# taz.de -- Polizei greift hart durch: Europa im Corona-Strafwahn
       
       > Wer gegen Corona-Maßnahmen verstößt, muss in Europa je nach Land mit
       > unterschiedlichen Konsequenzen rechnen – ein Überblick.
       
 (IMG) Bild: Polizeipatrouille in Rom
       
       BERLIN taz | Mit FreundInnen auf der Parkbank sitzen und plaudern. Zum
       Grillen treffen. In großer Runde picknicken. Was vor ein paar Monaten
       normal war, ist heute in vielen Ländern wegen der Corona-Ansteckungsgefahr
       und der Maßnahmen dagegen unmöglich. Ideen zur Eindämmung gibt es viele –
       eine Forschungsgruppe der Universität Cambridge hat 275 Maßnahmen
       gesammelt, die teils schon eingesetzt werden und teils skurril wirken –
       etwa das Benutzen von Zangen, um in Geschäften nach Produkten zu greifen.
       
       Ein Verstoß gegen die Maßnahmen kann vielerorts dank üppiger Bußgelder
       teuer kommen. Doch nicht nur das: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty
       International warnt vor zunehmenden Einschränkungen von Grundrechten in
       Europa im Zuge der Coronakrise. Viele Maßnahmen seien zum Schutz der
       Gesundheit zwar notwendig, [1][erklärte Amnesty International am
       Donnerstag.] Doch einige Regierungen würden die Pandemie zur Aushöhlung von
       Rechtsstaatlichkeit, Diskriminierung, Repression oder Zensur nutzen.
       
       Vor allem Ungarn, Polen und die Türkei kritisierte Amnesty. In Ungarn zum
       Beispiel missbrauche Ministerpräsident Viktor Orbán die Krise als Vorwand,
       um sich unbegrenzte Macht zu verschaffen. Gemeint ist ein Gesetz, das es
       der Regierung erlaubt, auf unbestimmte Zeit per Dekret zu regieren. 
       
       Doch auch in Ländern, deren Regierungen nicht unter Verdacht stehen, die
       Epidemie zum Griff nach der Macht auszunutzen, hatten BürgerInnen es in den
       vergangenen Wochen nicht immer leicht – manchmal auch wegen übereifriger
       PolizistInnen oder MitbürgerInnen. Unsere taz-Korrespondenten geben einen
       Einblick in die Situation in ihren Ländern. 
       
       Serbien: Zwangsisolation zum orthodoxen Osterfest 
       
       Kaum hatte die Bevölkerung gedacht, dass die Maßnahmen gegen die
       Verbreitung des Coronavirus in Serbien gar nicht härter werden können, da
       belehrte die Regierung sie eines Besseren: Nach einer absoluten
       Ausgangssperre am vergangen Wochenende für die Dauer von 60 Stunden, müssen
       die Menschen von Freitag um 17 Uhr bis Dienstag um 5 Uhr zu Hause bleiben.
       Der 84 Stunden lange Hausarrest soll Versammlungen zum orthodoxen Osterfest
       verhindern.
       
       Es herrscht der Ausnahmezustand. Menschen, [2][die älter als 65 sind, haben
       sogar seit einem Monat absolutes Ausgangsverbot.] Wer während der
       Ausgangssperre auf der Straße erwischt wird muss 1.300 Euro zahlen.
       
       Noch härter sind die Strafen für die Verletzung der Selbstisolation von
       Menschen unter Coronaverdacht. Bei Verstoß drohen bis zu 12 Jahre Haft,
       falls nachgewiesen wird, dass derjenige jemanden, womöglich auch mit
       tödlichem Ausgang, angesteckt hat. Über 200 Personen befinden sich deshalb
       in Haft, Prozesse gegen sie werden in Schnellverfahren über Skype geführt.
       Viele Juristen halten das für verfassungswidrig.
       
       Zumal so mancher Angeklagter behauptet, nichts davon gewusst zu haben, sich
       in Selbstisolation begeben zu müssen, da sie darüber nicht informiert
       worden seien. In der Anklageschrift eines 45-Jährigen aus Novi Sad steht
       buchstäblich, er habe sich „an den Appell von Staatspräsident Aleksandar
       Vučić nicht gehalten“, dass sich alle Bürger, die nach dem Corona-Ausbruch
       in Serbien aus dem Ausland gekommen sind, in Selbstisolation zu begeben
       haben.
       
       Andrej Ivanji, Belgrad 
       
       Spanien: Bußgelder oft für die Ärmeren 
       
       Die unterschiedlichen Polizeikräfte Spaniens haben bis Anfang der Woche
       knapp über eine halbe Million Bußgeldbescheide wegen Verstoß gegen die
       Ausgangssperre verhängt. Hier darf seit dem 14. März nur noch auf die
       Straße, wer einkaufen geht, den Arzt oder eine Apotheke aufsucht, den Hund
       Gassi führt oder zur Arbeit muss. Alles andere ist strengstens untersagt.
       Wie hoch die jeweiligen Bußgelder ausfallen, legt nicht der Polizist vor
       Ort fest. Das macht die Behörde, bevor die Bescheide verschickt werden. Die
       Strafe für „Verstoß gegen den Alarmzustand“ bewegt sich zwischen 600 und
       60.000 Euro.
       
       Der Coronahausarrest ist nicht für alle die gleiche Bürde. [3][Was in einer
       Wohnung mit Balkon], mit einer Internetverbindung und Geld für Netflix
       einigermaßen leicht auszuhalten ist, kann in einem armen Stadtteil schnell
       unerträglich werden.
       
       Das schlägt sich auch in der Bußgeldstatistik in Madrid nieder: Zwei
       Stadtteile, Puente de Vallecas und Tetuán, stechen bei den
       Bußgeldbescheiden besonders hervor. Es sind die zwei ärmsten Viertel der
       Madrider Innenstadt. In Puente de Vallecas haben sich so viele Menschen am
       Virus infiziert, wie sonst nirgends in Madrid. Vor dem Virus sind nicht
       alle gleich.
       
       Die Bevölkerung von Puente de Vallecas übertrifft die von vielen spanischen
       Provinzhauptstädten auf wesentlich weniger Raum. Wer hier wohnt, hat, wenn
       überhaupt, ein sehr niedriges Einkommen. Viele der Bewohner sind
       Immigranten der ersten Generation. Die Wohnungen sind eng, haben meist
       keinen Balkon und oft nicht einmal ein Fenster direkt auf die Straße. Die
       Innenhöfe sind klein und dunkel. Oft leben Eltern mit ihren erwachsenen
       Kindern zusammen.
       
       Wenn wundert es da, dass im Regionalfernsehen Bilder von Menschen aus
       diesen Vierteln zu sehen waren, die auf der Straße spazieren oder auf einer
       Parkbank ausruhen?
       
       Reiner Wandler, Madrid 
       
       Italien: Einkaufen nur im eigenen Viertel 
       
       Egal ob an den Ausfallstraßen, die aus Rom hinaus führen, an den
       Autobahnein- und -ausfahrten, oder an wichtigen Kreuzungen in den Städten:
       An den Kontrollposten der italienischen Staatspolizei, der Stadtpolizei und
       der Carabinieri ist kein Vorbeikommen. Mit quer gestellten Fahrzeugen haben
       sie die Strecken auf schmale Spuren verengt. Und jede_r, wirklich jede_r
       wird genauestens befragt, wo es denn hingehen soll.
       
       Die Italiener_innen kennen diese engmaschigen Kontrollen vor allem aus dem
       Fernsehen. Denn kaum noch jemand wagt sich auf die Straßen, es sei denn, er
       oder sie hat wirklich einen „triftigen Grund“. Das Wichtigste, so scheint
       es, ist ohnehin die mediale Berichterstattung über die Kontrollen, damit
       die Bürger_innen auch wirklich zu Hause bleiben. Gut 10.000 Menschen werden
       täglich im ganzen Land kontrolliert, die Geldbuße von 400 bis 3.000 Euro
       wird bloß für fünf Prozent von ihnen fällig.
       
       Mittlerweile überprüft die Polizei auch Passagiere in städtischen Bussen.
       Einkäufe sollen im eigenen, nicht im Nachbarviertel erledigt werden. Die
       Ausrede einer Frau, sie sei auf der Suche nach Karotten fürs Kaninchen quer
       durch Rom gefahren, brachte auch ihr Bußgeld ein.
       
       Das Resultat lässt sich in allen italienischen Städten besichtigen. Über
       die Ostertage waren die Straßen völlig verwaist, genauso wie die üblichen
       Ausflugsziele am Meer und im Grünen. Auch unter der Woche rollen die Busse
       fast leer durch die Städte und niemand strebt zu Fuß dem nächsten Park zu –
       der ist nämlich geschlossen.
       
       Michael Braun, Rom 
       
       Österreich: Der Denunziant, dein Freund und Helfer 
       
       In der Krise blühen in Österreich nicht nur Nachbarschaftshilfe und
       Solidarität, sondern auch Denunziantentum. Die Polizei ist angehalten,
       Personen, die sich nicht an die [4][Abstandsregeln und
       Ausgangsbeschränkungen] halten, zu ermahnen und notfalls zu bestrafen.
       Manche Polizisten legen das recht großzügig aus und Boulevard-Zeitungen
       stellen gerne vermeintliche „Coronasünder“ bloß.
       
       Der Sender Ö1 berichtete am Dienstag von einer Frau, die mit ihrer Tochter
       eine Freundin und deren Tochter getroffen habe – mit vorgeschriebenem
       Abstand auf einer Wiese am Donauufer. Ein Mann habe ihnen daraufhin mit 500
       Euro Strafe gedroht, denn er werde die Polizei holen. Die Frau war der
       Meinung, nichts falsch gemacht zu haben: „Ich will nicht behandelt werden,
       als wäre ich in einem Polizeistaat.“
       
       Viele Medien berichteten zudem über einen jungen Mann, der von der Polizei
       angezeigt wurde, weil er „längere Zeit auf einer Parkbank gesessen“ habe
       und „aufgrund des regen Fußgängeraufkommens nicht den nötigen
       Mindestabstand von 1 Meter zu anderen Personen eingehalten“ habe. Wegen
       offensichtlicher Willkür und regen Medienechos wurde die Anzeige
       zurückgezogen. Auch der Kundin einer Drogerie drohte eine Anzeige, weil sie
       ein Schulheft gekauft hatte – das sei nicht lebensnotwendig.
       
       Die teilweise unscharf formulierten Verordnungen lassen einen Spielraum, in
       dem Denunzianten und Erbsenzähler kreativ werden können. Allein am
       Osterwochenende wurden laut Polizei österreichweit 2.246 Anzeigen und 380
       Geldstrafen ausgestellt.
       
       Ralf Leonhard, Wien 
       
       Frankreich: Polizei teilt ordentlich aus 
       
       Es sollte nicht bei der leeren Drohung bleiben: Seit dem offiziellen
       [5][Beginn der Ausgangssperren in Frankreich] am 17. März hat die Polizei
       bei mehr als 10 Millionen Kontrollen fast 600.000 Bußgeldformulare wegen
       Nichtbeachtung der Lockdown-Regeln ausgefüllt.
       
       Die besagen: Wer zu Fuß oder mit einem Fahrzeug auf der Straße unterwegs
       ist, muss dies erklären können. Dazu steht ein Formular zum Download zur
       Verfügung, auf dem einer der wenigen zugelassenen Gründe für das Verlassen
       der Wohnung angekreuzt und samt Personenangaben wie Geburtsdatum und -ort
       sowie der Unterschrift bestätigt wird. Wer arbeiten geht, braucht
       zusätzlich einen schriftliche Bescheinigung des Arbeitgebers.
       
       Ein schlecht ausgefülltes Formular kommt teuer zu stehen. Das anfänglich
       auf 38 Euro festgelegte Bußgeld wurde rasch auf 135 Euro erhöht, um die
       abschreckende Wirkung zu verstärken. Wer mehrfach erwischt wird, muss mit
       einer Geldstrafe von 1.500 Euro oder in krassen Fällen sogar mit Haft
       rechnen.
       
       Auch Fälle von Übereifer sind bekannt. Einige Beamte fühlen sich
       anscheinend ermächtigt, zu beurteilen, was bei Einkäufen „notwendig“ sei.
       Eine Twitterin namens „Anlya Modest Fashion“ behauptet, der Kauf eines
       Schwangerschaftstests in der Apotheke sei von einer Polizeibeamtin als
       „nicht ausdrücklich dringlich“ eingestuft worden.
       
       Rudolf Balmer, Paris 
       
       Großbritannien: Kontrolle zwischen Einkaufsregalen 
       
       Alle nicht essenziellen Einkäufe seien zu stoppen, erklärte die britische
       Regierung ihrer Bevölkerung. Menschen dürfen in Großbritannien nur für
       Notwendigstes auf die Straße oder zur körperlichen Ertüchtigung. Die
       Einhaltung kontrolliert die Polizei, die mit 60 Pfund (68 Euro) Bußgeld
       Bürger*innen Tacheles lehren soll – bei Zahlung innerhalb von zwei Wochen
       muss nur die Hälfte gelöhnt werden. Seit Beginn der Ausgangssperre wurden
       3.204 Strafzettel ausgehändigt, wurde am Mittwoch bekannt.
       
       Eine all zu eifrige Polizeieinheit in Cambridge landete jedoch selbst in
       der Kritik, als ihr einfiel, dass es in Supermärkten ganze Regalgänge mit
       nicht essenziellen Waren gibt und man kontrollieren könnte, ob sich dort
       jemand herumtreibt. Mit samt eines Bildes ihres Einsatzwagens vor dem
       Supermarkt wurde der Einsatz auch noch auf dem Twitter-Profil der Polizei
       Cambridge gepostet.
       
       Das Resultat? In einem Shitstorm hinterfragten Tausende den Einsatz und
       diskutierten, was denn essenziell sei. Wenig später kam die offizielle
       Entschuldigung der Polizei – die Aufgabe der Polizei sei es nicht, zu
       überprüfen, was die Menschen kauften: „Die Nachricht wurde mit guter
       Absicht von einem übereifrigen Polizeibeamten verschickt, mit dem nun ein
       Wörtchen gesprochen wurde.“
       
       Daniel Zylbersztajn, London
       
       16 Apr 2020
       
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