# taz.de -- Verhaftungen in der Türkei: Erdoğan geht gegen Abgeordnete vor
       
       > Während der Coronapause sollen drei Abgeordnete verurteilt worden sein.
       > Ihre Immunität wurde aufgehoben – ohne Votum des Parlaments.
       
 (IMG) Bild: Kurze Pressekonferenz vor seiner Verhaftung: Berberoğlu am Donnerstagabend in Ankara
       
       ISTANBUL taz | In den späten Abendstunden am Donnerstag wurden drei
       prominente Abgeordnete der türkischen Opposition verhaftet. Es handelt sich
       um einen Abgeordneten der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, Enis
       Berberoğlu, und die beiden kurdisch-linken HDP-Parlamentarier Leyla Güven
       und Musa Farisoğulları. Allen drei war am Nachmittag im Parlament auf
       Anordnung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Immunität aberkannt
       worden.
       
       Das Parlament wurde dabei komplett überrumpelt. Selbst Abgeordnete der
       Regierungspartei AKP wussten nicht Bescheid, als der stellvertretende
       Parlamentspräsident Sürreyya Sadi Bilgiç nach Sitzungseröffnung bekanntgab,
       er habe die Immunität der drei Abgeordneten aufgehoben.
       
       Zur Begründung hieß es: Gegen die drei Abgeordneten waren Gerichtsverfahren
       in Gang, die in den vergangenen Wochen, in denen das Parlament aufgrund der
       Coronapandemie pausierte, in letzter Instanz mit einer Verurteilung geendet
       hätten. Bilgiç verlas die Urteile von Berufungsgerichten, in denen
       Verurteilungen aus der Vorinstanz bestätigt wurden.
       
       Normalerweise hätte das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit einer
       Aufhebung der Immunität zustimmen müssen, doch in der „neuen Ordnung“ der
       Türkei Erdoğans genügte dafür eine Anweisung des Präsidenten an den
       amtierenden Parlamentspräsidenten. Dessen Entscheidung sorgte für
       erheblichen Aufruhr im Parlament.
       
       Die gesamte Opposition trommelte auf ihren Pulten, aber niemand wurde ans
       Rednerpult gelassen. Sowohl Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu,
       Vorsitzender der CHP, als auch die beiden HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan
       und [1][Mithat Sancar] sprachen von einem „zivilen Putsch“, weil der
       Parlamentspräsident Befehle des Präsidenten entgegennehme.
       
       ## IYI-Partei solidarisiert sich mit Verhafteten
       
       Enis Berberoğlu wurde am Donnerstagabend in seiner Wohnung festgenommen.
       Zuvor konnte er noch ein kurzes Statement gegenüber der Presse abgeben. Er
       gab sich entspannt und sagte: „Ich muss noch 18 Monate ins Gefängnis, das
       werde ich auch noch überstehen.“
       
       Berberoğlu hatte bereits 16 Monate in Haft gesessen, bevor er ins Parlament
       gewählt worden war. Er war als Spion verurteilt worden, weil er vor einigen
       Jahren dem damaligen Chefredakteur der Cumhuriyet, [2][Can Dündar, das
       Videomaterial über türkische Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien
       geliefert haben soll]. 2018 kam er frei, nachdem er das Parlamentsmandat
       gewonnen hatte.
       
       Leyla Güven wurde bekannt, als sie vor rund eineinhalb Jahren in einen
       wochenlangen Hungerstreik trat, um gegen die Isolationshaft von Abdullah
       Öcalan zu protestieren. Musa Farisoğulları vertrat innerhalb der HDP die
       Minderheit der Zaza sprechenden Kurden. Beide wurden wegen Unterstützung
       der PKK verurteilt.
       
       Beobachter gehen davon aus, dass Erdoğan mit der Verhaftung der drei
       Abgeordneten versucht, CHP und HDP gemeinsam in die Terrorecke zu drängen
       und so die politische Allianz mit der eher rechten IYI-Partei zu zerstören,
       die bei den [3][Kommunalwahlen] im März 2019 für den Sieg der Opposition
       wesentlich war. IYI-Vorsitzende Meral Akşener machte allerdings am
       Freitagmorgen klar, dass ihre Partei weiterhin zu der Allianz steht, und
       solidarisierte sich mit den verhafteten Abgeordneten.
       
       5 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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