkei, die Türk
       Tabipleri Birliği (TBB), wurde Ziel dieser Politik. Nachdem sie Kritik an
       der Gesundheitspolitik geübt hatten, wurden sie tagelang zur Zielscheibe
       der regierungsnahen Medien. Manche forderten sogar die Schließung der
       Vereinigung.
       
       Auch wird in den regierungsnahen Medien die Haltung deutlich, dass der
       politische Gegner gefährlicher sei als das Virus selbst. So erklärt sich
       auch die Reaktion auf die Forderung, Ärzt*innen in den Dienst
       zurückzuholen, die während des Ausnahmezustandes nach dem Putschversuch vom
       15. Juli 2016 vom Staatsdienst suspendiert wurden. “Da ist mir das
       Coronavirus lieber“, schreiben zahlreiche Journalist*innen.
       
       ## Amnestie für Mafiosi, aber nicht für Journalist*innen
       
       Genauso wird auch gegenüber der Kurdenpolitik vorgegangen. Und diese
       Politik macht auch vor den Gefängnissen nicht Halt. Die ehemalige
       stellvertretende Bürgermeisterin von Diyarbakir, Gültan Kışanak, die seit
       Oktober 2016 im Gefängnis sitzt, hat in einer Nachricht aus dem Gefängnis
       mitgeteilt, dass sie weder Desinfektionsmittel noch Schutzmaske bekommt.
       
       Zur Zeit sitzen in den türkischen Gefängnissen 208.457 Gefangene. Außerdem
       befinden sich 55.574 Personen in Untersuchungshaft, deren Gerichtsverfahren
       noch ausstehen. Am 28. Dezember 2019 lag die Auslastung der Gefängnisse bei
       121 Prozent.
       
       Um eine Ausbreitung des Coronavirus in den Gefängnissen zu verhindern, will
       die AKP zusammen mit der MHP eine neue Regelung schaffen. Doch es lässt
       sich erahnen, dass der Gesetzesentwurf, der zu einer Entlastung der
       Gefängnisse führen soll und diese Woche ins Parlament eingebracht wird, für
       die politische Agenda der AKP vielmehr eine der „Chancen“ darstellt, die
       das Coronavirus mit sich bringt.
       
       So wünscht sich auch Koalitionspartner MHP eine Gesetzesänderung, die eine
       Amnestie für Mafiamitglieder, Drogenhändler und Missbrauchstäter vorsieht,
       Politiker*innen, Journalist*innen und andere politische Gefangene aber
       weiterhin hinter Gittern sitzen lässt.
       
       Während die Abwehrkräfte der Türkei gegen die Pandemie offensichtlich
       ohnehin schon geschwächt sind, wird eine Politik betrieben, die diese
       Abwehrkräfte noch weiter schwächt, statt Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Es
       scheint, als werde die politische Einstellung der Regierung sowie die
       Kurdenpolitik – zusammen mit vielen weiteren Faktoren – die Eindämmung des
       Coronavirus stark erschweren.
       
       Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
       
       25 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Irfan Aktan
       
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