# taz.de -- Neue Missbrauchsvorwürfe in Bayern: Kirche nur schwer erziehbar
       
       > Prostitution im katholischen Jugendheim? Ein Gerichtsprozess hat Vorwürfe
       > gegen ein früheres Erziehungsheim bei München ans Tageslicht gebracht.
       
 (IMG) Bild: Das ehemalige katholische Piusheim. Hier soll massiver sexueller Missbrauch stattgefunden haben
       
       BAIERN/MÜNCHEN dpa | Massiver sexueller Missbrauch, Gewalt, Prostitution:
       Schwere Vorwürfe rücken ein ehemaliges katholisches Heim für schwer
       erziehbare Jungen ins Visier der Justiz – und bringen die Kirche und ihre
       Aufklärungsarbeit einmal mehr unter Druck. Die Staatsanwaltschaft München
       II hat Vorermittlungen eingeleitet gegen einen früheren Erzieher des
       ehemaligen Jugenddorfes Piusheim in Baiern in der Nähe von München und
       einen damals angehenden Priester.
       
       Hintergrund der Ermittlungen sind [1][Vorwürfe massiven sexuellen
       Missbrauchs], die im Rahmen eines Prozesses vor dem Landgericht München II
       bekannt wurdeKinder aus „schwierigen Verhältnissen“n. Ein 56 Jahre alter
       Mann, der selbst wegen schweren Missbrauchs an kleinen Kindern angeklagt
       ist, hatte vor Gericht angegeben, in seiner Kindheit und Jugend unter
       anderem im Piusheim von mehreren Männern missbraucht worden zu sein.
       
       Er schilderte Entsetzliches, sprach von Prostitution, von „Anschaffen“ und
       „Sexpartys“. „90 Prozent der Jungen gingen am Wochenende los und beklauten
       die Dorfbewohner, 10 Prozent fuhren zum Anschaffen nach München.“ Zwei
       seiner Freunde hätten sich erhängt – einer davon in der Dusche mit einem
       Schal von 1860 München. Auch er selbst habe schon als Kind versucht, sich
       das Leben zu nehmen.
       
       Belegen lassen sich diese Vorwürfe derzeit noch nicht. „Ob die Angaben sich
       als belastbar erweisen und ob schließlich eine strafrechtliche Ahndung
       erfolgen kann, kann noch nicht gesagt werden“, betont Staatsanwältin Karin
       Jung.
       
       ## Neun Verdachtsfälle
       
       Das Erzbistum München-Freising bestätigt allerdings auf Anfrage, dass im
       Zusammenhang mit der 2006 geschlossenen Einrichtung seit 2010 neun
       Verdachtsfälle wegen sexueller Übergriffe oder körperlicher Gewalt gemeldet
       wurden. Alle Fälle ereigneten sich nach Angaben der [2][Katholischen
       Jugendfürsorge] von den 1950er Jahren bis Mitte der 1970er Jahre hinein.
       Die Jungen, die im Piusheim als „schwer erziehbar“ betreut wurden, waren
       zwischen 6 und 18 Jahre alt, die meisten älter als 14.
       
       In zwei Fällen seien „Zahlungen zur Anerkennung des Leids“ geleistet
       worden, sagt Bistumssprecher Christoph Kappes. Einmal sei es um einen
       Priester gegangen, den das mutmaßliche Opfer aber nicht namentlich benennen
       konnte. Die Vorwürfe seien so glaubhaft gewesen, dass das Bistum trotzdem
       zahlte. In einem zweiten Fall habe die [3][Katholische Jugendfürsorge] die
       Zahlung übernommen, weil es sich beim mutmaßlichen Täter nicht um einen
       Priester, sondern um einen Erzieher handelte.
       
       Die Verteidigerin des Angeklagten, Anja Kollmann, hält die Aussage ihres
       Mandanten für absolut authentisch. Der 56-Jährige habe ihr gegenüber im
       Vorfeld der Gerichtsverhandlung einmal angedeutet, was ihm in seiner Jugend
       passiert sei. Dass er vor Gericht so ausführlich darüber berichtete, habe
       sie selbst überrascht, die Dimension des Ganzen habe sie schockiert. „Das
       ist ja ein zweites Ettal.“
       
       Im oberbayerischen Benediktinerkloster Ettal seien allerdings vor allem
       Schüler aus privilegierten Familien unterrichtet worden, die später meist
       gute Jobs bekamen und irgendwann in der Lage waren, über das zu reden, was
       ihnen geschehen war, sagt Psychologie-Professor Heiner Keupp, der für das
       Zentrum Bayern Familie und Soziales die Studie des Instituts für
       Praxisforschung und Projektberatung zur Situation von Heimkindern in den
       50er, 60er und 1970er Jahren begleitete. „Aber in diesen Heimen waren vor
       allem Kinder aus schwierigen Verhältnissen, die das, was ihnen passiert
       ist, kaum austauschen und reflektieren konnten.“
       
       ## „Sittlichkeitsvergehen“ in „Untersuchungshaft“
       
       Besonders viel ist über das Piusheim nicht dokumentiert. Es wurde nach
       Angaben der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) im Oktober 1905 vom
       katholischen „Verein zur Betreuung der verwahrlosten und bestimmungslosen
       Jugend“ gegründet. Die KJF übernahm die Trägerschaft am 1. Oktober 1981 und
       gab sie am 30. Juni 2006 wieder auf.
       
       Im Buch „Gehorsam, Ordnung, Religion. Konfessionelle Heimerziehung
       1945-1975“ aus dem Jahr 2012 schreiben die Autoren von Gewalt in den
       1950/60er Jahren. Und von einem „Sittlichkeitsvergehen“, das einen Erzieher
       „in Untersuchungshaft“ brachte.
       
       ## Noch nicht erfasste Fälle
       
       Der Landsberger Psychotherapeut Günther Mühlen, der Anfang der 1970er Jahre
       ein Praktikum im Piusheim machte, berichtet von einem leitenden Pädagogen,
       der „nach meiner Zeit“ wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und
       Jugendlichen seinen Dienst quittieren musste.
       
       In die [4][sogenannte MHG-Studie] zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in
       der katholischen Kirche, die deutschlandweit tausende Fälle dokumentierte,
       schafften es die Vorwürfe, die zum Piusheim ans Bistum herangetragen
       wurden, fast alle nicht. Nur der eine Verdachtsfall mit dem Priester taucht
       auf, wie Sprecher Kappes sagt – unter anderem, weil es sich sonst um
       Erzieher handelte oder die Hinweise vage geblieben seien. Auch im
       „Westphal-Bericht“ über Missbrauch im Bistum taucht das Piusheim den
       Angaben nach nicht auf. Erzbischof war hier von 1977 bis 1982 Joseph
       Ratzinger, der spätere Papst Benedikt.
       
       Der Sprecher der Opfer-Initiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, hofft,
       dass sich nun ehemalige Bewohner des Piusheims melden. „Ich bin sicher, wir
       werden dann noch so einige Überraschungen erleben.“
       
       5 Apr 2020
       
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